Schmierereien, gewaltsame Übergriffe, Gottesdienste unter Polizeischutz, verbale Entgleisungen auch bei Politikern: Über 75 Jahre nach dem Holocaust ist Antisemitismus wieder ein Thema in Deutschland. Judenfeindliche Äußerungen sind nicht mehr allein Sache von Neonazis - auch ganz andere Gruppen neigen inzwischen dazu. Wird Judenfeindlichkeit wieder gesellschaftsfähig?
"Es gibt inzwischen No-Go-Areas für Juden", sagt der Berliner Rabbiner Daniel Alter über seine Stadt. Das seien zum Beispiel Teile von Wedding und Neukölln
mit einem hohen Anteil arabischer und türkischer Migranten. Er selbst ist vor einem Jahr von arabischen Jugendlichen auf offener Straße brutal angegriffen und verletzt worden. Daniel Alter sieht
ein generelles Erstarken des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft. Seit Ende 2012 ist er Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde in Berlin.
Die mehr als 100.000 Juden, die in Deutschland leben, spüren diesen Antisemitismus täglich. Beschimpfungen und Beleidigungen haben viele von ihnen schon erlebt, jüdische Schulen und Synagogen stehen unter Polizeischutz. Die registrierten Straftaten mit antisemitischem Hintergrund sind zwar im Zeitraum von 2005 bis 2010 zurückgegangen. Ein Großteil davon - über 90 Prozent - wird nach wie vor von rechtsextremen Tätern verübt. Doch zeigt sich Antisemitismus nicht allein in der Kriminalstatistik.
Bedenklicher noch als die offenen Angriffe ist der latente Antisemitismus in der Bevölkerung. Umfragen bestätigen schon seit Jahrzehnten, dass
antisemitische Einstellungen kein Phänomen einer kleinen rechtsextremen Minderheit, sondern häufig auch in der "Mitte der Gesellschaft" verortet sind. Etwa 15 bis 20 Prozent der Deutschen haben
demnach latent antisemitische Ansichten. Dieser alltägliche, subtile Antisemitismus in der Gesellschaft findet sich selbst bei gebildeten Leuten. Erstaunlich häufig existieren weiterhin
zahlreiche Vorurteile. Acht bis zehn Prozent äußern sich in Umfragen sogar offen antisemitisch, halten Juden letztlich für schlechtere Menschen.
Antisemitismus - wie auch Sexismus, Homophobie, oder Fremdenfeindlichkeit - nimmt überdies Einzug in die Populärkultur. So tun sich hier z. B. einzelnen
Hip-Hop-Musiker wie der Rapper Haftbefehl negativ hervor. Letzterer provoziert mit Texten wie "Du nennst mich Terrorist, ich nenn Dich Hurensohn, ich geb George Bush n Kopfschuss und verfluche
das Judentum". Laut Wolfgang Benz, Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin, bieten solche Texte eine Projektionsfläche für halbgebildete jugendliche Konsumenten. Sie
bestätigen sich damit gegenseitig ihre Abneigung sowie ihre Feindbilder und üben so Feindschaft gegen Juden ein.
Wahrscheinlich war Antisemitismus nie verschwunden aus der sogenannten "Mitte der Gesellschaft", sondern wurde im Deutschland der Nachkriegszeit als ein
großes Tabu zunächst weitegehend verdrängt. Da dadurch keine wirkliche Aufarbeitung stattgefunden hatte, konnten auch nicht die Ursachen des Antisemitismus bearbeitet werden.
Allerdings darf konstruktive Kritik an der israelischen Politik nicht von vornherein als Antisemitismus gebrandmarkt werden. Besonders in Deutschland ist das ein sehr sensibles Thema, und der Antisemitismus-Vorwurf wird hin und wieder instrumentalisiert. Zugleich kann ein aktueller Konflikt aber auch uralte Ressentiments zum Vorschein kommen lassen und diesen zum Vorwand dienen. So haben judenfeindliche Parolen bei den jüngsten Nahost-Demonstrationen eine heftige politische Diskussion ausgelöst. Die Kritik an der Politik eines Landes wird allzu schnell zur pauschalisierenden Kritik an einem Volk.
Antisemitismus ist kein typisch deutsches Problem, sondern findet sich in vielen Ländern, insbesondere auch in Osteuropa. Selbst so liberale Länder wie
Schweden bleiben davon nicht verschont. Dieser Antisemitismus spiegelt den Wandel des gesellschaftlichen Klimas wider. Ein allgemeiner Werteverlusts und eine zunehmende Desorientierung in Zeiten
von gesellschaftlichen Umwälzungen und Krisen begünstigen Feindbilder. Und für diese eignen sich am allerbesten Minderheiten. So nehmen in den letzten Jahren weltweit auch Homophobie oder
Fremdenfeindlichkeit zu. Populistisch agierende Politiker und andere Meinungsmacher schüren diese gezielt und instrumentalisieren sie. Und mit Ängsten lässt sich bekanntlich Macht
ausüben.
Zudem kann sich wohl niemand ganz von Vorurteilen freimachen, und Diskriminierung geschieht häufig sehr subtil. Der Bielefelder Professor Andreas Zick, der sich selbst "Vorurteilsforscher" nennt, warnt: "Antisemitismus, auch wenn er nur latent ist, bleibt immer Wegbereiter vom Wort zur Tat."
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