Antisemitismus

 

Antisemitismus (bis 1945)

 

 

Der Antisemitismus ist eine mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus begründete Judenfeindlichkeit, die seit etwa 1800 in Europa auftritt. Für den Nationalsozialismus war der Rassenantisemitismus zentral und führte im vom Deutschen Reich besetzten Europa bis 1945 zum Holocaust.

 

Zu seinen Voraussetzungen gehören der Antijudaismus in der Christentumsgeschichte, zu seinen Wirkungen der Antisemitismus nach 1945. Dieser ist zwar keine gesamtstaatliche Ideologie mehr, aber seine Stereotype und Vorurteilsstrukturen bestehen in vielen Ländern und vielfältiger Form fort. Die internationale Antisemitismusforschung widmet sich seit 1945 der Erklärung des Phänomens.

Definition

Siehe auch Judenfeindlichkeit

 

Schon der mittelalterliche und frühneuzeitliche Antijudaismus diskriminierte und verfolgte Juden als fremdartiges Volk, ließ ihnen aber mit der Konversion zum Christentum stets die Integration in die herrschende Kultur offen.

 

Der Antisemitismus entstand seit der Französischen Revolution von 1789, als ältere antijüdische Vorurteile aufgrund der aufgeklärten Begründung und Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte zunehmend an Überzeugungskraft einbüßten. „Moderne“ Antisemiten betrachteten Juden pseudowissenschaftlich als geschlossene Abstammungseinheit mit erblichen negativen Eigenschaften, die diese daher durch keine Assimilation, weder christliche Taufe noch „bürgerliche Verbesserung“, ablegen könnten. In Form einer Verschwörungstheorie behaupteten sie einen übergroßen Einfluss der jüdischen Minderheit auf die Gesellschaft und machten sie für eine Vielzahl tatsächlich oder vermeintlich negativer Entwicklungen in Staat, Wirtschaft und Kultur verantwortlich. Dabei übernahmen und erweiterten sie die schon aus dem Mittelalter bekannten Stereotype von Juden.

 

Der Antisemitismus war durch die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüche der Säkularisierung, Industrialisierung und widersprüchlich verlaufenden Demokratisierung mitbedingt. Er reagierte auf europäische Moderne und Aufklärung und zeigte zugleich die Krise des Liberalismus an, gegen den er sich richtete.

 

Seit 1880 wurde der Begriff „Antisemitismus“ für eine rassistisch begründete Judenfeindlichkeit im Deutschen Kaiserreich populär. Seine Erfindung wurde irrtümlich dem Journalisten Wilhelm Marr zugeschrieben, der in einem Pamphlet weiterwirkende Vorurteile gegen Juden scheinbar rational durch ihre Einordnung in eine angebliche Rasse von Semiten begründete. Er unterstellte dem Judentum einen fiktiven, kulturell durchgesetzten „Semitismus“, um die rechtliche Gleichstellung der Juden zu revidieren und sie aus der Gesellschaft auszugrenzen.

 

Wann dieser rassistische Antisemitismus entstand, ob er qualitativ neu war oder nur den Jahrhunderte alten Judenhass mit neuen Scheinbegründungen fortsetzte, ist in der Forschung umstritten. Unumstritten ist die Verbreitung, Dauer und Wandlungsfähigkeit des Phänomens: In fast ganz Europa und einigen außereuropäischen Staaten gab und gibt es antisemitische Tendenzen.

 

Zunächst im zaristischen Russland, seit 1879 und verstärkt seit 1918 auch in Deutschland und Österreich suchten Antisemiten eine „Lösung der Judenfrage“. Dazu gründeten sie neue politische Parteien, deren Programme bereits die Vertreibung, teilweise sogar Ausrottung der europäischen Juden forderten. Die Vernichtungsfantasien wurden in der antisemitischen Literatur als „Unschädlichmachung“, „Entjudung“, „Entfernung“, „Ausmerzung“, „Beseitigung“ umschrieben. Andere brachten antisemitische Forderungen in bestehende staatstragende Parteien ein. Sie verfolgten neben der Ausgrenzung der Juden verschiedene antiaufklärerische, antidemokratische, antikapitalistische und antisozialistische Ziele, führten aber auch religiös begründete antijüdische Motive fort.

 

An diese Tradition konnte später der Nationalsozialismus anknüpfen. In dessen Weltanschauung war der rassistische Antisemitismus zentral. Er lieferte seit 1933 die Begründung aller judenfeindlichen Maßnahmen, die zuletzt in der Shoa gipfelten.

 

Voraussetzungen

 

Sozialökonomische Situation der jüdischen Minderheit

 

Die Juden bildeten um 1800 in den meisten Ländern Mitteleuropas die größte nichtchristliche Minderheit. Sie gehörten überwiegend zur Unterschicht, da ihnen im Mittelalter Grunderwerb und Ackerbau, die Mitgliedschaft in Handwerkszünften und Kaufmannsgilden sowie der Aufstieg in den Adel verboten waren. Isolierung in städtischen Ghettos und die ständige Existenzbedrohung durch Pogrome kennzeichneten damals ihre Lage.

 

In der Frühen Neuzeit blieben Juden im Konkurrenzkampf mit Nichtjuden nur bestimmte Berufsbereiche: nichtzünftiges Handwerk, Kramhandel, Pfandleihe, Kleinkreditgewerbe, Brauwesen und Schankwirtschaften, Hausierergeschäft und reisender Landhandel. Wo sie wie in Polen im 16. Jahrhundert zeitweise eine gehobene und für den Adel unentbehrliche Stellung als Zoll- und Steuereinnehmer, Gutspächter, Holz- und Pferdehändler erreichten, wurden sie später vom Kleinadel und aufstrebenden christlichen Bürgertum verdrängt. Nur weniger als zwei Prozent der Juden erreichten den Status von wohlhabenden und geachteten „Hofjuden“ oder Ärzten. Die Masse lebte in „Judendörfern“ oder „Judengassen“ in religiöser, rechtlicher und ökonomischer Absonderung. Ihre Begegnungen mit der übrigen Bevölkerung beschränkten sich weitgehend auf Tauschgeschäfte und Märkte.

 

Bis etwa 1670 hatten die meisten deutschen Städte die Juden aufs Land vertrieben. Auch im 18. Jahrhundert wurden besonders mittel- und arbeitslose Juden oft von anderen bedrückten Ständen und städtischen Kaufleuten oder wegen Versorgungskrisen vertrieben, z.B. 1745 aus Prag, 1750 aus Breslau, 1772 bis 1790 aus dem Bezirk Dresden. Dort, wo man sie duldete, beschränkte man ihre Gewerbe und Heiratsmöglichkeiten und machte das Recht zur Ansiedlung von einem Mindestvermögen abhängig. Befristete „Schutzbriefe“ von Landesherren mussten mit hohen Sondersteuern bezahlt werden.

 

Seit etwa 1780 wanderten viele verarmte Juden aus Osteuropa, deren Vorfahren aus Mitteleuropa vor Pogromen geflohen waren, wieder westwärts. 1804 verfügte ein Statut des Zaren, dass Juden nur noch in bestimmten Grenzgebieten siedeln durften; in den Folgejahren wurden etwa 230.000 russische Dorfjuden ausgewiesen oder zwangsumgesiedelt. Daraufhin nahmen Vertreibungen von 1800 bis 1848 auch in Preußen wieder zu. Die Folge war eine stetige Abnahme, Verkleinerung und Verelendung der verbliebenen Judengemeinden. Dies verstärkte wiederum das negative Außenbild von ihnen, das sich etwa in den Legenden vom heimatlos durch die Zeiten wandernden Ewigen Juden spiegelte.

 

1820 lebten im deutschsprachigen Raum etwa 220.000 Juden. Bis zur Reichsgründung 1871 wurden es 512.000, bis 1910 615.000. Dabei sank ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von 1,25 Prozent auf knapp ein Prozent.

 

1905 hatten 95 Prozent aller Orte im Deutschen Reich keine jüdischen Bewohner. 25 Prozent aller Juden lebte in Großstädten mit über 100.000 Einwohnern. Große Anteile davon – um 1885: 30, um 1910: 60 Prozent – konzentrierten sich in wenigen Großstädten, besonders Berlin mit 144.000 Juden (3,7 Prozent der Gesamtbevölkerung) um 1905 und in Frankfurt am Main. In Wien lebten 175.000 (8,6 Prozent), in Budapest 204.000 (23,1 Prozent) Juden. Davon waren etwa ein Fünftel ausländischer Herkunft, meist „Ostjuden“. Diese bewohnten oft aufgrund sprachlicher und sozialer Barrieren eigene Stadtviertel oder Enklaven und waren dadurch deutlich als Minderheit sichtbar.

 

Die Berufsstruktur wandelte sich erheblich: Lebten um 1800 noch die weitaus meisten Juden von Not- und Kleinhandel, so fiel dieser Anteil bis 1907 auf unter zehn Prozent. 62 Prozent aller Juden arbeiteten nun im Warenhandel und Verkehrswesen (gegenüber 13 Prozent der übrigen Deutschen), 27 Prozent in Handwerk und Industrie, acht Prozent bei öffentlichen und privaten Dienstleistern, 1,6 Prozent in Land- und Forstwirtschaft. Es gab also nach wie vor fast keine jüdischen Bauern und wenige Industriearbeiter, aber viele Warenhändler. Auch der Anteil der Freiberufe – seit dem preußischen Erziehungsgesetz von 1833 als Wendung der Juden zu „Wissenschaften und Künsten“ gefördert – wuchs unter Juden überdurchschnittlich. Der Wohlstand vor allem städtischer Juden wuchs schneller als der der übrigen Deutschen, was Werner Sombart 1910 an ihren Steuerzahlungen nachwies. Auch die Zahl der von Juden geführten Großunternehmen und Banken wuchs bis 1914 an.

 

Juden waren also einerseits stärker in Großstädten und Handelsberufen konzentriert und konnten andererseits die Emanzipation stärker für sozialen Aufstieg nutzen als andere. Die seit Jahrhunderten vorgegebenen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmuster hatten sich immer auch auf solche sozialen Unterschiede und Reibungsflächen bezogen. So wurden die Juden in ökonomischen Umbrüchen und Krisen verstärkt als Ursache von Konflikten wahrgenommen und fixiert. Nicht zufällig fielen die Wellen des sich verstärkenden Antisemitismus z.B. 1819, 1873, 1879 ff., 1918–24 und 1930 ff. zeitlich mit Wirtschaftskrisen zusammen. Deren undurchschaute ökonomische Ursachen wurden auf eine angebliche kulturelle, politische und ökonomische Dominanz der jüdischen Minderheit zurückgeführt.

 

Emanzipation und Reaktion

 

Die Schrift des preußischen Archivars Christian Wilhelm Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) wurde einflussreiches Leitbild der Judenemanzipation. Doch um 1800 lasen und diskutierten nur wenige meist adelige Gebildete solche Schriften. Die Mehrheit behandelte Juden weiterhin als Menschen minderen Werts und Rechts und fürchtete den Verlust ihrer eigenen ständischen Privilegien. Dies wog schwerer als die Aussicht auf mehr demokratische Partizipation. Die soziale Lage änderte sich allmählich in der Folge der bürgerlichen Demokratiebewegung. Dieser Prozess unterlag besonders im deutschsprachigen Raum ständigen Rückschlägen. Er war nur mit staatlichen Verordnungen durchsetzbar, die zudem traditionelle Diskriminierungen beibehielten.

 

Nach dem Habsburger „Toleranzpatent“ von 1781 brachte die französische Nationalversammlung den Juden 1791 erstmals in einem europäischen Staat die vollen Bürgerrechte. Sie hob damit aber auch ihre bisherige Gemeindeautonomie und Wehrdienstbefreiung auf und zwang sie so zur Assimilation. Der von Napoléon Bonaparte 1804 erlassene Code civil führte diese Gesetze auch in den von Frankreich eroberten deutschen Gebieten ein, u. a. dem Rheinland und Hamburg. Doch 1808 schränkte ein Dekret Napoleons die Bürgerrechte für Juden sowie deren Bewegungsfreiheit und Berufsmöglichkeiten wieder ein: Jüdische Kreditgeber mussten nachweisen, dass ihre Forderung an den Schuldner ohne „Betrug“ zustande gekommen sei, und Zinsen auf Darlehen auf fünf Prozent begrenzen; bei mehr als zehn Prozent vereinbarten Zinsen verfiel der Gesamtbetrag. Zudem durften Juden nur noch mit Vorlage eines jährlich erneuerten Leumundszeugnisses („Judeneid“) Geschäfte abschließen. Dies bedeutete für viele jüdische Händler und Kaufleute den Ruin. Bis 1812 folgten fast alle deutschen Staaten Dohms Gleichstellungsforderungen, zuletzt Preußen. Dessen Judenedikt schloss sie aber weiter vom gehobenen Staatsdienst aus, wobei dieses allerdings nur für die altpreußischen Gebiete, d.h. in denen das „Allgemeine Preußische Landrecht“ galt, zutraf. Die rechtsrheinischen Provinzen blieben davon dennoch ausgenommen, in ihnen galt der Stand von 1808 weiter. In den Folgejahren scheiterten Anläufe zur vollen Gleichberechtigung.

 

Nach den Befreiungskriegen erlaubte der Wiener Kongress von 1814 den Staaten des Deutschen Bundes, Napoleons Gesetze zurückzunehmen. Daraufhin widerriefen sie ihre bisherigen Zugeständnisse. Nach den Unruhen von 1819  kam es sogar wieder zu Ausweisungen von Juden (Lübeck). 1822 verbot Friedrich Wilhelm III. Juden Lehrberufe in Preußen und entließ sie aus allen Staatsdiensten. Daraufhin ließen sich viele gebildete Juden für Berufschancen und gesichertes Einkommen christlich taufen: Heinrich Heine sah darin das „Entreebillet zur europäischen Kultur“.

 

Erst ab 1830 forderten auch liberale Demokraten die „bürgerliche Verbesserung“ von Juden und Bauern, um den Feudalismus abzuschaffen. Der deutschpatriotische Jude Gabriel Riesser kämpfte für volle Religionsfreiheit ohne diskriminierende soziale Folgen und sorgte dafür, dass die Frankfurter Nationalversammlung 1848 diese in die Grundrechte des deutschen Volkes aufnahm. Viele deutsche Staaten, die Napoleons Dekret von 1808 übernommen hatten, hoben es erst 1849 auf. Bis 1850 blieben die preußischen Berufsverbote in Kraft, sodass Juden weiterhin nur verachtete und unsichere Nischenberufe und Kleingewerbe blieben.

 

Nach dem Großherzogtum Baden (1862) und der Stadt Frankfurt am Main (1864) wurde 1867 in der Österreich-Ungarischen Monarchie und schließlich 1869 im Norddeutschen Bund den Juden die volle Gleichberechtigung zugestanden und letzteres auf das Kaiserreich 1871 gesetzlich erstreckt.

 

Frühantisemitismus

 

Aufklärung, Idealismus und Romantik

 

Naturwissenschaftlicher und sozialer Fortschritt veränderten seit dem Westfälischen Frieden von 1648 allmählich die Einstellung zur jüdischen Minderheit. Aus dem Naturrecht leitete die aufgeklärte Philosophie die Gleichberechtigung aller Bürger ab. Als deren Bedingung bzw. Ziel galt die Überwindung des irrationalen Aberglaubens von Antijudaismus ebenso wie „Judaismus“. Damit drängte das aufstrebende Bürgertum den kirchlichen Einfluss auf die Gesellschaft zurück, übernahm aber zugleich einen Großteil der tradierten antijüdischen Denk- und Verhaltensmuster.

 

Schon die englischen Deisten bekämpften den Offenbarungs- und Wunderglauben des Judentums, hauptsächlich um so das orthodoxe Christentum zu unterhöhlen. Auch Voltaire (1694–1778) lehnte beide Religionen von Grund auf ab. Er geißelte Juden in seinem Werk wiederholt u.a. als „betrügerische Wucherer“, „diebische Geldverleiher“, „Abschaum der Menschheit“ mit angeborenen negativen Eigenschaften. Trotzdem verteidigte er auch ihre Gewissensfreiheit und protestierte gegen damalige religiöse Verfolgungen.

 

Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) schrieb, „der Jude“ sei „ein unersättlicher, habgieriger Betrüger, besessen von einem skrupellosen Handels- und Schachergeist“, amoralisch, gerissen, hinterhältig und schmarotzerhaft. Er halte sich für viel zu intelligent, sei aber „ausgesprochen anpassungsfähig, nutzlos und schädlich für die Umwelt“, ein Beispiel des Bösen und Minderwertigen. Er verglich Juden in seinen Sudelbüchern öfter mit Sperlingen, die damals als schlimme Flurschädlinge galten und massenhaft bekämpft wurden. Andererseits trat er für befreundete Juden ein.

 

Auch Immanuel Kant (1724–1804) nannte Juden „Vampyre der Gesellschaft“, die „durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges… gekommen“ seien. Obwohl er biblische Grundgedanken der Tora in seinem Sittengesetz vernunftgemäß entfaltete und die rabbinischen Traditionen kaum kannte, hielt er das Christentum für sittlich überlegen, grenzte es scharf gegen das Judentum ab, verlangte von Juden die Abkehr von biblischen Ritualgesetzen und ein öffentliches Bekenntnis zur ethischen Vernunftreligion. Erst dann könnten sie Anteil an allen Bürgerrechten erhalten.

 

Johann Gottfried Herder (1744–1803) hielt die Juden für „verdorben“, „ehrlos“ und „amoralisch“, aber durch Erziehung zu bessern. Er deutete ihre Diaspora-Situation als Unfähigkeit zu einem eigenen Staatsleben und prägte den oft zitierten Satz, Juden seien seit Jahrtausenden eine parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen. Er forderte die Abkehr von ihrer Religion als Voraussetzung für ihre nationale und kulturelle Integration.

 

John Toland (1670–1722), englischer Freidenker, sprach sich als Erster ausdrücklich für eine rechtlich-kulturelle jüdische Emanzipation aus. In Deutschland kämpfte vor allem Moses Mendelssohn (1729–1786) für die Anerkennung seiner Religion, die er zugleich von innen liberalisieren und über sich selbst aufklären wollte (Haskala). Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing (1729–1782) rief 1749 in seinem Lustspiel Die Juden dazu auf, die anachronistischen Vorurteile gegen sie aufzugeben. In seinem Drama Nathan der Weise (1779) forderte er die gegenseitige Toleranz der drei monotheistischen Religionen, deren subjektive „Wahrheit“ objektiv unbeweisbar sei. Die Hauptfigur trägt Mendelssohns Züge und setzte ihm ein Denkmal. Lessing glaubte an die Aufhebung jedes religiösen Aberglaubens durch humanen Fortschritt und die pädagogische Erziehung des Menschengeschlechts (1781); auch den „jüdischen Kinderglauben“ an Tora und Talmud wollte er damit „überwinden“.

 

Von den wichtigen Theoretikern der Aufklärung erkannte nur Montesquieu (1689–1755) das Judentum in seiner Eigenart an.

 

Der Dominikaner Ludwig Greinemann verband erstmals Juden und Freimaurer, indem er 1778 in einer Predigt in Aachen behauptete, Pontius Pilatus, Herodes Antipas und Judas Iskariot seien Mitglieder einer Freimaurerloge gewesen, die heimlich die Ermordung Jesu geplant habe.

 

Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) war ein entschiedener Judengegner, in einem allerdings sehr theoretischen Sinne. Er schrieb 1793 in seinem vielzitierten Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution:

 

„Juden Bürgerrecht zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.“

 

Im selben Text allerdings betonte er ebenso ihre unbedingt zu achtenden „Menschenrechte“. Sein Antisemitismus war intellektueller Natur und richtete sich einerseits gegen die partikulare Rolle der Juden innerhalb der deutschen Nation, deren unteilbare Souveränität Fichte betonte und bei der er die Notwendigkeit einer überaus weitgehenden, antipluralistischen und staatlicherseits zu fördernden Homogenität sah, und beruhte weiterhin auf Fichtes besonderer Konzeption eines vom Johannes-Evangelium sehr abstrakt abgeleiteten Christentums, das auf eine dialogische Beziehung mit Gott als Person und Schöpfer zugunsten einer allein aus der Vernunft des Denkenden begründeten Religiosität verzichtete, wogegen nach Fichte wiederum die jüdischen Bestandteile des Christentums, tradiert durch den Apostel Paulus, stünden. In seinem persönlichen Umfeld wandte Fichte sich gegen antijüdische Schikanen: Seine Stelle als Rektor der Berliner Universität gab er unter Protest auf, nachdem der Senat der Universität gegen Fichtes Widerstand einen jüdischen Studenten, der von nichtjüdischen Kommilitonen unprovoziert und wiederholt in aller Öffentlichkeit geschlagen worden war, trotz dessen offenkundiger Unschuld mitbestrafte.

 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) widersprach zwar der volkstümelnden Romantik, sah Juden aber auch nur als Verkörperung der Entzweiung und materiellen Knechtschaft im Gegensatz zur griechisch-platonischen Freiheit des Geistes:

 

„Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuss, der unendliche Geist nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele.“

 

In der „Phänomenologie des Geistes“ (veröffentlicht 1807) schrieb Hegel:

 

„Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermordet, von seinen Göttern endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden musste.“

 

Clemens Brentano (1778–1842) zeigte 1811 seine Verachtung der Juden in der Satire Der Philister vor, in und nach der Geschichte für die Berliner Christlich-deutsche Tischgesellschaft:

 

„Die Juden, als von welchen noch viele Exemplare in persona vorrätig, die von jeder ihren zwölf Stämmen für die Kreuzigung des Herrn anhängenden Schmach Zeugnis geben können, will ich gar nicht berühren, da jeder der sich ein Kabinett zu sammeln begierig, nicht weit nach ihnen zu botanisieren braucht; er kann diese von den ägyptischen Plagen übriggebliebenen Fliegen in seiner Kammer mit alten Kleidern, an seinem Teetische mit Theaterzetteln, und ästhetischem Geschwätz, auf der Börse mit Pfandbriefen und überall mit Ekel und Humanität und Aufklärung, Hasenpelzen und Weißfischen genugsam einfangen.“

 

Dieser Haltung widersprach Friedrich Schlegel (1772–1829) und verwies 1815 darauf, dass Juden alle bürgerlichen Pflichten, besonders den Kriegsdienst, erfüllt hätten und man ihnen deshalb nicht länger die Bürgerrechte verwehren könne.

 

Anti-napoleonischer Nationalismus

 

Am Vorabend der Französischen Revolution definierte Emmanuel-Joseph Sieyès (1748-1836) in seiner einflussreichen Kampfschrift Was ist der Dritte Stand? den Begriff der Nation als Gesamtheit aller Bürgerlichen im Gegensatz zu den privilegierten Ständen von Adel und Klerus. Für die Revolutionäre von 1789 galten für alle Landesbewohner die gleichen Menschenrechte. Zur Nation konnte jeder gehören, der sich zu den Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bekannte.

 

Auf diese demokratische Definition reagierten andere Staaten wegen und nach der französischen Besetzung mit einer ethnischen, exklusiven Auffassung von Volk und Nation als einer „Abstammungsgemeinschaft“. Diese grenzte sich nicht gegen die privilegierten Stände, sondern gegen die Franzosen und alle Fremden ab, besonders die Juden.

 

In Deutschland sahen viele den angestrebten deutschen Nationalstaat schon vor 1848 als „Organismus“ und verbanden mit diesem biologischen Sprachbild oft Kritik an „Volksschädlingen“ und unproduktiven „Schmarotzern“. Diese Verachtung bezog sich (wie auf die „Wucherer“ im Mittelalter) weiterhin vor allem auf Juden.

 

So forderte der Berliner Justizrat Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer (1773-1838) zu Beginn der preußischen Emanzipationsdebatte 1791 ihre Vertreibung. Seine 1791 anonym erschienene Schrift Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden löste heftige Debatten in Berlin aus. Weitere Hassschriften Grattenauers folgten (u. a. 1803: Wider die Juden), bis der Staat diese verbot.

 

Der Berliner Schriftsteller Friedrich Buchholz (1768-1843) warnte 1803 (Jesus und Moses) vor der langwierigen „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden und bedauerte, dass man sie zu seiner Zeit nicht mehr vertreiben könne. Gleichwohl erörterte er diese Möglichkeit öffentlich ausführlich. Sie blieb ständiges Drohmittel, um die Assimilation der Juden zu beschleunigen und ihre Religion möglichst bald verschwinden zu lassen.

 

Deutsche Nationalisten lehnten die Judenemanzipation ab und sahen darin eine Bedrohung bisheriger Privilegien. So warnten Hartwig von Hundt-Radowsky, Friedrich Rühs u.a. seit 1812 vor einer bevorstehenden jüdischen Weltherrschaft der einst unterdrückten, nun angeblich bevorteilten Minderheit der Juden über die christliche, insbesondere die „germanische“ Welt.

 

Auch der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) und der Völkerkundler Ernst Moritz Arndt (1769–1860) waren Nationalisten und Judenfeinde, deren Ideen vom deutschen Volkstum rassistische Antisemiten später aufgriffen. So schrieb Arndt zur Westwanderung russischer und polnischer Juden:

 

„Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. […] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, dass unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, dass sie Millionenschätze bringen.“

 

Während die meisten Regierungen Juden im Interesse aller Bürger langfristig integrieren wollten, ließen Provinzstädte ihre Vertreibung weiterhin oft zu. Dazu aktivierten gebildete Frühantisemiten gern „Volkes Stimme“. Der Völkerkundler Friedrich Rühs (1781–1820) z.B. schrieb in einem antijüdischen Traktat 1816: Könne man die Juden nicht zur Taufe bewegen, dann bleibe nur ihre Ausrottung. Dem stimmte der Philosoph Jakob Friedrich Fries zu: Fragt doch einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber und Brotdiebe hasst und verflucht. Die „Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler“ müsse ihre betrügerische Tätigkeit aufgeben oder der Staat müsse sie dazu zwingen, da andernfalls ihre gewaltsame Vertreibung unausweichlich sei. Er forderte, sich von der „jüdischen Pest“ zu befreien.

 

Fries rief 1817 die bei der Gründung der Urburschenschaft auf dem Wartburgfest 1817 anwesenden Studenten zu einer Bücherverbrennung auf. Dabei wurde auch die Schrift Germanomanie des jüdischen Autors Saul Ascher, die den deutschnationalen Verfolgungswahn kritisierte, mit dem Ruf Wehe über die Juden! ins Feuer geworfen.

 

Heinrich Heine schrieb 1821 in seiner Tragödie „Almansor“ seine oft zitierte, jedoch nicht auf das Wartburgfest 1817 bezogene Vorhersage:

 

„Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“

 

Zur Bücherverbrennung auf dem Wartburgfest äußerte er sich 1840 wie folgt:

 

„Auf der Wartburg herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anderes war als Hass des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wusste als Bücher zu verbrennen!“

 

1817 schrieb Kriminalrat Christian Ludwig Paalzow einen Dialogroman Helm und Schild, der die Argumente für und wider das jüdische Bürgerrecht auf einen Juden (Helm) und einen Christen (Schild) verteilte und letzteren rhetorisch siegen ließ. Er verwies im Munde Schilds auf die angeblich zu starke Vermehrung, politische Unzuverlässigkeit und Neigung zur Rebellion der Juden aufgrund ihres Messiasglaubens. Ihre Gewerbefreiheit werde ihnen die ökonomische Macht über die Mehrheit zufallen lassen. Daher müsse man sie rechtzeitig vertreiben, wenn sie nicht freiwillig gingen. Der Schaden durch ihren Verlust sei geringer als der Nutzen, sie los zu sein.

 

1821 veröffentlichte Hartwig von Hundt-Radowsky den Judenspiegel. Darin propagierte er u.a. den Verkauf jüdischer Kinder als Sklaven an die Engländer, um weitere jüdische Nachkommen zu verhindern, und zuletzt Ausrottung und Vertreibung aller Juden. Auch Heinrich Eugen Marcard forderte 1843 in Minden mit einer Petition ihre „Vertilgung“. Hermann von Scharff-Scharffenstein schrieb 1851 in seiner Schrift Ein Blick in das gefährliche Treiben der Judensippschaft:

 

„Das aber bildet eben den Grundcharakter dieser Nation, dass sie allem eigenen und fremden Staatsleben sich feindlich entgegenstellen und wie Parasiten an alle Völker sich anklammern, ohne diesen anders zu lohnen, als indem sie dieselben zu Grunde richten…Die Juden wollen die Herrschaft über Deutschland, ja über die ganze Welt erlangen. Deshalb werden sie nicht gehen, denn ‚hier‘ können sie wie Vampire das Blut der Christen saugen und in Palästina finden sie keine.“

 

Wie viele andere Autoren verwendete er die Tiermetaphern der Spinne, die ihr Netz um die Welt spinnt, des Blutegels oder der gefräßigen Heuschrecken für Juden.

 

Seit 1830 kamen Aversionen gegen gebildete, meist konvertierte jüdische Schriftsteller und Künstler dazu, deren angebliche „Charaktermängel“ und fehlende „nationale Volkskunst“ sie zu einfallslosem Plagiatoren- und Epigonentum zwinge. So schrieb Richard Wagner gegen die als Konkurrenten empfundenen Komponisten Felix Mendelssohn und Giacomo Meyerbeer:

 

„Eine Sprache, ihr Ausdruck und ihre Fortbildung, ist nicht das Werk einzelner, sondern einer geschichtlichen Gemeinsamkeit: Nur wer unbewusst in dieser Gemeinschaft aufgewachsen ist, nimmt auch an ihren Schöpfungen teil.“

 

Der Gymnasiallehrer Eduard Meyer schrieb gegen Ludwig Börne:

 

„Börne ist Jude wie Heine, wie Saphir. Getauft oder nicht, das ist dasselbe. Wir hassen nicht den Glauben der Juden, wie sie uns glauben machen möchten, sondern die hässlichen Besonderheiten dieser Asiaten, die nicht mit der Taufe abgelegt werden können: die häufig auftretende Schamlosigkeit und Arroganz bei ihnen, die Unanständigkeit und Frivolität, ihre vorlautes Wesen und ihre häufig schlechte Grundeigenschaft.“

 

Er forderte Börne auf, sich nicht Deutscher zu nennen, da nicht der Geburtsort, sondern die „deutsche Gesinnung und Vaterlandsliebe“ darüber befinde und diese ihm fehle.

 

1803 bis 1805, 1812 bis 1819 sowie seit 1848 waren solche Schriften in der akademischen Literatur besonders verbreitet. Sie setzten die mittelalterliche Tradition antijüdischer Hetzschriften im aufgeklärten, kirchenfernen Bürgertum fort und etablierten die Ressentiments, Abgrenzungs-, Deportations- und Vernichtungsrhetorik etwa 100 Jahre lang im öffentlichen Diskurs, bevor der Rassebegriff für Juden aufkam.

 

Frühsozialismus und Anarchismus

 

Antisemitismus war zwar eng mit dem Aufkommen des Nationalismus verbunden, blieb aber keineswegs auf diesen beschränkt. Der israelische Historiker Edmund Silberner sieht „eine lange antisemitische Tradition im modernen Sozialismus“, die über die Feindbilder der Frühsozialisten bis zu rassenantisemitischen Vorstellungen französischer Sozialisten um die Jahrhundertwende nachweisbar sei. So trifft man auch bei manchen Junghegelianern, Religionskritikern und Frühsozialisten Aussagen an, die wie schon im Deismus mit dem überkommenen Christentum zugleich gegen das Judentum gerichtet waren und auf deren Auflösung zielten. Am bekanntesten wurde der Streit zwischen Moses Hess und Bruno Bauer, den Karl Marx 1844 in seinem Aufsatz Zur Judenfrage dokumentierte. Marx setzte Kapitalismus mit Geldherrschaft und diese mit dem Judentum in eins. Der „Schacher“ erschien ihm als „der weltliche Kultus des Juden“ und als das „Wesen des Judentums“. Ludwig Feuerbach ordnete den jüdischen Glauben moralisch noch unter dem Polytheismus stehend ein und setzte ihn mit Egoismus gleich:

 

„Ihr Prinzip, ihr Gott ist das praktischste Prinzip der Welt – der Egoismus, und zwar der Egoismus in der Form der Religion.“

 

Einige Frühsozialisten setzten Juden und Kapitalisten gleich. Pierre Leroux z.B. bezeichnete die Juden als „Verkörperung des Mammons“. Eine Versammlung Wiener Zunfthandwerker beschloss am 27. März 1848, „dass kein Arbeiter mehr bei einem jüdischen Fabrikbesitzer in Arbeit treten dürfe; jeder da wider Handelnde wird von der Innung ausgeschlossen. Der Grund liegt darin, dass der israelitische Fabrikant soviel als möglich drückt und schlecht bezahlt“.

 

Antisemitismus gab es auch in der nicht-marxistischen Linken, der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon etwa schrieb: „Der Jude besitzt ein gegen die Produktion eingestelltes Temperament; er ist weder Ackerbauer noch Gewerbetreibender, nicht einmal wirklicher Kaufmann. Er ist stets betrügerischer und parasitärer Vermittler […]. Seine Politik in der Wirtschaft ist völlig negativ; er ist das böse Prinzip, nämlich Satan und Ahriman, der in der Rasse Sems Gestalt angenommen hat.“ Juden sah Proudhon als „Feinde der Menschheit, die man nach Asien zurückschicken sollte“. Der Anarchist Bakunin schrieb in „Persönliche Beziehungen zu Marx“ 1871:

 

„Nun diese ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und intim nicht nur über die Staatsgrenzen hin, sondern auch für alle Verschiedenheiten der politischen Meinungen hinweg, – diese jüdische Welt steht heute zum großen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung.“

 

Deutschland

 

Der Dominikaner Ludwig Greinemann verband erstmals Juden und Freimaurer, indem er 1778 in einer Predigt in Aachen behauptete, Pontius Pilatus, Herodes Antipas und Judas Iskariot seien Mitglieder einer Freimaurerloge gewesen, die heimlich die Ermordung Jesu geplant habe.

 

Antijüdische Krawalle vor der Reichsgründung

 

Die Reaktionen im Volk auf bürgerliche Emanzipation und intellektuelle Judenaversion ließen nicht lange auf sich warten. Im August 1819 breitete sich mit den Hep-Hep-Unruhen eine gewaltsame Krawallserie von deutschen Großstädten bis Kopenhagen und Amsterdam aus. Politisch und ökonomisch unzufriedene Handwerker, Bauern und Studenten gaben die Schuld an den Problemen der frühkapitalistischen Industrialisierung den Juden. Sie plünderten und zerstörten deren Häuser und Geschäfte, steckten Synagogen in Brand und misshandelten Juden mit dem Kampfruf:

 

„Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sei Hepp, Hepp, Hepp! Allen Juden Tod und Verderben, ihr müsst fliehen oder sterben!“

 

„Hep“ wurde als Anspielung auf den Kreuzfahrer-Ruf Hierysalem est perdita („Jerusalem ist verloren“) oder Tieranruf („Springt, haut ab“) gedeutet. In Flugblättern und Parolen der Krawallanten wurden Juden als „Christusmörder“ angegriffen. Die von aufgeklärten Ideen inspirierte jüdische Emanzipation wurde also nicht von der Masse der Bevölkerung getragen.

 

Auch in den Folgejahrzehnten gab es vielerorts Gewalttaten gegen Juden, teils als Begleitung des allgemeinen antifeudalen Protestes und revolutionärer Stimmungen, teils in Krisensituationen oder aus alten religiösen Motiven. In Hamburg wurden Juden 1830 und 1835 wie schon 1819 vom Jungfernstieg vertrieben. Angeregt durch Sensationsberichte über die Damaskusaffäre 1840 lebte auch die Ritualmordlegende wieder auf und führte in einigen Orten – u.a. Geseke, Oettingen, Thalmässing – zu teilweise monatelangen Ausschreitungen gegen Juden. Dabei wurden erneut Hetzrufe wie „Hepp, Hepp, Jude verreck!“ und „Schlagt die Juden tot!“ laut. In Mannheim führte ein Regierungsbeschluss, eine Judenpetition für Gleichstellung zuzulassen, zu Krawallen gegen Juden der Stadt. 1848 zerstörten Bauerngruppen in Leiningen im Taubertal Wohnungen von Juden, die sie als Gläubiger ansahen. In Baisingen verjagten bewaffnete Bauernknechte jüdische Bewohner mit dem Ruf „Geld oder Tod!“ aus ihren Häusern und nötigten vorübergehend 230 Juden des Ortes zur Flucht. Sie versuchten, die Gemeinderäte zu erpressen, den Juden das Bürgerrecht zu nehmen, das die Allmende-Nutzung einschloss.

 

Im Verlauf der Märzrevolution 1848/49 kam es besonders in süd- und ostdeutschen Regionen und etwa 80 Städten, darunter Berlin, Köln, Prag und Wien, zu schweren antijüdischen Exzessen. Neben Zerstörung von Kreditbriefen und Schuldenakten wurden dabei immer wieder Vernichtungsdrohungen laut, sowohl von Seiten aufständischer Bauern wie antirevolutionärer Bürger. Beide gaben den Juden für Not und Revolution die Schuld.

 

Sozialdarwinismus und Rassismus

 

Das kirchliche Mittelalter hatte Juden prinzipiell eine jenseitige Erlösung offengehalten, die sie durch die Taufe schon in diesem Leben erreichen konnten. Deshalb wurden jüdische Gemeinden zeitweise geduldet und von manchen Päpsten und Kaisern ausdrücklich geschützt. Freiwillig getaufte Juden waren vor weiterer Verfolgung meist relativ sicher. Nur bei Zwangstaufen behielten andere Christen Vorbehalte gegen sie: besonders in Spanien. Nach der Massenvertreibung der spanischen Juden durch das Alhambra-Edikt von 1492 verfolgte die spanische Inquisition die im Land gebliebenen „Conversos“ als „Schweine“ (marranos) und begründete dies mit dem rassistischen Ideal der „Reinheit des Blutes“ (limpieza de sangre).

 

Dieses Muster wiederholte sich im 19. Jahrhundert gegen die Judenemanzipation. Schon 1790 entwickelte der Göttinger Popularphilosoph Christoph Meiners (1747–1810) ein Rangsystem der Rassen, das Juden zwar über „Orang-Utans“, „Negern“, „Finnen“ (Lappen) und „Mongolen“ einstufte, aber unter Weißen und Christen. Deshalb stünden ihnen weniger Rechte als diesen zu. Seit Ernest Renan wurde es zunehmend üblich, Juden als „Semiten“ einen Mangel an Zivilisiertheit nachzusagen. Frühe Antisemiten wie Grattenauer und Hartwig von Hundt-Radowsky beschrieben Juden direkt als Affen, um ihnen die Menschenrechte abzusprechen und ihren Emanzipationsprozess, ihr Streben nach Bildung und Aufklärung als von vornherein lächerlich und illusorisch abzuwerten.

 

1853 unterschied Arthur de Gobineau mit dem Aufsatz Die Ungleichheit der Rassen Arier von angeblich minderwertigen semitischen und negriden Rassen. 1858 begründete Charles Darwins Aufsatz Über die Entstehung der Arten die Evolutionstheorie und moderne Genetik mit den Prinzipien Variation, Vererbung und Selektion: Der „Kampf ums Dasein“ führe zu einer Auslese der dem Überleben angepasstesten Arten. Dies übertrugen Rassisten auf die Völkergeschichte: Sie sei als ewiger Kampf zwischen höheren und niedrigeren Rassen zu deuten. Das ermöglichte Antisemiten, die „Judenfrage“ mit pseudobiologischen Argumenten als Rassenproblem zu propagieren.

 

So schrieb der österreichische Kulturhistoriker Friedrich von Hellwald (1842–1892) 1872 in einem Zeitungsartikel, Juden seien aus Asien eingewanderte Fremdrassige; dies würden Europäer „instinktiv“ spüren. Das sogenannte Vorurteil gegen Juden sei also durch zivilisatorischen Fortschritt nie zu überwinden. Als Kosmopolit sei der Jude dem „ehrlichen Arier“ an Schläue überlegen. Von Osteuropa aus grabe er sich als Krebsgeschwür in die übrigen europäischen Völker ein. Ausbeutung des Volkes sei sein einziges Ziel. Egoismus und Feigheit seien seine Haupteigenschaften; Selbstaufopferung und Patriotismus seien ihm völlig fremd.

 

Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden überhöhten Antisemiten den rassischen zum welthistorischen Gegensatz: „Arier“ galten als zur Weltherrschaft berufen, „Semiten“ als ihre zur Unterlegenheit bestimmten Konkurrenten, die gleichwohl zur Zeit noch über die Arier herrschten. Der Nationalökonom Karl Eugen Dühring (1833–1921) begründete dies mit seinem populären Buch Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (1881), das eine Art Bibel für Antisemiten wurde. Er erklärte die „Selbstsucht“ und „Machtgier“ der Juden als unveränderbare Erbanlage und verband damit antichristliche und antikapitalistische Motive: Die Bibel sei eine vom „Asiatismus“ durchtränkte Religionsurkunde. Juden seien „Drahtzieher“ der Krisenphänomene und sozialen Missstände der Industrialisierung. Als einer der Ersten sprach er von einer „Endlösung“. Da diese vorläufig nicht möglich sei, solle man die Juden wieder in Ghettos zwingen und dort überwachen. Ziel aber bleibe:

 

„Der unter dem kühlen nordischen Himmel gereifte nordische Mensch hat die Pflicht, die parasitären Rassen auszurotten, wie man eben Giftschlangen und wilde Raubtiere ausrotten muss!“

 

Diese seit dem Mittelalter bekannten Sprachbilder der Entmenschlichung passten die Antisemiten der wissenschaftlichen Sprache der Bakteriologie, Mimikry-Theorie und Rassenlehre an. Juden wurden immer mehr nicht nur mit Blutsaugern, Krebsgeschwüren, Schmarotzern, Seuchen, Ungeziefer, Volksschädlingen, wuchernden Schlingpflanzen usw. verglichen, sondern identifiziert. Stand im mittelalterlichen Aberglauben hinter ihnen der Teufel, also eine letztlich unbesiegbare dämonische Macht, so wurde es mit dem medizinisch-technischen Fortschritt denkbar, sich dieser „menschlichen Viren“ radikal zu entledigen.

 

Das verschloss Juden jede Möglichkeit, sich sozial anzupassen. Denn auch getaufte Juden blieben nun Juden, die von Vorfahren mit jüdischer Religion abstammten, egal ob und wie lange ihre Vorfahren schon Christen waren. Damit war die Religionszugehörigkeit für Antisemiten nur noch als pseudobiologisches Merkmal wichtig, das Judesein zum unentrinnbaren Schicksal machte. Die Juden zugeordneten negativen Erbanlagen erschienen durch keinerlei Erziehung, Bildung, Integration und Emanzipation veränderbar. So wurde ihre völlige Vertreibung oder Vernichtung in ganz Europa als einzig realistische „Lösung der Judenfrage“ nahegelegt.

 

Der Rassismus untermauerte auch sonst die Ablehnung fremder Völker nach außen und ethnischer oder anderer Minderheiten nach innen. So wuchs parallel zum Antisemitismus in ganz Europa die Fremdenfeindlichkeit. In Deutschland richtete sich diese z.B. gegen „Zigeuner“ oder Sorben.

 

Darwin distanzierte sich 1880 von diesem politischen Missbrauch seiner Theorien. Nach seinem Tod 1882 wurden diese jedoch immer stärker rassistisch umgedeutet. Man redete nun von der „Zersetzungskraft jüdischen Blutes“ und zählte auch „Halb“- oder „Viertel“-Juden zum Judentum, während die „arische Rasse“ immer stärker zur einheitsstiftenden Idee wurde. Deren „Notwehr“ gegen die Juden wurde als Naturgesetz dargestellt. Damit wurde das Recht des Stärkeren gegenüber Natur- und Menschenrecht deterministisch legitimiert. So forderte z.B. Paul de Lagarde (1827–1891) in Juden und Indogermanen 1887 die Einheit von „Rasse und Volk“ unter Ausschluss des Judentums. Er beklagte, dass in Berlin mehr Juden lebten als in Palästina, und forderte, „dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten“:

 

„Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.“

 

Auch Wilhelm Marr verwendete 1879 das Bild von den Jesusmördern und sprach kulturpessimistisch von einem Sieg des Judentums über das Germanenthum, wobei er die Juden als eigene Rasse darstellte.

 

1899 forderte Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) in seinem Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts als Erster die „Reinheit der arischen Rasse“ gegen „Vermischung“. Das Buch las Kaiser Wilhelm II. persönlich seinen Kindern vor und empfahl es als Lehrstoff für die Kadettenschulen.

 

In den 1920er Jahren erreichte die Massenproduktion rassistischer und antisemitischer Traktate, Bücher und Neuauflagen neue Höhepunkte. In Deutschland wurden z.B. die Schriften von Hans F. K. Günther populär: Rassenkunde des deutschen Volkes (München 1922, 16. Auflage. 1933), Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes (München 1929) und Rassenkunde des jüdischen Volkes (München 1930).

 

Die Bedeutung des rassistischen Antisemitismus wird verschieden beurteilt. Manche Historiker sehen in den Rassenlehren jene Steigerung des überkommenen Judenhasses, die den Nationalsozialismus vorbereiteten. Andere, etwa Mark Weitzmann vom Simon Wiesenthal Center, betonen, sie hätten dem bestehenden Antijudaismus nur einen „rassistischen und wissenschaftlichen Glanz“ hinzugefügt.

 

Etablierung im Kaiserreich (1871–1883)

 

Bereits vor dem Kaiserreich gehörte das Klischee des raffgierigen und prinzipienlosen Juden zur Populärkultur, es findet sich in Gustav Freytags Buch Soll und Haben (1855), Wilhelm Raabes Hungerpastor (1864) und Felix Dahns Kampf um Rom (1867). Der Gründerkrach 1873 fügte diesem Klischee noch einen Aspekt hinzu. Nun wurden Juden mit der Börse und mit der Verfügung über ein nicht durch Arbeit verdientes Kapital identifiziert.

 

Im Juni 1885 veröffentlichte die Kreuzzeitung einen berühmt gewordenen Artikel, in dem es hieß:

 

Wenn die Finanz- und Wirtschaftspolitik des neuen deutschen Reiches […] auf unbefangene Beurteiler beständig den Eindruck reiner Bankierpolitik, das heißt einer Politik von und für Bankiers machte, so konnte dies nach den Verhältnissen der in diesen Dingen liegenden Persönlichkeiten durchaus nicht Wunder nehmen: denn Herr von Bleichröder ist selbst Bankier, Herr Delbrück ist Verwandter eines Bankhauses (Delbrück, Leo & Co) und Herr Camphausen ist der Bruder eines Bankhauses (Camphausen & Co). Wenn zugleich die Geld- und Wirtschaftspolitik des deutschen Reiches immer den Eindruck von Judenpolitik macht, so ist das ebenfalls erklärlich, da der intellektuelle Urheber der Politik, Herr v. Bleichröder, selbst Jude ist. […] Die Herren Lasker, Bamberger und der beiden eng befreundete, freilich erst neuerdings in den Reichstag gelangte Herr H.B. Oppenheim sind ja Juden und sind die eigentlichen Führer der sogenannten ‚nationalliberalen‘ Majorität des Reichstags und der preußischen Zweiten Kammer. […] Wir werden ja zurzeit von den Juden eigentlich regiert.

 

Damals begann Wilhelm Marr seine antisemitische Publizistik. Otto Glagau (1834–1892) argumentierte eher ökonomisch in einer vielgelesenen Artikelserie in der Gartenlaube (1874), dann mit Schriften über den angeblichen Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin (1875) und Bankerott des Nationalliberalismus und die ‚Reaktion‘ (1878). Beide mobilisierten dabei auch überkommene christliche Vorurteile gegen Juden.

 

Die katholische Kirche vieler europäischer Staaten erlebte damals eine Phase der Ultramontanisierung, der Zentralisierung und des Antimodernismus: sie betrachtete Forderungen nach mehr Presse- und Meinungsfreiheit sowie nach Verwirklichung von mehr rechtlicher und sozialer Gleichheit als Bedrohung ihres eigenen Wahrheitsanspruchs und ihrer am Prinzip der Hierarchie orientierten inneren Ordnung. In dieser Zeit (bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) war innerhalb der katholischen Kirche ein „doppelter Antisemitismus“ festzustellen: in Artikeln und Verlautbarungen wurden zwar Gewalt und ein auf der Rassenideologie fußender Antisemitismus als dem Christentum widersprechend abgelehnt (was einzelne Vertreter nicht daran hinderte, auch diesbezügliche Stereotype in ihre Polemiken einfließen zu lassen), andererseits vertrat man eine vorgeblich defensiv ausgerichtete Form des Antisemitismus, die Gläubigen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten sei, etwa wenn es um das Eintreten gegen den vermeintlich schädlichen und zersetzenden Einfluss von Juden im Wirtschafts- und Kulturleben und einen oft unterstellten jüdischen Hass und entsprechende Subversion gegen das Christentum als solches ging. Dieser doppelte Antisemitismus umfasste neben altbekannten religiösen („Gottesmord“) auch ältere weltliche Topoi wie den Vorwurf der Wucherei, aber auch neuere Anschuldigungen wie die eines jüdischen Weltmachtstrebens. Als Beispiele für diese Publizistik sind der Theologieprofessor Alban Stolz, der Paderborner Bischof Konrad Martin, der Präsident des 16. Deutschen Katholikentages in Würzburg (1864) Kraft Karl Ernst von Moy de Sons, der Historiker Josef Edmund Jörg, der Geistliche und Abgeordnete Georg Ratzinger oder der Dominikaner Albert Maria Weiss zu nennen.

 

August Rohling (1839–1931), Priester und Professor der katholischen Theologie (1871–1874 in Münster, später an anderen Orten), wurde 1871 schlagartig bekannt, nachdem er die antisemitische Schrift Der Talmudjude veröffentlicht hatte. Sie enthielt aus dem Zusammenhang gerissene Talmud-Zitate, die Rohling negativ interpretierte. Damit versuchte er auf theologischem Wege gegen die sogenannte „jüdische Rasse“ vorzugehen. Er stützte sich dabei im Wesentlichen auf das Werk von J. A. Eisenmenger, „Entdecktes Judenthum Oder Gründlicher und Wahrhafter Bericht, welchergestalt die verstockten Juden die Hochheilige Drei-Einigkeit lästern und verunehren“. Eine weitere Quelle Rohlings war der jüdische Konvertit Aron Israel Brimann (Pseudonym Dr. Justus), der sich durch antisemitische Hetzschriften hervorgetan hatte. „Der Talmudjude“ hatte seinerzeit eine weitreichende Wirkung, und noch Julius Streicher verwendete in seiner Wochenzeitung Der Stürmer Rohlings Argumentation. Rohling zufolge gebiete die jüdische Religion ihren Anhängern, wann immer möglich Christen zu schädigen und zu töten – so verteidigte Rohling auch die mittelalterliche Ritualmordlegende.

 

Adolf Stoecker (1835–1909), protestantischer Hofprediger in Berlin, gründete 1878 die „Christlich-soziale Arbeiterpartei“, die sich 1881 als „Christlich-soziale Partei“ und eigenständige Strömung der Deutschkonservativen Partei anschloss. Sie fand weit mehr Anhänger im ökonomisch bedrohten Kleinbürgertum und Mittelstand als unter den ursprünglich angesprochenen Arbeitern. Stoecker positionierte seine Partei nun zunehmend antisemitisch. Mit seiner Rede Unsere Forderungen an das moderne Judentum vom September 1879 forderte er die Begrenzung des vermeintlichen jüdischen Einflusses auf die Politik. Diese Agitation war ein Hauptgrund für seine rasch wachsende Popularität. Seine öffentlichen Aussagen als Reichstagmitglied verurteilten „die Juden“ zugleich als Erz-Kapitalisten als auch als antikapitalistische Revolutionäre. Wirtschaft wie Arbeiterbewegung seien in gleicher Weise „verjudet“. Stoecker konstruierte den sozialen Hauptkonflikt seiner Zeit antisemitisch in einen ethnischen Antagonismus um – hier aufbauende deutsche Volksgemeinschaft, dort fremdvölkische/fremdrassische und zerstörerische jüdische Minderheit. Auch wenn der parteipolitische Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung verlor, hatte Adolf Stoecker die dahinterstehende Weltanschauung entscheidend in die Studentenschaft und die protestantische Kirche getragen.

 

1879 gilt als Geburtsjahr des „modernen“ Antisemitismus, in dem sich deutschnationale, antiliberale, antikapitalistische und rassistische Motive verknüpften und im Bürgertum reichsweit gesellschaftsfähig wurden. Damals erreichte Marrs Buch Der Sieg des Judentums über das Germanentum 12 Auflagen. Daraufhin gründete er die „Antisemitenliga“ als erste deutsche Gruppe, die die Vertreibung aller Juden aus Deutschland anstrebte. Dazu gab Marr 14-täglich das Blatt Deutsche Wacht heraus. Kurz zuvor hatte ein Aufsatz des angesehenen Historikers Heinrich von Treitschke (1834–1896) den zwei Jahre anhaltenden Berliner Antisemitismusstreit ausgelöst. Treitschke unterstützte Stoeckers Forderungen und prägte den Satz Die Juden sind unser Unglück, der später Untertitel des nationalsozialistischen Stürmer wurde. Der Althistoriker Theodor Mommsen (1817–1903) kritisierte diese antiliberale Judenfeindschaft 1880 scharf und erreichte mit einer von ihm initiierten Notabeln-Erklärung, Treitschke an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin zu isolieren. Doch Antisemitismus war nun auch als „wissenschaftliches“ Thema etabliert.

 

Im Preußischen Abgeordnetenhaus brachte Albert Hänel 1880 aus Anlass einer Antisemitenpetition, die insbesondere die Entfernung der Juden aus dem Staatsdienst forderte, die Interpellation Hänel ein, die einen Streit zwischen konservativen und Zentrumsabgeordneten auf der antisemitischen Seite und liberalen und fortschrittlichen Abgeordneten auf der anderen Seite offenbarte.

 

Die insbesondere Anfang der 1880er Jahre vielfach ins Leben gerufenen Tierschutzvereine sprachen sich sowohl gegen die rituelle Schächtung wie gegen Tierversuche aus, die sie als Ausdruck ein und derselben „jüdischen Medizin“ sahen, und wurden von Berühmtheiten wie etwa Richard Wagner in gleichem Sinne unterstützt. Während im Kaiserreich Tierschutz eher ignoriert und eine tierschutzfreundliche Gesetzgebung verweigert wurde, nahmen sich die Nationalsozialisten des Themas später mit hoher Priorität und klar antisemitischen Vorzeichen an. Dies erschwert den Umgang mit eigenen tierschutzspezifischen Traditionen im deutschen Judentum bis heute.

 

Eine im Sommer 1880 von Max Liebermann von Sonnenberg, Bernhard Förster u.a. initiierte „Antisemitenpetition“ forderte u.a. eine Sondersteuer für Juden, ihren Ausschluss von allen öffentlichen Ämtern und ein Verbot jüdischer Einwanderung nach Deutschland. Viele Studentenausschüsse warben für die Petition an den Universitäten. Daraus gingen die Vereine Deutscher Studenten hervor, die sich 1881 im Kyffhäuserverband vereinten. Auch Marr und Stoecker mobilisierten ihre Anhänger in der Berliner Bewegung für die Petition. Um die 250.000 Bürger unterzeichneten sie. Im April 1882 übergab Sonnenberg die Unterschriften im Reichstag; Reichskanzler Otto von Bismarck ignorierte die Forderungen jedoch.

 

Der Lehrer Ernst Henrici warb 1880 reichsweit mit antisemitischen Hetzreden um Wähler für seine Soziale Reichspartei. Der unaufgeklärte Synagogenbrand vom 18. Februar 1881 in Neustettin folgte auf eine seiner Reden. 1881 gründete Sonnenberg den patriotisch-konservativen Deutschen Volksverein sowie die Deutsche Volkszeitung, die das Schlagwort „Antisemitismus“ in ganz Deutschland verbreiteten.

 

Der Lokalpolitiker Alexander Pinkert gründete in Dresden 1879 den antisemitischen Deutschen Reformverein, dem bis 1885 in 139 Städten ähnliche lokale Vereine folgten. Daraus ging 1881 die Deutsche Reformpartei hervor. 1882 berief Pinkert den ersten „Internationalen antijüdischen Kongress“ nach Dresden ein. Dort versuchten etwa 400 Vertreter antisemitischer Gruppen vor allem aus Deutschland und dem Habsburgerreich, gemeinsame Ziele zu finden. Dies misslang, sodass das abschließende Manifest an die Regierungen und Völker der durch das Judenthum gefährdeten christlichen Staaten keine konkreten politischen Forderungen erhob. Der zweite Antisemitenkongress 1883 in Chemnitz brachte ebenfalls keine konkreten Ergebnisse und keine Einigung zwischen gemäßigten Sozialkonservativen und Rasseantisemiten.

 

Vordringen in Publizistik und Parteipolitik (1884–1893)

 

Die Überzeugung von einem jüdischen Streben nach Weltherrschaft vertraten auch aufgeklärt-liberale Bildungsbürger wie Eduard von Hartmann (1842–1906). In seinem Buch Das Judentum in Gegenwart und Zukunft (1885) grenzte er sich wie Heinrich von Treitschke vom Antisemitismus ab und versuchte eine ausgleichende Position einzunehmen. Doch er sprach von „Wirtsvölkern“, die die Juden bei sich aufgenommen und denen sie die Menschenrechte gewährt hätten. Zum Dank dafür hätten die Juden sich aber nicht vollständig assimiliert, sondern an ihrer religiös-nationalen Sonderexistenz festgehalten und so den Antisemitismus erzeugt. In ihrem Messiasglauben, ihrem internationalen Gemeinschaftsgefühl und ihren Organisationen sah er ihr Herrschaftsstreben:

 

„So bildet das Judentum eine internationale Freimaurerei, die an der Religion ihren idealen Inhalt, an dem ethnologischen Typus ihr sichtbares Erkennungszeichen und an der Alliance Israelite Universelle und deren Kapitalmacht das Kristallisationszentrum einer internationalen Organisation besitzt.“

 

Diese sei „die erste embryonale Anlage zu einer Zentralregierung der künftigen jüdischen Weltherrschaft“ und ein „bedauerliches Hindernis für die schnellere Entjudung der Juden“. Würde das Judentum also an seiner Identität festhalten, dann hätte es „das deutsche Volk durch die Forderung und Annahme der Jüdischen Emanzipation betrogen“.

 

Theodor Fritsch (1852–1933) versuchte 1884, die zerstrittenen Antisemiten in seiner Deutschen Antisemitischen Vereinigung zu sammeln. 1885 gab er dazu die Zeitung Antisemitische Correspondenz heraus. 1887 verfasste er den bis 1945 immer neu aufgelegten Antisemitenkatechismus, der alle judenfeindlichen Klischees verbreitete. Fritsch schloss aus den Misserfolgen seiner Vorgänger:

 

„Unser Ziel muss es sein, alle Parteien mit dem antisemitischen Gedanken zu durchsetzen. […] Sobald wir als politische Partei auf den Plan treten, haben wir nicht mehr allein die Juden zu Gegnern, sondern zugleich alle anderen politischen Parteien.“

 

Der Marburger Bibliothekar Otto Böckel (1859–1923) fand bei der Landbevölkerung in Hessen mit antisemitischer Agitation viel Zustimmung. 1886 gründete er seine Deutsche Reformpartei, die sich bald mit dem Verein von Fritsch zusammenschloss. Bei der Reichstagswahl am 21. Februar 1887 errang Böckel im Wahlkreis Kassel als erster bekennender Antisemit ein Reichstagsmandat, das er bis 1907 innehatte.

 

Auf dem Antisemitentag in Bochum am 10. und 11. Juni 1889 konnten sich die verschiedenen Gruppen erneut nicht einigen. Stoecker und Sonnenberg wollten konservative und kleinbürgerliche Wähler für Monarchie und Nationalstaat gewinnen; ihre Anhänger bildeten die neue Deutschsoziale Partei. Böckel dagegen wollte seine Ziele im Parteinamen zeigen und gründete mit weiteren Gruppen 1890 die Antisemitische Volkspartei. Beide Neuparteien forderten die Aufhebung der Emanzipationsgesetze und verhöhnten liberale Parteien vor den Reichstagswahlen 1890 als „Judenschutztruppe“. Sie stießen aber auf Widerstand und gewannen zusammen nur knapp drei Prozent der Stimmen. Dazu meinte der Führer der Deutschfreisinnigen Eugen Richter:

 

„Wenn wir dieser Bewegung erlauben, größer zu werden, zerstören wir die Säulen, auf denen unsere Kultur ruht.“

 

1890 trat Hermann Ahlwardt (1846–1914) mit den Büchern Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum und Der Eid eines Juden hervor, in dem er Gerson von Bleichröder, Bankier und Freund Bismarcks, der Korruption bezichtigte. Danach behauptete er in der Schrift Judenflinten, der jüdische Waffenfabrikant Ludwig Loewe habe den preußischen Truppen in geheimer Absprache mit den Franzosen untaugliche Gewehre geliefert. Für diese Verleumdungen erhielt er jeweils vier und fünf Monate Gefängnis, die er wegen seiner Immunität als Reichstagsabgeordneter nicht verbüßen musste. Er wurde von Bauern in der Region Arnswalde-Friedeberg – wo es kaum Juden gab – gewählt, indem er in persönlichen Gesprächen „Junkern und Juden“ die ökonomische Notlage anlastete. 1894 legte er ein Programm vor, das vorsah, alle Großgrundbesitzer zu enteignen und ihren Besitz in Gemeineigentum zu überführen, was von den übrigen Antisemiten abgelehnt wurde.

 

1893 errangen beide Antisemitenparteien zusammen 18 Reichstagsmandate. 1894 vereinigten sie sich unter Führung Sonnenbergs und Oswald Zimmermanns – ohne Böckel und Ahlwardt – zur Deutschsozialen Reformpartei. Ihr Programm baute auf den Rassentheorien von Houston Stewart Chamberlain auf und redete 1899 erstmals von der „Endlösung der Judenfrage“ durch „Absonderung“ und notfalls „völlige Vernichtung“. 1898 gewann die Partei 13 Reichstagssitze. 1900 spaltete sie sich jedoch wieder an der Frage der Zusammenarbeit mit dem 1893 gegründeten Bund der Landwirte. Diesen hatten Aktivisten der Studentenvereine wie Diederich Hahn und Zeitungsverleger wie Otto Schmidt-Gibichenfels antisemitisch, christlich und monarchistisch ausgerichtet. Er wurde von den radikaleren Antisemiten daher als Anhängsel der Konservativen Partei betrachtet. Sie richteten ihren Nationalismus stärker gegen Adel, kirchliche und staatliche Konservative und die im Reichstag führende Nationalliberale Partei. – Auch bei der Reichstagswahl 1903 erhielten die uneinigen Antisemitenparteien nur 3,5 Prozent (11 Mandate). 1907 stellten sie noch sieben Abgeordnete. Sonnenberg saß bis zu seinem Tod 1911 im Reichstag. Keins der Ziele seiner Petition von 1879 wurde im Kaiserreich umgesetzt.

 

Bei der Reichstagswahl 1912 verloren die Antisemitenparteien Wähleranteile; auch die rassistischen Reformvereine hatten kaum messbaren Erfolg. Heinrich Pudor zog in seiner Schrift Wie kriegen wir sie hinaus? 1913 die Bilanz, die antisemitische Bewegung habe seit der Reichsgründung „so gut wie nichts“ erreicht. Man solle daher den Juden „das Leben so sauer machen, dass sie von selbst wieder zum Wanderstab greifen“, und „mit Hilfe von Ansiedlungsverträgen dieses Völkergift wieder ausstoßen.“ Über ältere Zuwanderungs- und Berufsverbote hinaus forderte er nun die „gesetzliche Eliminierung des Judentums aus deutschen Landen“. Die Parole vom „Ausschluss der Juden“ war Allgemeingut antisemitischer Gruppen geworden; ein politisches Konzept für dessen Umsetzung fehlte.

 

Antisemitische Vereine und Verbände

 

Antisemitismus war im Kaiserreich nicht nur parteigebunden. Viele Vereine blieben seit 1880 antisemitisch oder gründeten sich als antisemitische Vereine neu, darunter die Deutsche Turnerschaft, das angesehene Offizierskorps und viele Studentenverbindungen. Der Kyffhäuserverband schloss Juden 1886 als erster Verband aus. Bis 1896 folgten ihm die meisten Burschenschaften. 1902 stellte Ernst Böhme vom Kyffhäuserverband rückblickend fest:

 

„Die gesellschaftliche Isolierung des jüdischen Studenten ist heute in der Hauptsache vollzogen. Die gesamten angesehenen Kouleurverbände, Korps, Burschenschaften, Landsmannschaften und farbentragenden Turnerschaften, sowie die Hauptmasse der schwarzen Verbände, die akademischen Turnvereine, Gesangvereine und wissenschaftlichen Vereine schließen heute die Juden von der Mitgliedschaft aus.“

 

Nur der Allgemeine Deutsche Burschenbund erklärte noch 1905: Um deutsch zu sein, müsse man nicht rein germanischer Abstammung sein.

 

In der Sektion Wien des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins konnten ab 1905 nur Deutsche „arischer Abstammung“ Mitglieder werden; 1907 bzw. 1910 verboten auch die Akademische Sektion Wien bzw. München Juden die Mitgliedschaft, weitere folgten. 1921 wurde der Nationalsozialist Eduard Pichl Vorsitzender der Sektion Austria des DuÖAV und begann, den Antisemitismus durchzusetzen. 1924 hatten 98 der 110 österreichischen Alpenvereinssektionen einen Arierparagraphen. Juden durften weder Mitglied sein noch auf den Vereins-Hütten bewirtet werden.

 

Über andere Themen wie die Flottenaufrüstung der kaiserlichen Marine oder Schutzzölle gegen englische Importe konnte sich das Bild der „jüdischen Ausbeuter“ und ihrer „zersetzenden“ demokratischen Ideen in breiten Bevölkerungsschichten festsetzen.

 

Besonders folgenreich war der Antisemitismus an den Hochschulen. Viele dort ausgebildete Akademiker, Juristen, Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Pastoren beteiligten sich dauerhaft an der antisemitischen Agitation, benachteiligten Juden aktiv und trugen so zu ihrer zunehmenden Verdrängung aus staatlichen Ämtern und gesellschaftlichen Ächtung bei. Auch ihre Fachverbände wurden seit etwa 1890 von der antisemitischen Welle erfasst. Als antisemitischer Verband gründete sich 1893 der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband für Angestellte und Handwerker. Er gewann rasch Einfluss auch unter evangelischen Jugendverbänden. Dort sah man Antisemitismus als einzige weltanschauliche Alternative zu Liberalismus und Sozialismus. Viele spätere Parteipolitiker gingen aus ihm hervor. Jedoch standen dort Sonderinteressen im Vordergrund. Daraufhin gründeten Böckel und Förster 1900 den nach dem Führerprinzip aufgebauten Deutschen Volksbund, dessen Mitglieder 1907 aus der Deutschsozialen Partei ausgeschlossen wurden.

 

Der kleine, aber einflussreiche Alldeutsche Verband wollte nach Bismarcks Entlassung 1890 bewusst einer großdeutschen imperialistischen Politik zum Durchbruch verhelfen und alle Deutschen einem „Gesamtwillen der Nation“ unterordnen. Damit wurde er zunehmend antisemitisch. Der erste Vorsitzende Ernst Hasse erklärte 1906, dass die heute gebildeten Rassen nunmehr homogen und konstant werden wollen, dass sie demnach die nicht assimilierten Fremdkörper wieder ausscheiden wollen … namentlich wenn diese eindringenden Fremdkörper minderwertig sind oder als minderwertig empfunden werden. Der zweite Vorsitzende Heinrich Claß veröffentlichte 1912 das Buch Wenn ich der Kaiser wär. Darin forderte er, alle ausländischen Juden auszuweisen und allen deutschen Juden die Staatsbürgerschaft abzuerkennen.

 

Der von Friedrich Lange 1894 gegründete Deutschbund vertrat die „Pflege deutscher Art“. Er sah in Bauern und Handwerkern die „wurzelechtesten Vertreter unseres Volkstums“: …diese Kräfte müssen unter allen Umständen gegen die Sozialdemokratie sowohl wie gegen ihre christlichen Mitbewerber erhalten werden. Lange unterschied in Reines Deutschtum (1893) strikt Volkstum und Nationalstaat und nannte das Gleichheitsprinzip des Judentums als gemeinsame Basis von Christen und Sozialisten Morbus internationalitis („internationale Krankheit“):

 

„Vor dem Christentum gibt es nicht Volk, Kaste und Stammesart, sondern nur Menschheit…Ist der Krieg ein Übel? An dieser Frage lässt sich scharf erweisen, dass christliches Gebot dem natürlichen Empfinden unseres Volkes widerspricht.“

 

Die Gobineaugesellschaft, gegründet 1894 von Ludwig Schemann (1852–1938), wollte die „nordisch-germanische Rasse“ fördern, ließ Gobineaus Werke ins Deutsche übersetzen und veröffentlichen. Chamberlain gehörte ihr an. Auch Richard und Cosima Wagner waren Gobineau und seinen Ideen eng verbunden. Theodor Fritsch (1852–1933) gründete 1904 „Hammer-Gemeinden“, die sich 1912 im Reichshammerbund einten, um parteiungebundene Antisemiten zu sammeln. Er kooperierte dazu eng mit dem Alldeutschen Verband.

 

Bei der Reichstagswahl am 12. Januar 1912 erzielte die SPD 34,8 Prozent der Stimmen und stellte zum ersten Mal die stärkste Fraktion im Reichstag. Die Antisemitenparteien verloren Stimmen.

 

Einige radikal-konservative Personen wie Konstantin Freiherr von Gebsattel äußerten, dass die Reichstagsmehrheit vom „jüdischen Golde“ beherrscht sei, und prägten für diese These den politischen Kampfbegriff „Judenwahl“. Es bildeten sich weitere völkisch-rassistische Antisemitengruppen: der geheime Germanenorden, aus dem 1918 die Thule-Gesellschaft hervorging, der Verband gegen die Überhebung des Judentums, der Deutsch-Österreichische Schutzverein Antisemitenbund, die Deutschvölkische Beamtenvereinigung und der Bund völkischer Frauen.

 

Einfluss auf Innenpolitik und etablierte Parteien

 

Unter dem Eindruck der Anfangserfolge der Antisemiten nahm die Konservative Partei 1892 einige ihrer Forderungen in ihr Programm auf. Der erste Absatz lautete:

 

„Wir bekämpfen den vielfach sich vordrängenden und zersetzenden jüdischen Einfluss auf unser Volksleben. Wir verlangen für das christliche Volk eine christliche Obrigkeit und christliche Lehrer für christliche Schüler.“

 

Das bedeutete Ausschluss von Juden aus allen Staatsämtern, aus Bildung und Kultur.

 

Auch die katholische Zentrumspartei ließ – nicht zuletzt wegen der Haltung von Papst Pius IX., der Juden seit 1872 der Neigung zu Anarchismus und Freimaurerei bezichtigte – zunächst einige judenfeindliche Abgeordnete auf ihren Listen kandidieren. Parteiführer Ludwig Windthorst setzte sich jedoch u.a. über die „Kölnische Volkszeitung“ öffentlich für die Rechte der Juden und gegen antisemitische Ausfälle ein. Er ließ den preußischen Abgeordneten Cremer wegen dessen Beitritts zu Stöckers „Berliner Bewegung“ aus Fraktion und Partei ausschließen. Danach blieb das Zentrum weitgehend frei von antisemitischem Gedankengut und verteidigte die Juden, etwa 1887, als Antisemiten im Bündnis mit Tierschützern das Schächten verbieten lassen wollten. Andererseits äußerten sich einzelne Zentrumspolitiker bei für wichtig gehaltenen Themen auch antisemitisch, so der Abgeordnete Karl Fritzen 1892 in der Debatte um den Xantener Ritualmordvorwurf im preußischen Abgeordnetenhaus, als er, mit Unterstützung des judenfeindlichen Abgeordneten von Wackerbarth von den Konservativen, dem um Aufklärung bemühten Rickert vorwarf, „in judenfreundlicher Weise […] Stimmung zu machen“, oder Friedrich Dasbach, der bei einer Petitionsdiskussion über eine geforderte Kontrolle jüdischer Religionslehrbücher, die nach Ansicht von Antisemiten die christliche Gesellschaft verunglimpften, sich in seiner Rede zahlreicher Unterstellungen gegen den Talmud bediente.

 

So blieben die „Radauantisemiten“ Splittergruppen, erreichten aber bleibende Aufmerksamkeit für ihr Thema. Die antisemitischen Verbände bejahten die Staatsordnung und meist auch die imperialistische Außenpolitik der Regierung, obwohl diese ihre antijüdischen innenpolitischen Forderungen nur zum Teil umsetzten. Der gemäßigte Antisemitismus der nationalliberalen und konservativen Parteien begünstigte diese Übereinstimmung.

 

Der Kampf gegen den Antisemitismus wurde hauptsächlich von Vertretern der Deutschen Fortschrittspartei und ihren Nachfolgeparteien wie Eugen Richter oder Albert Hänel sowie von Vertretern des linken Flügels der Nationalliberalen (später Liberale Vereinigung) wie Heinrich Rickert oder Theodor Mommsen geführt (siehe auch: Interpellation Hänel, Schmach für Deutschland). Die SPD verstand sich als Interessenvertretung der Lohnarbeiter zugleich als Kraft des humanen Fortschritts und Opposition gegen Diskriminierung von Minderheiten. Sie nahm seit ihrer Gründung nie antisemitische Forderungen in ihr Programm auf, ließ keine Antisemiten auf ihren Listen kandidieren und widersprach dieser Ideologie als einzige Partei im Kaiserreich offen. Hans Leuß rückte in führende Positionen in der SPD ein, ohne seine vorherigen antisemitischen Positionen, die er beispielsweise in der Schrift „Das richtige Wanzenmittel“ 1893 vertreten hatte, zu widerrufen. Doch in sozialdemokratischen Unterhaltungsblättern wie dem Wahren Jakob, Süddeutschen Postillon oder der Neuen Welt wurden Juden ab 1890 in Witzen, Karikaturen und Alltagsgeschichten als vom Profitstreben gelenkte, gerissene Schacherer und Wucherer, Börsenjobber und Händler ohne Geschäftsmoral dargestellt. Diese Klischees wurden genauso in bürgerlicher Literatur wie Der Jude von Karl Spindler, Der Büttnerbauer von Wilhelm von Polenz, Soll und Haben von Gustav Freytag, Rembrandt als Erzieher von August Julius Langbehn u.a. unter das Volk gebracht, sodass sie sich als kultureller Code (Shulamit Volkov) etablieren konnten.

 

1892 auf dem Berliner Parteitag der SPD konnte sich August Bebel mit einer Resolution gegen den Antisemitismus nur mühsam gegen parteiinterne Gegner wie Franz Mehring und Wilhelm Liebknecht durchsetzen. Liebknecht zeigte sich 1893 auf dem Parteitag in Köln überzeugt, dass „die Antisemiten ackern und säen und wir Sozialdemokraten ernten werden“, wollte also antisemitische Propaganda nicht direkt bekämpfen. Bebel dagegen bezeichnete Antisemitismus als „Sozialismus der dummen Kerle“ und glaubte, sie hätten „nie Aussicht, irgendeinen maßgebenden Einfluss auf das staatliche und soziale Leben auszuüben“. In seinem Referat „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ auf dem Kölner Parteitag 1893 stellte er die Antisemiten als Wegbereiter der Sozialdemokratie dar:

 

„In seinem Kampfe um die Herrschaft wird der Antisemitismus genötigt werden, wider Willen über sein eigenes Ziel hinauszuschießen, wie es sich schon jetzt bei Herrn Ahlwardt bewiesen hat, der erst Arm in Arm mit dem Junkerthum in den Kampf trat und allmählig durch die Stimmung seiner Wähler genötigt wurde, die Parole auszugeben: Wider Juden und Junker! Auch für die hessische Bewegung ist es nicht mehr ausreichend, gegen die Juden allein loszugehen, sie muss sich bereits gegen das Kapital überhaupt wenden; ist erst dieser Moment da, dann kommt auch der Zeitpunkt, wo unsere Anschauungen auf fruchtbaren Boden fallen und wo wir den Anhang gewinnen werden, den wir augenblicklich noch vergebens erstreben.“

 

1895 sorgte die Louis-Stern-Affäre für eine nachhaltige Verstimmung zwischen den Außenministerien der USA und Deutschlands.

 

Radikalisierung im Ersten Weltkrieg

 

Der Erste Weltkrieg überlagerte zunächst die innenpolitischen Fronten, der Burgfriede band alle Parteien in vermeintlich patriotische Pflichten ein.

 

1914 vereinte der Reichstagsabgeordnete Ferdinand Werner beide Antisemitenparteien in der Deutschvölkischen Partei (DVP). Innenpolitisch verlangte diese die Ausweisung der Juden, einen Grenzschluss für osteuropäische Einwanderer und eine rassistische Neuordnung der Gesellschaft. Sie agitierte so stark gegen den Burgfrieden, dass die Behörden viele ihrer Presseorgane zensierten. Außenpolitisch verlangte sie weitreichende Eroberungen, die Deutschland zur Hegemonialmacht Europas machen sollten, und mit anderen rechtsradikalen Parteien einen „Siegfrieden“ als einzig akzeptables Kriegsziel. Seit 1917 zierte ein Hakenkreuz ihr Parteiorgan „Deutschvölkische Blätter“.

 

1916 verstärkten Alldeutscher Verband und DVP ihre antisemitische Hetze: Juden seien Schieber, die sich am Handel mit knappen Lebensmitteln bereicherten, und Drückeberger, die sich häufiger krankmeldeten an der Front als Nichtjuden. Darauf ordnete Kriegsminister Hohenborn für den 1. November 1917 eine Judenzählung im ganzen Heer an. Als diese statistische Erhebung einen hohen Anteil jüdischer Frontsoldaten, darunter zehn Prozent Freiwilliger, ergab, hielt das Ministerium die Ergebnisse bis 1919 geheim. Die Regierung blockierte Beförderungen von Juden in Staatsämtern und ihre Ernennung zu Offizieren und erörterte Pläne zu ihrer „Aussiedlung“.

 

Artur Dinter, Vorläufer der späteren Deutschen Christen, schrieb 1917 den Bestseller Die Sünde wider das Blut. Darin verband er antisemitische Stereotype mit körperlichen Zuschreibungen. Heinrich Pudor rief ab 1917 zu Gewalt gegen Staatsvertreter auf, die für ihn die absehbare Kriegsniederlage und kommende „Judenrepublik“ verkörperten. So gewannen Pogromhetze und Gewalt gegen Juden bald nach dem Kriegsende an Boden.

 

Reaktionen von Juden

 

Juden gehörten im Kaiserreich ebenso wie ihre Gegner meist zum aufstrebenden Bürgertum. Sie erfuhren vor allem in Schule, Universität und Armee alltägliche Diskriminierung und Feindseligkeit, sodass Walther Rathenau resümierte:

 

„In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es den schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn er sich zum ersten mal voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und dass keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“

 

Die antisemitische Propaganda traf besonders viele gebildete Juden unvorbereitet, da sie sich von ihren Traditionen schon weit entfernt hatten. So antwortete der jüdische Historiker Harry Bresslau 1880 apologetisch auf Treitschke, „Juden“ und „Semiten“ seien nicht identisch. Er werde nur die als Juden bezeichnen, deren beide Eltern als Juden geboren seien. Diese Argumentation begünstigte einerseits die vollständige Assimilation von Juden als Deutschen, da immer weniger zwei jüdische Elternteile vorweisen konnten, und andererseits die Gleichsetzung von Juden mit einem eigenen Volkstum bzw. einer angeblichen „semitischen Rasse“, da nur die Abstammung über ihr Judesein entscheiden sollte. Demgemäß definierte der Brockhaus 1895 „Semitismus“ als Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum.

 

Der jüdische Arzt Leo Pinsker bereiste unter dem Eindruck der Pogrome in Russland von 1881 ganz Europa. Er sah in dem Umsichgreifen des Rassenwahns gerade in den „aufgeklärten“ Ländern eine „Judäophobie“, also eine Geisteskrankheit, in der sich gegenseitig verstärkende „Gewissheiten“ eine kollektive mentale Störung anzeigten. Er folgerte in seinem Aufsatz „Autoemanzipation“ 1882 daraus die Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Landes und wurde damit ein Pionier des Zionismus.

 

Diese Haltung lehnten die meisten deutschen Juden jedoch ab und zogen vor, für ihre Integration zu kämpfen. Auf die Ausgrenzung jüdischer Studenten aus den meisten Studentenverbindungen reagierte die Gründung der Viadrina in Breslau 1886 als erster rein jüdischen Studentenverbindung. 1896 entstand der erste Kartellconvent jüdischer Verbindungen (KC). Diese bekannten sich gleichermaßen zu Deutschtum und Judentum und versuchten, ihre Mitglieder durch Sport zu ertüchtigen, um in Duell-Forderungen ihre Ehre gegen Antisemiten zu verteidigen. 1895 gründeten Heinrich Loewe und Max Bodenheimer in Berlin den Verein jüdischer Studenten, der vor allem Mitglieder aus Russland und Polen anwarb. Weitere zionistische Vereine schlossen sich 1914 im Kartell Jüdischer Verbindungen (KJV) zusammen, das „für eine der Vergangenheit des jüdischen Volkstums würdige Erneuerung in Eretz Israel“ eintrat. KC und KJV lehnten einander radikal ab; aber beide riefen ihre Mitglieder zur Teilnahme am Ersten Weltkrieg auf.

 

Viele Juden arbeiteten in nichtreligiösen und nichtnationalistischen Gruppen mit, z.B. dem linksliberalen Verein für Sozialpolitik. Sie hofften, durch Anpassung und Verbergen ihres Judeseins bis hin zur Selbstaufgabe von Nichtjuden akzeptiert zu werden. Sie hatten die rechtliche Gleichstellung nur um den Preis ihres „Nationalbewusstseins“ erhalten und bejahten dies in der Hoffnung, dass der Liberalismus den Antisemitismus allmählich überwinden werde. So gründeten liberale und zum Christentum konvertierte Juden erst 1891 den Verein zur Abwehr des Antisemitismus. 1893 bildeten liberale Bürger in Berlin zudem den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Doch diese Vereine hatten auf die generelle Entwicklung kaum Einfluss und suggerierten ihren Mitgliedern nur, doch irgendwie zur bürgerlichen Gesellschaft zu gehören.

 

Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in Frankreich schrieb Theodor Herzl 1896 sein Buch Der Judenstaat, das den politischen Zionismus begründete. Ein Jahr darauf berief er den ersten Zionistenkongress nach Basel ein. Doch die meisten Juden rangen weiterhin um Anerkennung und Gleichberechtigung im Kaiserreich. Folglich meldeten sich etwa 100.000 Juden auf Drängen ihrer Vereine zum deutschen Militärdienst, 10.000 davon freiwillig zur Front, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Etwa 2000 von ihnen wurden trotz Ablehnung der höheren Ränge in den Offiziersrang befördert und oft für besondere Tapferkeit ausgezeichnet. Sie glaubten, ihre Eisernen Kreuze würden sie vor weiteren Verfolgungen schützen.

 

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten gegründet, seine Zielsetzung war die Abwehr des Antisemitismus und die Unterstützung der jüdischen Veteranen. Diesen wurde die Mitgliedschaft in vielen Wehrverbänden wie z.B. dem Stahlhelm verwehrt.

 

Weimarer Republik

 

1914 begann in Deutschland (nach einer langen Phase mit einer stabilen Währung) eine Inflationsphase („Deutsche Inflation“); sie kam mit einer Währungsreform (November 1923 Rentenmark) zum Stillstand. Von 1914 bis 1918 verlor die Mark mehr als die Hälfte ihrer Kaufkraft. Große Teile der Bevölkerung verarmten; zudem hatten Millionen Familien ihren Hauptverdiener durch Tod oder Invalidität verloren. 1917 und 1918 litten viele Deutsche Hunger; es gab aber auch Kriegsgewinnler und Krisengewinnler, die im Zuge des Krieges und der Inflation wohlhabender wurden (z.B. weil sie Lebensmittel zu Wucherpreisen verkauften). Die sozialen Gegensätze (arm – reich) traten in der Weimarer Republik klarer hervor als zuvor im Deutschen Kaiserreich. Insbesondere Offiziere und Teile des Bürgertums lasteten die Kriegsniederlage, später auch die Auflagen des Versailler Vertrags, „jüdischen“ Protagonisten der Arbeiterbewegung, Sozialdemokraten und Pazifisten an. Viele hatten auch Angst vor sozialem Abstieg oder Prestigeverlust.

 

Freikorpssoldaten und Studenten griffen 1919 bei der (vielerorts blutigen) Niederschlagung der kommunalen Räterepubliken zusätzlich Juden an; Rosa Luxemburg wurde kurz vor ihrer Ermordung (15. Januar 1919 in Berlin) als „Judenhure“ beschimpft und schwer misshandelt. Am 21. Februar 1919 fiel der durch die Novemberrevolution in Bayern an die politische Macht gelangte erste Ministerpräsident der bayerischen Republik Kurt Eisner kurz vor seinem geplanten Rücktritt einem auch antisemitisch motivierten Mordanschlag zum Opfer. Etwa zwei Monate später, kurz nach der Niederschlagung der auf Eisners Tod folgenden Münchner Räterepublik, wurde der anarchistische jüdische Intellektuelle und Pazifist Gustav Landauer, einer der Protagonisten der ersten Phase dieser Räterepublik, am 1. Mai 1919 verhaftet, von wachhabenden Freikorpssoldaten im Zuchthaus Stadelheim misshandelt und am 2. Mai 1919 ermordet.

 

Seit der Republikgründung 1919 konnten Juden erstmals in höchste Staatsämter aufsteigen. Obwohl auch konservative Juden skeptisch gegen die Linksparteien waren, galten sie weithin als Profiteure von Umsturz und Kriegsniederlage. Antisemiten, die bislang auf staatliche Umsetzung ihrer Ziele gehofft hatten, lehnten daher fast immer Revolution und Demokratie zugleich ab, ihre Gegner verteidigten meist beides. Während des Krieges war allzu offene antisemitische Propaganda staatlich zensiert worden, um den „Burgfrieden“ nicht zu gefährden; seit Kriegsende konnten sich die Antisemiten ungehindert neu organisieren und agitieren. Zeitungen wie das Deutsche Wochenblatt und Flugblätter hetzten gegen die Juden. Bei deren Verteilung kam es bis zum Frühjahr 1920 öfter zu Prügeleien auf offener Straße; eingreifende Polizei nahm nicht selten Juden zu ihrem Schutz oder als Anstifter fest.

 

Neu gegründete rechtsradikale Gruppen wie der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund und die Thulegesellschaft propagierten die Dolchstoßlegende. In ihr verbanden sich antisemitische, antisozialistische und antidemokratische Motive so miteinander, dass die gesamte nationale Demütigung – eigene Kriegsschuld, Niederlage, Revolution und Elend der Nachkriegszeit – erneut auf die jüdische Minderheit als deren angebliche Drahtzieher projiziert wurden. Juden und Sozialdemokraten, die fast seit der Reichsgründung als „innere Reichsfeinde“ markiert worden waren, wurden nun auch mit den „Bolschewisten“ identifiziert: Sie seien angeblich dem „im Felde unbesiegten“ Heer heimtückisch in den Rücken gefallen, um Deutschland fremden Mächten auszuliefern und alle kulturellen Werte der Nation zu vernichten. Dabei verwies man auf jüdische Namen unter führenden russischen wie deutschen Revolutionären. Die gefälschten Protokolle der Weisen von Zion – 1920 auf Deutsch veröffentlicht – bestätigten diese Verschwörungstheorie von russischer Seite aus.

 

Der gestürzte Monarch Wilhelm II. steht seinem Biographen John Röhl zufolge exemplarisch für die Entwicklung großer Teile der bürgerlichen und militärischen Eliten der Kaiserzeit von einem gewöhnlichen zu einem eliminatorischen Antisemitismus in der Weimarer Zeit. So schrieb Wilhelm im August 1919 in einem Brief aus dem niederländischen Exil an Generalfeldmarschall August von Mackensen:

 

„Die tiefste und gemeinste Schande, die je ein Volk in der Geschichte fertiggebracht, die Deutschen haben sie verübt an sich selbst. Angehetzt und verführt durch den ihnen verhassten Stamm Juda, der Gastrecht bei ihnen genoss. Das war sein Dank! Kein Deutscher darf das je vergessen noch ruhen, bis diese Parasiten von deutschem Boden vertilgt und ausgerottet sind! Dieser Giftpilz an der deutschen Eiche.“

 

An anderer Stelle verknüpfte er deutsche Juden, ausländische Kriegsgegner und zivile Politiker der „Heimatfront“:

 

„Während unter Mir, meinen Generalen und Offizieren das tapfere Frontheer die Siege erfocht, verlor das Volk zuhause, von Juda und Entente belogen, bestochen, verhetzt, mit seinen unfähigen Staatsmännern den Krieg.“

 

1927 fragte er bei Fritz Haber, dem Erfinder des Giftgases, an, ob es möglich sei, ganze Großstädte zu vergasen. Im selben Monat bezeichnete er die Presse, Juden und Mücken als „Pest“, von der sich die Menschheit „auf die eine oder andere Weise“ befreien müsse. Er notierte handschriftlich dazu: Ich glaube, das beste wäre Gas. 1940 behauptete er, Juden und Freimaurer hätten 1914 und 1939 Vernichtungskriege gegen Deutschland vom Zaun gebrochen, um ein von britischem und amerikanischem Gold gestütztes „jüdisches Weltreich“ zu errichten.

 

Antisemitisch eingestellte Studenten und Akademiker und ehemalige DVP-Mitglieder fanden ihre neue politische Heimat nun in einer der rechtsextremen und bürgerlich-konservativen Parteien, vor allem in der DNVP. Diese startete 1919 eine Kampagne gegen sogenannte Ostjuden: Etwa 34.000 meist polnische Juden waren im Krieg als Rüstungsarbeiter angeworben und interniert worden; danach flohen zudem etwa 107.000 in Osteuropa verfolgte und verarmte Juden nach Deutschland. Etwa ein Viertel davon lebte vorübergehend oder dauerhaft in Berlin Mitte. Bis 1921 waren ca. 40 Prozent weitergewandert. Die DNVP verlangte einen Zuzugsstopp und ihre Ausweisung, um so die Meinungsführerschaft gegenüber den „Radauantisemiten“ wiederzugewinnen. In Bayern wurden osteuropäische Juden nach dem Kapp-Putsch 1920 von den Behörden gezielt schikaniert und zum Teil in Abschiebelagern interniert.

 

1921 schloss die DNVP Juden und Menschen mit einem jüdischen Elternteil aus der Partei aus. Die Deutsche Burschenschaft beschloss 1921 den Ausschluss jüdischer Mitglieder. Mit der Propagierung der „nationalen Revolution“ begünstigten viele Studentenverbindungen den Aufstieg des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB). Mit diesem Schlagwort fanden Konservative, bürgerliche Monarchisten, Befürworter autoritärer Staatsmodelle und des Volkstums einen gemeinsamen ideologischen Nenner. Diese Ablehnung der oft als „Judenrepublik“ verachteten Demokratie im reaktionären Bürgertum gilt als ein wichtiger Faktor, der den Siegeszug des Nationalsozialismus mit ermöglichte.

 

Nach einer von einigen Medien unterstützten Hetzkampagne ermordeten rechtsextreme paramilitärische Geheimbünde wie die Organisation Consul Symbolfiguren ihres Judenhasses, darunter im Juni 1922 Außenminister Walther Rathenau. Dadurch nahmen republiktreue Medien, Parteien und Interessenverbände den Antisemitismus nun als Angriff auf die Verfassung wahr. Dem Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gelang es zeitweise, mit einer Kampagne die enorme Zunahme antisemitischer Friedhofsschändungen (etwa 200 registrierte Fälle 1923–1932) bewusst zu machen und zu verringern.

 

Im Herbst 1923 – die Inflation galoppierte; der Staat druckte Geld, um den Generalstreik während des Ruhrkampfes zu bezahlen – griffen aufgehetzte Jugendliche und Arbeitslose Juden im Scheunenviertel (Berlin) an, drangen in ihre Geschäfte und Wohnungen ein, misshandelten Bewohner und raubten sie aus. Rechtsradikale hatten zuvor behauptet, „Galizier“ hätten das wertbeständige Notgeld aufgekauft, das die Stadtverwaltung für die Erwerbslosen ausgegeben hatte.

 

Beim Hitler-Ludendorff-Putsch am 9. November 1923 in München nahm der aus dem Freikorps Oberland hervorgegangene Bund Oberland wahllos „jüdisch aussehende“ Bürger als „Geiseln“, um politische Änderungen zu erpressen. Nun war rechtsradikale Straßengewalt, u.a. von SA-Banden, gegen Juden und politische Gegner alltäglich. Sie wurde von Polizei und Justiz kaum verfolgt. Der jüdische Rechtsanwalt Ludwig Foerder dokumentierte 1924 in Schlesien mit einer Skandalchronik, wie stark Staatsbehörden antisemitische Straftaten duldeten oder durch Gesinnungsurteile mittrugen.

 

Konservative Akademiker wie Wilhelm Stapel (1882-1954) oder Edgar Julius Jung (1894-1934) erneuerten die Volkstumsideologie des 19. Jahrhunderts. Stapel erklärte 1927 das deutsche und das jüdische Kollektiv für unvereinbar und forderte, den Zionismus zu unterstützen, um Juden zur Auswanderung zu drängen. Jung forderte eine Rückkehr zur Ständegesellschaft und gesetzliche „Dissimilation“ der Juden.

 

Auch in linksgerichteten Gruppen und Parteien gab es Antisemitismus, zum Teil als konsequenter Antikapitalismus ausgegeben und gerechtfertigt. So forderte das Vorstandsmitglied der KPD Ruth Fischer 1923:

 

„Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie!“

 

Eine Hetzkampagne der Nationalsozialisten gegen den jüdischen Polizeivizepräsidenten von Berlin Bernhard Weiß als Isidor folgte Verunglimpfungen in der Zeitschrift Roter Aufbau. Clara Zetkin warnte deshalb 1924 in einem Brief aus Moskau an den 9. Parteitag der KPD:

 

„Die linke Parteimehrheit vereinigt brüderlich reichlichst KAPisten, Syndikalisten, Antiparlamentarier, bei Lichte besehen – horribile dictu – sogar Reformisten und neuerdings – faschistische Antisemiten.“

 

Trotz all dieser Ereignisse blieb der Antisemitismus bis mindestens 1929 nur eine Randerscheinung. Die offen antisemitisch auftretende NSDAP verschreckte das Bürgertum und erreichte bei der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 nur 2,6 Prozent der Stimmen. Mit dem Einsetzen des Straßenterrors der SA wurden gewalttätige Übergriffe häufiger. Am 13. Oktober 1930 nach der Reichstagswahl 1930 wurden dem Berliner Kaufhaus Wertheim die Scheiben eingeworfen, am 12. September 1931 leiteten etwa 500 SA-Angehörige den ersten Kurfürstendamm-Krawall als „Säuberungsaktion“ eines „verjudeten“ Straßenzugs ein. Dabei wurde ohne Waffengebrauch geprügelt. 33 ermittelte Beteiligte wurden zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt; dem Initiator Wolf-Heinrich von Helldorff wurde eine geringe Geldbuße auferlegt.

 

Nationalsozialismus

 

Adolf Hitler hörte seit 1908 Reden und las Schriften von Wiener Antisemiten wie Jörg Lanz von Liebenfels, dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger und dem österreichischen Führer der „Alldeutschen“ Georg von Schönerer. Er trat aber erst ab Juli 1919 in Bayern mit antisemitischer Agitation hervor. In einem von seinen militärischen Vorgesetzten angeforderten „Gutachten zur Judenfrage“ vom 16. September 1919 beschrieb er erstmals seinen eliminatorischen „Antisemitismus der Vernunft“:

 

„Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.“

 

Die 1920 gegründete NSDAP entwickelte sich zunächst in Bayern zum Sammelbecken für radikale Antisemiten. Am 24. Februar 1920 verkündete Hitler in München ihr 25-Punkte-Programm. Es forderte, Juden von der deutschen Staatsbürgerschaft und damit aus allen öffentlichen Ämtern auszuschließen und sie besonderen „Fremdengesetzen“ zu unterwerfen. Bei Versorgungsknappheit sollten die „Angehörigen fremder Nationen (Nicht-Staatsbürger)“ ausgewiesen werden. Ein Einwanderungsstop und die Ausweisung aller seit dem 2. August 1914 eingewanderten „Nicht-Deutschen“ sei zu verfügen, zu denen man die Juden in Deutschland zählte.

 

Bis 1923 erlangte Hitler vor allem mit antisemitischer Rhetorik die Führung der NSDAP. In seiner Programmschrift Mein Kampf (1925/26) behauptete er, er sei schon in seiner Schulzeit „instinktiv“ Antisemit gewesen. Er gab Rache an den „Novemberverbrechern“ als Motiv für seine Hinwendung zur Politik an, bekannte sich zum eliminatorischen Rasse-Antisemitismus und kündigte an, die „Entfernung“ aller Juden politisch und militärisch durchzusetzen. Er sah darin eine unausweichliche Befreiung der Menschheit vom angeblichen Weltjudentum, auf dessen Verschwörung gegen die „arische Herrenrasse“ er – wie die ihm bekannten „Protokolle der Weisen von Zion“ – den angloamerikanischen Kapitalismus und den russischen Bolschewismus gleichermaßen zurückführte. Analog zu seinen Fronterfahrungen mit C-Waffen hielt er Massenmorde an Juden mit Giftgas für eine legitime Methode, um die fiktive „Reinrassigkeit“ der Deutschen zu wahren. Wesentliche Elemente dieser Ideologie stammten vom Zeitungsherausgeber Dietrich Eckart und vom „nationalen Sozialisten“ Gottfried Feder.

 

Bei der Reichstagswahl 1928 erhielt die NSDAP nur 2,6 Prozent der Stimmen, auch weil ihre antisemitische Propaganda bürgerliche Wählerschichten abstieß. Daraufhin ordnete die Parteiführung intern an, bei der Propaganda künftig auf judenfeindliche Ausfälle zu verzichten. Sie konzentrierte sich 1929 bis 1933 vor allem auf Themen wie die Reparationen, den Young-Plan, die Weltwirtschaftskrise und vertrat eine diffuse Volksgemeinschaftsideologie. Dennoch kam es auch in diesen Aufstiegsjahren wiederholt zu antisemitischen Gewalttaten, vor allem durch die SA.

 

Sofort nach ihrer „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 begannen die Nationalsozialisten, alle Juden aus der deutschen Gesellschaft zu verdrängen. Hitler hatte dafür in den Parteiideologen Julius Streicher (Herausgeber des Stürmers), Alfred Rosenberg (Redakteur des Völkischen Beobachters) und Joseph Goebbels sowie in der von Heinrich Himmler aufgebauten SS fanatische und ergebene Mitstreiter. In der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) wurden etwa 2000 antijüdische Gesetze und ergänzende Verordnungen erlassen. Eines der ersten Gesetze war das am 21. April 1933 erlassene und am 1. Mai 1933 in Kraft getretene Gesetz über das Schlachten von Tieren, mit dem das Schlachten von Tieren ohne Betäubung, also vorrangig das Schächten, verboten wurde. Es folgte am 1. Dezember 1933 das Reichstierschutzgesetz, unter anderem mit weitgehenden Bestimmungen zur Beschränkung von Tierversuchen. Damit konnten die Nationalsozialisten deutsche Juden, die im Pelzhandel, der Ärzteschaft und Biologie eine wichtige Rolle spielten, diskriminieren und weitverbreitete Ressentiments bedienen. Um die Diffamierungen wirksam zu verinnerlichen, bediente man sich häufig der „sexuellen Denunziation“, indem man den Juden alle nur erdenklichen Formen der sexuellen Devianz – von der Kinderschändung bis zur Sodomie (Geschlechtsverkehr mit Tieren) – unterstellte.

In historisch beispielloser Schärfe und Konsequenz führten die Maßnahmen des NS-Regimes über den Judenboykott, Berufsverbote, Auswanderungsdruck, die Nürnberger Gesetze, die „Reichskristallnacht“, „Arisierung“ und Ghettoisierung bis zum als „Endlösung“ getarnten Holocaust. Im Januar 1939 kündigte Hitler die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ im Falle eines Weltkriegs an. Mit dem „Russlandfeldzug“ begann ab Juni 1941 die organisierte Massenvernichtung der Juden. Sie forderte um die sechs Millionen Opfer.

 

Die Nationalsozialisten wandten sich in einem Dekret vom Mai 1943 vom Begriff „Antisemitismus“ ab, um die neuen arabischen Verbündeten nicht „mit den Juden in einen Topf“ zu werfen. Der Judenmord wurde nach dem Kriegseintritt der USA und der verlorenen Schlacht von Stalingrad noch intensiviert und zum Teil vorrangig gegenüber der Kriegführung behandelt. Die vieldiskutierte Besonderheit des deutschen Rasse-Antisemitismus findet etwa Werner Bergmann daher in seiner praktischen Durchsetzung:

 

„Der A. der NSDAP unterschied sich vom primär literarischen des Kaiserreichs durch seine Umsetzung in eine terroristische Politik. Ihr verbal aggressiver A. war nicht Handlungsersatz, sondern Wegbereiter der Tat. Auch wenn es keinen konkreten Aktionsplan gab, so lag doch der Völkermord in der Logik des rassistischen A., denn zu seinen Wesenselementen gehörte die Weigerung, eine Regelung für eine dauerhafte deutsch-jüdische Koexistenz zu finden, da er nicht auf einen Zustand der Apartheid, sondern auf eine völlige „Entfernung“ der Juden zielte.“

 

Daher steht das deutsche NS-Regime für die unerreicht mörderische Umsetzung einer von Beginn an menschenverachtender Ideologie.

 

Österreich

 

Emanzipation und Aufstieg bis 1815

 

Mit den Toleranzpatenten Josephs II. begann die Emanzipation auch für die traditionell ghettoisierten, damals etwa 1,5 Millionen Juden der Habsburger Monarchie. 1782 wurden sie in Wien und Niederösterreich zu allen Schulen und Hochschulen zugelassen und erhielten weitgehende Gewerbefreiheit. Sie sollten Zugang zu handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufen erhalten, um so ihren Nutzen für den Staat zu erhöhen. Einwanderung blieb ihnen aber ebenso verboten wie der Erwerb von Haus- und Grundbesitz und die Einfuhr jüdischer Schriften. Seit 1787 mussten sie deutsche, oft zudem diskriminierende Namen annehmen: z.B. Burda – „Fraß“ – oder Blumentritt – „der, der unschuldige, minderjährige Mädchen verführt“. 1788 mussten sie auch Militärdienste leisten.

 

Zahlreiche Sondergesetze schränkten diese Gleichstellungsansätze wieder ein. Jüdische Ausländer mussten z.B. täglich 30 Kreuzer zahlen und ihre Aufenthaltsberechtigung alle 14 Tage erneuern. Jüdische Hebammen durften nur im Notfall Christinnen entbinden. Die Hofkanzlei ignorierte 1815 eine Bittschrift der Wiener Juden, die Toleranz gesetzlich zu verankern.

 

Für monarchistische Beamte wie Friedrich von Gentz, den Berater Fürst Metternichs, waren Juden „geborene Repräsentanten des Atheismus, Jakobinismus, der Aufklärerei“. Das hinderte ihn nicht, beim Wiener Kongress im Salon von Fanny von Arnstein (geb. Itzig) zu verkehren. Diese versuchte, die Salonkontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Stände und Bekenntnisse für Beachtung der Probleme ihrer Glaubensgenossen zu nutzen.

 

Doch die christlichen Gilden und Zünfte wehrten die aufkommende jüdische Konkurrenz weiterhin nach Kräften ab. Juden blieben vor allem auf dem Land weitgehend auf den Handel angewiesen und gelangten nur langsam in andere Berufszweige. Der Fernhandel, die relativ krisensichere Belieferung der Armee mit Uniformen, auch die Pachtung der Tabakregie erwiesen sich als Ausgangspunkte zum Aufbau jüdischer Manufakturen und Fabriken mit Hilfe von Handelskapital.

 

Nachdem die Einfuhr von Rohbaumwolle freigegeben worden war, konnten Juden in Böhmen die rasch wachsende Baumwollindustrie zu ihrer Domäne machen und bis dahin die Stoffbranche dominierenden Leinen- und Woll-Gewerke verdrängen. Die Schneiderzünfte in Mähren konnten trotz heftiger Proteste nicht verhindern, dass kapitalkräftige jüdische Großhändler aus dem traditionell von Juden betriebenen Ausbessern und Umarbeiten von Kleidern und Uniformen eine Konfektionsindustrie entwickelten. Diese gab nun ihrerseits vielen jüdischen Vertrieben in Städten und Dörfern Arbeit. Jüdische Bankhäuser expandierten auch in andere damalige Wachstumsbranchen; so finanzierte Salomon Rothschild in Wien den Bau der Eisenbahnstrecke nach Galizien, der 14.000 Arbeiter beschäftigte.

 

Die bürgerliche Gleichstellung der Juden begünstigte ihren städtischen Aufstieg stärker als auf dem Land, sodass sich der Zuzug von Juden in die Städte verstärkte. In Prag z. B. lebten 1848 11 700 Juden, 40 Prozent der Juden Böhmens. Damit wohnten dort die meisten Juden im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung in allen deutschsprachigen Großstädten. In Mähren durften Juden sich bis 1848 nicht in Dörfern ansiedeln; Brünn (heute Brno)entwickelte sich für sie zum Anziehungspunkt. Sie verteidigten ihre vergleichsweise gesicherte Lage zusammen mit den Stadträten auch gegen weiteren Zuzug von verarmten mittellosen Juden aus Galizien.

 

In Wien lebten um 1800 erst 500 bis 600 Juden unter insgesamt 200.000 Bürgern. Nur einzelne privilegierte Familien wurden hier geduldet. 1848 waren es hier 4000 Juden (0,8 Prozent); die erste jüdische Gemeinde konstituierte sich.

 

Restauration nach 1815

 

Nach den Freiheitskriegen gegen Napoleon machte die 1815 begründete Heilige Allianz das Christentum zur Grundlage ihrer Politik und vertrat erneut das Gottesgnadentum der Fürsten. In der folgenden Restaurationsphase lehnten viele Gebildete die begonnene Judenemanzipation ab. So forderte der Gesellschaftstheoretiker Adam Heinrich Müller, Mitglied der Christlich-deutschen Tischgesellschaft, 1823 in einem Gutachten ein Heiratsverbot zwischen Juden und Christen und die Rücknahme erreichter Gleichstellung. Er führte die Umbrüche der Frühindustrialisierung auf jüdische Wirtschaftstätigkeit zurück und setzte Judentum und Kapitalismus gleich. Dagegen vertrat er das Ideal der vorindustriellen Ständegesellschaft.

 

Die städtischen jüdischen Gemeinden reagierten darauf mit verstärkten Anpassungs- und Reformbemühungen. Der traditionell aschkenasische Gottesdienst, der in weiten Teilen auch eine profane Gemeindeversammlung gewesen war, wurde zuerst in Wien dem christlichen Gottesdienst angeglichen. Der „Wiener Ritus“ sah anstelle der in Jiddisch gehaltenen Predigten strenge Anstandsregeln und ein hohes musikalisches Niveau des Chasan (Kantor) vor. Die deutschsprachigen Laienprediger stellten den Vorrang der Hebräisch sprechenden Rabbiner in Frage. Von Wien aus verbreitete sich der Wiener Ritus nach Böhmen und Galizien.

 

Einige Juden konvertierten nun zum Christentum. Einer der prominentesten Konvertiten war Johann Emanuel Veith. Er wurde 1831 am Wiener Stephansdom Hofprediger, blieb aber seiner jüdischen Gemeinde verbunden. Als die Damaskusaffäre die Ritualmordlegende auch in Europa wiederbelebte, schwor er von der Kanzel herab, dass diese Vorwürfe falsch seien. Mit anderen Judenchristen gründete er im Mai 1848 den Wiener Katholikenverein für mehr Freiheit für Judenchristen in der Kirche und gegenüber dem Staat. Auch Paulus Stephanus Cassel wurde evangelischer Prediger und angesehener Historiker der Jüdischen Geschichte. Er nahm die Juden später gegen Treitschkes und Stöckers Angriffe in Schutz. Erst mit zunehmender Akzeptanz der Juden um die Jahrhundertmitte nahmen die Konversionen ab.

 

Nach der Revolution von 1848

 

In der Märzrevolution engagierten sich Akademiker, darunter viele gebildete Juden, meist für den Liberalismus. Viele Juden kämpften mit den Christen auf den Barrikaden. Im Revolutionsjahr war es noch möglich, dass der jüdische Prediger Isaak Mannheimer und der Kantor Salomon Sulzer zusammen mit katholischen und protestantischen Geistlichen an einem Gemeinschaftsgrab auf dem Schmelzer Friedhof standen, um die Gefallenen der Märztage zu ehren. Es war aber nur eine kurze Zeit, bald nahmen die Spannungen zu. In Wiens Armenvierteln wurde der Ruf laut: Schlagt die Juden tot!, begleitet von einzelnen Gewalttaten. Trotzdem brachte die Pillersdorfsche Verfassung den Juden endlich die ersehnten vollen Bürgerrechte und Religionsfreiheit in Österreich. Dies nahm die Restauration zum Teil wieder zurück: 1851 mussten jüdische Beamte ihre Staatstreue beeiden, 1853 wurde Juden Grunderwerb erneut verboten, 1855 auch das Notariat und Lehrerberufe.

 

Eigene Zeitungen blieben ihnen erlaubt, sodass sie im Verlagswesen häufiger führende Positionen errangen. Daraufhin entstand eine antisemitische katholische Gegenpresse, die nun dauerhaft gegen das „demokratische Judengesindel“ hetzte und es mit Liberalismus, Kapitalismus und Kommunismus gleichsetzte. Führend darin war der Artillerieoffizier Quirin Endlich, der „Judenfresser von Wien“. Auch Eduard von Tellering, Journalist für die „Neue Rheinische Zeitung“ von Karl Marx, griff Juden in seiner Schrift Freiheit und Juden als „Wucherer“ (Vertreter des Kapitals) und „Freigeister“ (Vertreter der Demokratie) an, griff aber auch auf die alte Ritualmordlegende zurück.

 

Flugblätter behaupteten schon 1848, Juden hätten aus Christensärgen Barrikaden gebaut und auf offener Straße Christenkinder geschlachtet, die Guillotine verlangt und Kreuze verhöhnt. Weiter hieß es:

 

„Wenn das Christusvolk kein Christentum und kein Geld mehr hat…, dann ihr Juden, lasst Euch eiserne Schädel machen, mit den beinernen werdet ihr die Geschichte nicht überleben.“

 

Der Herausgeber der 1848 gegründeten „Wiener Kirchenzeitung“, Kaplan Sebastian Brunner, dichtete gegen aufgeklärte Philosophen in seinem bekannten Nebeljungenlied:

 

„Wir haben keinen Judengott mehr,

Und hassen den Gott der Christen,

Wir sind die keckste Rotte der Welt,

Wir jüdischen Pantheisten.“

 

Er versuchte, den „historischen Nachweis der Ritualmordlegende“ zu führen, erneuerte auch das Klischee vom Gottesmord, aufgrund dessen das Judentum verflucht sei, und folgerte:

 

„Solange die Juden Juden bleiben, nicht bloß der Abstammung, sondern auch dem Glauben nach, ist ihre Emanzipation überhaupt unmöglich ….Diese werde die Gesellschaft entchristlichen, so dass dann das Judentum herrsche. Dies werde Volkes Stimme nicht hinnehmen.“

 

Der folgende öffentliche Disput mit Ignaz Kurandas Ostdeutscher Post erregte internationales Aufsehen. Brunner unterlag vor Gericht in mehreren Zensur- und Beleidigungsklagen, was seinen Judenhass noch verschärfte. 1886 verfasste er ein Wanzen-Epos, in dem er Juden als „Ungeziefer“ und „Parasiten“, Antisemitismus als „Wanzenpulver“ bezeichnete. Er hetzte auch gegen Heinrich Heine und Ludwig Börne.

 

Österreich-Ungarische Monarchie

 

1867 wurde im Österreichisch-Ungarischen Ausgleich die Emanzipation der Juden im Habsburgerreich vollendet. Durch die Dezemberverfassung wurde den Juden erstmals in ihrer Geschichte in ganz Österreich der ungehinderte Aufenthalt und die Religionsausübung gestattet. 40.000 Juden bildeten bereits 6,6% der Einwohnerzahl Wiens und hatten damit die alten jüdischen Bevölkerungszentren der Habsburger wie Prag, Krakau und Lemberg überflügelt. 1858 wurde eine Synagoge in Wien gebaut, die zu den imposantesten in Europa gehörte. Die meisten Einwanderer Wiens waren aus der ungarischen Reichshälfte gekommen, gefolgt von Böhmen und Mähren. Auch galizische Juden waren gekommen, getrieben von Überbevölkerung, Hungersnöten und Choleraepidemien. Als die polnische Nationalisierungskampagne sie in den 1870er Jahren zunehmend aus dem Wirtschaftsleben verdrängte, flohen sie in Massen. Die Urbanisierung konzentrierte die vordem kleinstädtische und dörfliche Judenheit in den Großstädten.

 

Ab 1875 entstand auch in Österreich wie im Deutschen Kaiserreich eine „christlich-soziale“ bzw. „völkische“ Bewegung: Hauptvertreter war der Konvertit Karl von Vogelsang, Redakteur der Wiener konservativen Zeitung Vaterland. Er sah das Land „mit Juden überschwemmt“,

 

„… weil der liberale Umschwung, mit dem man uns beglückt, durch und durch von jüdischem Geiste durchdrungen ist…uns selbst hat der Judengeist angesteckt, in unseren Institutionen ist er incarniert, unsere ganze Lebensanschauung, unser Handel und Wandel ist davon durchzogen …“

 

„Mit Sondergesetzen gegen Juden sei nichts gewonnen. Die Gesellschaft müsse sich wieder dem Christentum und der Ständegesellschaft zuwenden, dann werde sie die Juden „absorbieren“ und so die „Judenüberfluthung“ beenden.“

 

Er distanzierte sich 1881 von plumper „Judenhetze“, wie sie damals im Berliner Antisemitismusstreit hervortrat. Aber auch er griff die „goldene Internationale“ des „Finanzjudentums“ an und polemisierte gegen die angebliche Weltherrschaft des Hauses Rothschild, gegen arme „Hausierjuden“ und russische „schachernde und wuchernde Talmudjuden“. Wie Vogelsang sahen Prinz Aloys von Liechtenstein und der Moraltheologe Franz Martin Schindler Antisemitismus als natürliche Reaktion auf den Kapitalismus dort, wo Juden angeblich sozial privilegiert seien.

 

Offen rassistisch hetzte seit 1877 das Monatsblatt Österreichischer Volksfreund unter Carl von Zerboni: Talmudjuden wollten die regierende Race des Erdballs werden (Nr. 1), Gegenwehr gegen die Verjudung sei nötig (Nr. 5). Ab Nr. 9 stand über jeder Ausgabe in Großbuchstaben: Kauft nur bei Christen! Ab 1882 wurde das Blatt Presseorgan der aus verschiedenen antisemitischen Handwerkervereinen hervorgegangenen „Österreichischen Reformpartei“ unter dem Rechtsanwalt Robert Pattai. Er sah „Manchesterliberalismus“ und Judenemanzipation als identische Vorgänge und strebte dagegen einen „gesunden Staatssozialismus“ an:

 

„Sollte es aber nicht gelingen, der Judenfrage durch diese notwendigen Reformen die Wurzel abzuschneiden und das natürliche Gleichgewicht wiederherzustellen, dann müssten eben die vielbegehrten Ausnahmegesetze gegen das Judentum notwendig werden.“

 

Dies unterstützte Ludwig Psenner, seit 1884 neuer Herausgeber des „Volksfreunds“, den er bis 1897 führte. Er suchte wie Vogelsang in der Rückbesinnung auf „christliche Werte“ das Heilmittel gegen die „Verjudung“ der Kultur und Gesellschaft. Doch 1886 zerbrach die Reformpartei daran, dass ein radikaler Flügel unter Georg Ritter von Schönerer den großdeutschen „Pangermanismus“ zum Programm erheben wollte.

 

Daraufhin gründeten Psenner, Ernst Schneider und Adam Latschka einen Verein, aus dem 1887 die „Christlich-Soziale Partei“ (CSP) hervorging. Bei der Gründungsversammlung übertrafen sich die Redner, u.a. der Ungar Franz Komlossy und der Wiener Reichstagsabgeordnete Karl Lueger, gegenseitig in antisemitischen Hetzreden, die etwa 1000 Anwesende mit stürmischem Beifall bedachten.

 

Für Regionalwahlen bildete die CSP sofort eine antiliberale Koalition mit deutschnationalen und antisemitischen Gruppen, die „Vereinigten Christen“. Der Antisemitismus war das Bindeglied, auf das alle Beteiligten sich einigen konnten. Das Programm forderte einen Einwanderungsstopp für Juden, ihren Ausschluss aus Staatsdienst, Justiz- und Arztberufen, Einzelhandel und gemeinsamem Schulunterricht mit Nichtjuden. Im Deutschen Volksblatt wurde das Ziel umrissen:

 

„Radical antisemitisch, streng national und entschieden christlich-social rühren wir alle Tage die Werbetrommel für die große Armee der Judenfeinde…, um deren Vereinigung in einer einzigen großen Volkspartei zu erreichen.“

 

1888 bei einer Kundgebung für Papst Leo XIII. errang Karl Lueger die Führungsrolle. Er forderte 1890 im Reichstag, die „Hauptursachen des christlichen Antisemitismus“ zu beseitigen:

 

  • die „judenliberale Presse“,
  • das „erdrückende Großkapital“, das in jüdischer Hand sei,
  • die „Unterdrückung der Christen durch die Juden“;
  • das „Martyrium der Deutschen“ unter den jüdischen „Raubtieren in Menschengestalt“.

 

So fand auch sein Parteifreund Ernst Schneider 1893, Österreich leide an einem contagiösen Geschwür, an dem die Völker und der österreichische Staat leider zugrunde gehen werden, wenn dieses Geschwür nicht beseitigt wird…: Es sind die Juden. Er forderte später in Niederösterreich als Ergänzung für ein Gesetz über die Tötung von Greifvögeln analoge Prämien für die Erschießung von Juden.

 

Die Einigung der Antisemiten misslang erneut: Die konservativen Katholiken wollten eher die Habsburger Monarchie retten, während die deutschnationalen „Demokraten“ ein antiklerikales großdeutsches Reich anstrebten. Dabei behauptete sich der „gemäßigte“ christlich-soziale Flügel: Schindler verfasste 1895 das Parteiprogramm der CSP, das die Ausbeutung angriff, „sie komme woher sie immer wolle“. Rassistischer Judenhass wurde abgelehnt; man wolle nicht das Judentum als Religion, aber den „Talmudismus“ und die mit dem Liberalismus gleichgesetzten „Reformjuden“ bekämpfen.

 

Der Papst segnete dies mit der Auflage ab, antisemitische Ausfälle zu unterlassen. Daraufhin musste Kaiser Franz Joseph Karl Lueger 1897 schließlich als Bürgermeister von Wien bestätigen. Mit Lueger war keine eindeutige Abgrenzung der CSP vom Rassen-Antisemitismus möglich.

 

Dies galt aber auch für Theologen wie August Rohling, dessen in 17 Auflagen verbreitetes Pamphlet Der Talmudjude (1871) den Antisemiten jahrzehntelang religiöse Argumente lieferte. Er wollte mit teilweise gefälschten Auszügen beweisen, dass der Talmud erlaube,

 

„…alle Nichtjuden auf jede Weise auszubeuten, sie physisch und moralisch zu vernichten, Leben, Ehre und Eigenthum derselben zu verderben, offen und mit Gewalt, heimlich und meuchlings; – das darf, ja soll, wenn er kann, der Jude von Religions wegen befolgen, damit er sein Volk zur irdischen Weltherrschaft bringe.“

 

Darauf beriefen sich Antisemiten in politischen Versammlungen, u.a. der Wiener Handwerker Franz Holubek 1882:

 

„Wisst Ihr, was in diesem Buch steht? Die Wahrheit! Und wisst Ihr, wie Ihr in diesem Buch bezeichnet seid? Als eine Horde von Schweinen, Hunden und Eseln!“

 

Dies löste Tumulte aus. Holubek wurde wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt, doch freigesprochen, nachdem sein Verteidiger Robert Pattai vor Gericht aus Rohlings Buch zitierte. Als Rohling als Prozessgutachter zudem den Ritualmord als für Juden „außerordentlich heilige Handlung“ darstellte, warf ihm der junge Rabbiner und Reichsratsabgeordnete Joseph Samuel Bloch öffentlich Bereitschaft zum Meineid vor. Rohling zeigte ihn an; um das Verfahren zu ermöglichen, hob der Reichsrat Blochs Immunität auf. Sein Verteidiger, Josef Kopp, erreichte in zähen Verhandlungen die Zulassung von zwei ausländischen Gutachten zum Talmud. Darauf zog Rohling seine Klage vor Beginn der Hauptverhandlung zurück. Er musste die Prozesskosten tragen und verlor seine Professur für Bibelstudium.

 

Gleichwohl blieben seine Thesen und die Ritualmordlegende unter Österreichs Katholiken lebendig. Der Pfarrer Joseph Deckert verglich 1893 in einem Predigtzyklus Türkennot und Judenherrschaft und verteilte gratis Broschüren, die den Ritualmord an Simon von Trient anhand von „Akten“ des Jahres 1475 zu beweisen angaben. Er beauftragte den Konvertiten Paulus Mayer für ein Monatsgehalt von 100 Gulden, ihm eine Schrift zu liefern, die den Ritualmord nach kabbalistischen und talmudischen Lehren „belegen“ sollte. Nach einer Vorabveröffentlichung zeigte Bloch Deckert, Mayer und den Herausgeber des Vaterlands an: Im Prozess wurden alle drei zu Haft bzw. Geldbußen verurteilt.

 

Dies hinderte Deckert nicht, seine Hetze mit antisemitischen Konferenzreden und Schmähschriften (1894–98) fortzusetzen. Darin hieß es z.B.:

 

„Darum, die Augen auf, mein christliches Volk, erkenne den ältesten und gefährlichsten Feind Deiner Religion; …wehre Dich Deines Glaubens; Du wirst dadurch auch Deine irdische Wohlfahrt sichern. Amen.“

 

Deckert wurde 1896 vom Wiener Ordinariat verwarnt und erklärte daraufhin, Bloch habe ihn „in den Antisemitismus hineingehetzt“. Doch er hatte sich schon 1895 mit Karl Lueger solidarisiert:

 

„Nicht gegen die Religion der Juden ist der Antisemitismus gerichtet, obwohl der Talmud die Grundlage und das Grundübel des Judentums bildet…sondern gegen die Rasse, insofern sie sich allen Nichtjuden, besonders aber den christlichen Ariern feindlich erwiesen hat und noch erweist. Darum hat der Rassenantisemitismus Berechtigung…“

 

Ebenso schürte der Priester Albert Wiesinger (1830-1896) als Chefredakteur der Wiener Kirchenzeitung (ab 1861) in der Rubrik „Ghetto-Geschichten“ Ressentiments. Auch bei ihm fand sich das gesamte antijüdische Repertoire von angeblichen Beleidigungen von Juden gegenüber Kirchenmännern über vermeintlichen Wucher bis hin zu Vorwürfen des Ritualmords und der Hostienschändung.

 

Als Bürgermeister Wiens war Lueger allzu radikale Hetze unangenehm. Antisemitismus sei ein sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen, wenn man aber einmal oben ist, kann man ihn nicht mehr brauchen, denn das ist ein Pöbelsport! Diesen trieb er vor 1914 vor allem gegen die „rote Judenschutztruppe“ der aufstrebenden Sozialdemokratie weiter.

 

1918–1933

 

Nach 1918 verschärfte die Christlich-Soziale Partei ihren Kurs gegen die Republik und den Zuzug von polnischen Juden aus Galizien. Einzelfälle von Schiebern und Spekulanten führten im Oktober 1919 zu einer „Massenkundgebung christlicher Wiener“, bei denen Landtagsabgeordnete die Ausweisung aller Juden aus Österreich verlangten. Das neue Parteiprogramm forderte 1926 die Pflege deutscher Art und die Bekämpfung der Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiet. Parteichef Ignaz Seipel erklärte, dies sei kein Kurswechsel, sondern immer Tradition der Partei gewesen.

 

Der Publizist Joseph Eberle gab seit 1918 für die katholische Intelligenz die Zeitschrift Das Neue Reich heraus, die in der „Judenfrage“ explizit auf mittelalterliche Lösungen setzte. Ihm „roch“ die parlamentarische Demokratie „zu sehr nach polnischen Ghettos“.

 

Er schlug eine von Richard Kralik verfasste „Volkshymne“ mit dem Text vor:

 

„Gott erhalte, Gott beschütze vor den Juden unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze, Christen, haltet festen Stand! Lasst uns unser Väter Erbe schirmen vor dem ärgsten Feind, dass nicht unser Volk verderbe, bleibt in Treue fest vereint!“

 

Weitere radikale Antisemiten und Gegner der „Judenrepublik“ waren vor 1933 der Ethnologe Wilhelm Schmidt und der Sozialreformer Anton Orel (der sogar schrieb, „dass die Taufe eines Juden die Taufe eines mit gefährlichen Erbkrankheitsstoffen Behafteten ist“). Der österreichische Klerikalfaschismus zog Linien vom Mittelalter zur Gegenwartspolitik: Die katholische Presse in Salzburg hob 1920 z. B. das Verdienst der Kirche hervor, jahrhundertelang die jüdische Gefahr durch Sondergesetze abgewehrt zu haben. Bischof Sigismund Waitz warnte 1925 im Neuen Reich vor der „Weltgefahr“ des habgierigen, wucherischen, ungläubigen Judentums, dessen Macht „unheimlich“ gestiegen sei.

 

Ihm widersprach der Benediktiner Alois Mager, der erstmals den Antisemitismus überhaupt als halt- und rechtlos, ja unchristlich erklärte. In der Folgezeit rückte das Blatt von politischer Judenausgrenzung ab und warnte vor dem Ansteigen des Nationalsozialismus. Den katholischen Antisemitismus bekämpfte es aber weiterhin kaum: 1933 erschien in Graz ein weiteres Hetzpamphlet über die Protokolle der Weisen von Zion: Pfarrer Arbogast Reiterers Das Judentum und die Schatten des Antichrist.

 

1933–1945

 

Nach Hitlers Ernennung zum deutschen Reichskanzler (30. Januar 1933) verharmlosten österreichische Zeitungen die Judenverfolgung in Deutschland: Nach dem Judenboykott des 1. April 1933 zitierte man Hermann Görings Erklärung, die NS-Regierung werde niemals dulden, dass ein Mensch nur deshalb irgendwelchen Verfolgungen ausgesetzt werden sollte, weil er Jude sei. Der Philosophieprofessor Hans Eibl betonte die geschichtliche Schuld der Juden am Bolschewismus. Die Ausgrenzung von Juden wie Max Reinhardt aus dem Kulturleben Berlins wurde ebenso begrüßt wie die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Der Ethnologe Oswald Menghin bejahte in seinem Buch Geist und Blut den Zionismus aus „rassischen“ Gründen, da die Integration der Juden den „deutschen Volkscharakter“ verändern würde.

 

Wer Maßnahmen der Nazis öffentlich widersprach, betonte meist im selben Atemzug, Assimilation und Bekehrung der Juden seien unbedingt nötig, um die von ihnen ausgehende „Gefahr“ zu vermeiden. Zugleich wurde oft die Rückkehr zum katholischen Ständestaat propagiert, in dem die Juden ghettoisiert waren. Selbst die Novemberpogrome 1938 deuteten führende Katholiken Österreichs wie Eberle als Reaktion auf jüdische Schuld früherer Jahrhunderte. Nur wenige – zum Beispiel der Philosoph Dietrich von Hildebrand – bezogen deutlich und leidenschaftlich gegen die Nürnberger Gesetze Stellung.

 

Schweiz

 

Juden wurden in der Schweiz lange Zeit stark diskriminiert. Seit ihrer Vertreibung im 15. Jahrhundert lebten nur noch wenige Juden dort; um 1800 waren es 553 Juden in zwei Aargauer Dörfern (Endingen und Lengnau). Sie wurden rechtlich stark benachteiligt, mussten erhöhte Zölle und einen Leibzoll zahlen, durften kein Handwerk ausüben und keinen Boden besitzen. Zahlreiche Sondergesetze bezeichneten Juden als „gottlosen Schwarm“ oder „Pestilenz“.

 

Der Einmarsch der Franzosen 1798 brachte den Schweizer Juden mit der Idee der Menschenrechte erste Chancen zur Emanzipation. Nun strich man nach und nach die ihnen aufgebürdeten Sonderabgaben. In Genf setzte sich die Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz – auch wegen der Tradition des Calvinismus – zuerst durch. Doch die Bundesverfassung von 1848 verwehrte Nichtchristen weiterhin die generelle Niederlassungs- und Religionsfreiheit sowie die Gleichheit in Gerichtsverfahren außerhalb des Heimatkantons. Bis etwa 1850 weigerten sich die meisten Kantone, außerkantonalen Juden die Ansiedlung zu gestatten. 1866 brachte eine Volksabstimmung den Nichtchristen die vollen bürgerlichen Rechte und erlaubte ihnen auch die freie Religionsausübung.

 

1874 übten Frankreich, die Niederlande und die USA Druck auf die Schweiz aus: sie machten ihre Handelsverträge mit der Schweiz von der Niederlassungsfreiheit auch für Juden abhängig. Daraufhin hob die revidierte Bundesverfassung 1874 die letzten Einschränkungen der Bürgerrechte für Juden auf. Die Bevölkerung blieb aber antijüdisch eingestellt. 1892 lancierten Tierschutzvereine eine Volksinitiative für ein Verbot des Schächtens, also den in der Tora vorgeschriebenen Brauch, für koscheres Fleisch ein Tier durch Halsader- und Luftröhrenschnitt ausbluten zu lassen. Daraufhin verbot die Bundesverfassung von 1893 das Schächten in der Schweiz. Während der Debatte darum (also vor der Abstimmung) wurden verstärkt antisemitische Schriften publiziert. In der französischsprachigen Schweiz war die Bevölkerung mehrheitlich tolerant gegenüber Juden.

 

Der rechtlichen Gleichstellung auf staatlicher Ebene standen in vielen traditionell von Juden bewohnten Dorfgemeinden weiterbestehende rechtliche Einschränkungen auf lokaler Ebene gegenüber, beispielsweise Einschränkungen des Wahlrechtes in Endingen und Lengnau. Das führte auch in der Schweiz zu einer Wanderungsbewegung der Juden in die Städte. In den folgenden Jahrzehnten entstanden städtische jüdische Gemeinden, so in Zürich, Basel, St. Gallen und Luzern. In den Städten war das Klima wesentlich liberaler. In Bern wurde 1859 Moritz Lazarus als Honorarprofessor an die Universität berufen, wo er mit drei weiteren jüdischen Dozenten das Lehramt ausübte und 1864 Rektor und Dekan wurde.

 

Im Ersten Weltkrieg wurde „den Juden“ in der Schweiz die starke Lebensmittelteuerung angelastet, u.a. weil z.B. in Basel relativ viele Kaufhäuser jüdische Inhaber hatten. Seit 1918 praktizierte die Schweiz eine restriktive Einwanderungspolitik und ließ nur sehr wenige jüdische Flüchtlinge einreisen; besonders Juden aus Osteuropa wurden abgewiesen. 1920 erließ Zürich besondere Vorschriften zur Einbürgerung, die „Ostjuden“ diskriminierten; diese blieben bis 1936 in Kraft.

 

Seit 1930 bildete sich auch in der Schweiz ein antisemitisches Parteienbündnis, die Frontenbewegung. Sie praktizierte Hetzpropaganda nach nationalsozialistischem Vorbild, pflegte das „Führerprinzip“ und mystifizierte „alteidgenössische Tugenden“ gegen liberale und sozialistische Ideen. Damit hatten sie aber nur 1934–1936 bei lokalen Wahlen Erfolge. In St. Gallen wirkte eine „Schweizerische Christenwehr“ um den Arzt Walter Fehrmann und propagierte Hass gegen Juden, Freimaurer und Zeugen Jehovas; sie seien alle ohnehin dasselbe.

 

Zwar gelang es dem Schweizer Israelischen Gemeindebund 1937 nach einem vierjährigen Prozess, die Protokolle der Weisen von Zion als Fälschung erklären zu lassen. Doch verboten wurden sie nicht; die Bundesbehörden ergriffen keine weitergehenden staatlichen Schutzmaßnahmen gegen rassistische und antisemitische Propaganda. Bündnispartner für solche Forderungen fanden die Schweizer Juden nur in einigen Kantonen, bei linksgerichteten Parteien und einzelnen prominenten Humanisten, z.B. dem religiös-sozialistischen Theologen Leonhard Ragaz.

 

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 wurde die Schweiz für deutsche, nach dem Anschluss Österreichs 1938 auch für österreichische Juden ein wichtiges Fluchtziel. Die Schweizer Regierung gestattete ihnen jedoch meist nur einen Zwischenhalt. Ausländische Juden wurden kaum noch eingebürgert, deshalb nahm die Auswanderung von Schweizer Juden nach Übersee drastisch zu. Als Protest trat der jüdische Nationalrat David Farbstein zurück. Nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 vereinbarte die Schweiz mit Deutschland ein Abkommen zur Kontrolle deutscher Juden: Sie veranlasste eine Verordnung, wonach ab 1939 die Pässe deutscher Juden mit einem roten J abgestempelt werden mussten. Dies verhinderte deren illegale Flucht und bedeutete ab 1941 für viele deutsche Juden den Tod, da sie der Deportation in die Vernichtungslager nun nicht mehr entgehen konnten. Mindestens 30.000 deutschösterreichische Juden wurden zudem 1941–1945 an der Schweizer Grenze abgewiesen.

 

Nach jüngeren Nachforschungen des Simon-Wiesenthal-Zentrums reagierte diese judenfeindliche Flüchtlingspolitik keineswegs nur auf Druck der Nationalsozialisten. Vielmehr gab es seit 1940 in der Schweiz mindestens 36 extrem rechtsgerichtete, patriotische und faschistische Gruppen, deren antisemitisches Gedankengut die gesamte Schweizer Öffentlichkeit mitbestimmte und auch von Offizieren und Professoren mitgetragen wurde. In dem Nationalarchiv der USA aufgefundene Dokumente decken mehrere Geheimabsprachen zwischen dem Schweizer Justizminister Eduard von Steiger und der Vereinigung des Schweizer Vaterlandes über das Abweisen von fluchtwilligen deutschösterreichischen Juden an den Grenzen und Asylverweigerung für bereits eingereiste Flüchtlinge auf. Auch die Schweizer Polizei wies die Grenzbeamten dazu an.

 

Dieser geheime Numerus clausus machte Einbürgerungen von Juden faktisch unmöglich. Jüdische Kinder durften seit 1939 nicht wie andere Kinder zu einem Erholungsaufenthalt in die Schweiz kommen; auch Schweizerinnen jüdischen Glaubens, die mit einem Ausländer verheiratet waren, durften nicht wieder einreisen oder eingebürgert werden. 1941 zögerte der Bundesrat zudem, jüdischen Schweizern in Frankreich und Italien vollen diplomatischen Schutz zu gewähren. Für diese Politik hat der Bundesrat sich 1995 bei den Überlebenden entschuldigt.

 

Der Bericht des Wiesenthal-Zentrums stieß bei der seinerzeitigen Schweizer Regierung auf Ablehnung: Thomas Borer, Regierungssprecher für Schweizer Vergangenheitsbewältigung, meinte, die weitaus meisten Schweizer seien während des Zweiten Weltkriegs „eindeutige Demokraten und Antifaschisten“, die Schweiz „die einzige Oase der Demokratie, der Redefreiheit und der Toleranz auf dem Kontinent“ gewesen. Sie habe trotz ihrer außenpolitischen Isolation die meisten Flüchtlinge, darunter viele Juden, aufgenommen.

 

Dagegen sah der Historiker und Religionsphilosoph Gerhart M. Riegner (1911-2001) die Abweisung jüdischer Flüchtlinge seit 1938 nicht als Ausnahme einer ansonsten vorbildlichen Demokratie, sondern als Ergebnis einer Schweizer Tradition der antijüdisch motivierten Fremdenabwehr und des gelebten Antisemitismus. Er verweist dazu auf die späte Durchsetzung der jüdischen Emanzipation, das Schächtverbot 1893, die restriktive Einbürgerungspraxis gegenüber Ostjuden und die Transitland-Doktrin in der eidgenössischen Migrationspolitik nach dem Ersten Weltkrieg.

 

Frankreich

 

1789 (Französische Revolution) bis 1848

 

Infolge der Französischen Revolution 1789 schufen Angehörige der damals entmachteten Schichten, vor allem adelige Anhänger der Bourbonen und einer Restauration des katholischen Ständestaates, eine Reihe von Verschwörungsthesen. Der Jesuit Augustin Barruel behauptete 1797 ein Komplott der Freimaurer, die er mit den Aufklärungsphilosophen und Jakobinern gleichsetzte, gegen das Christentum.

 

1791 erhielten die französischen Juden die vollen Staatsbürgerrechte. Daher galten auch sie Gegnern der Revolution nun als deren Nutznießer und mögliche Drahtzieher. Diese Sicht verstärkte sich, als Napoléon Bonaparte sich für die Religions- und Organisationsfreiheit der Juden auch in allen von Frankreich besetzten Gebieten einsetzte und am 23. August 1806 dazu einen neuen jüdischen Hohen Rat (Sanhedrin) einberief.

 

Im selben Jahr erschien der sogenannte Simonini-Brief, dessen Autor behauptete, er habe als italienischer Offizier jüdischer Abstammung von Intrigen habgieriger Juden gegen die Christen Europas erfahren. Barruel habe ein geheimes Bündnis der Juden mit Jakobinern, Freimaurern und Illuminaten übersehen, um von Frankreich aus die Christen auszulöschen und eine jüdische Weltherrschaft aufzubauen. Ähnliche Thesen vertrat damals auch Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald in seinem Artikel Sur les juifs. Dass die meisten Freimaurerlogen Juden ausgeschlossen hatten und der antijüdische Illuminatenorden 1784 verboten und daraufhin aufgelöst worden war, änderte daran nichts.

 

1846 veröffentlichte Alphonse Toussenel in Paris den Traktat Les Juifs, rois de l'epoque („Die Juden, Könige der Epoche“), der bald in viele Sprachen übersetzt wurde.

 

1848–1871

 

(Zweite Französische Republik (bis 1852) und Zweites Kaiserreich) 1858 definierte Gobineau in seiner Rassenlehre den Begriff der Nation gegen die Revolutionäre von 1789 völkisch und genetisch. Er fand damit in seiner Heimat aber nur bei wenigen Intellektuellen wie Ernest Renan und Édouard Drumont (1844–1917) Resonanz. 1880 verfasste Drumont ein weiteres Buch (siehe unten).

 

1869 erschien in Paris das Pamphlet Le juif, le judaïsme et la judaisation des peuples chrétiens („Die Juden, der Judaismus und die Judaisierung der christlichen Völker“) von Henri Roger Gougenot des Mousseaux, das im Blick auf die Damaskusaffäre von 1840 die antijüdische Ritualmordlegende propagierte. Das Buch ließ die Verschwörungstheorie 'Allianz von Juden und Freimaurern zur Weltbeherrschung' aufleben. Papst Pius IX. verlieh dem Autor für das Buch einen hohen kirchlichen Orden. Es erlebte mehrere Neuauflagen.

 

1871 bis 1914

 

Auch diente es als Vorlage für weitere antisemitische Pamphlete wie August Rohlings Bestseller Der Talmudjude (1871) und Albert Monniots Le crime rituel chez les juifs (Paris 1914) und wurde 1921 von Alfred Rosenberg ins Deutsche übersetzt (Der Jude, das Judentum und die Verjudung der christlichen Völker).

 

Damals herrschte in der katholischen Kirche der Antimodernismus; er hielt bis zum Ersten Weltkrieg an.

 

1878 veröffentlichte die antisemitische Zeitschrift Le Contemporain einen angeblichen Brief Barruels von 1806: Ein italienischer Offizier habe ihn auf eine Verschwörung der Juden aufmerksam gemacht, die den Illuminatenorden kontrollierten. Er habe daraufhin seinen fertigen fünften Band zu Verschwörungen der Juden unveröffentlicht gelassen, um kein Pogrom auszulösen. Das sollte das Fehlen der Juden in seinen Verschwörungstheorien plausibel machen und dem Simoninibrief nachträglich mehr Reputation verleihen.

 

Édouard Drumont (1844-1917) verfasste 1880 La France juive, das oft neu aufgelegte Grundlagenwerk des modernen Antisemitismus in Frankreich.

 

1889–1893 währte der Panamaskandal, ein Bestechungsskandal:

 

  • Die 1879 gegründete französische Gesellschaft zur Finanzierung und zum Bau des Panamakanals musste 1889 Insolvenz anmelden. Sie versuchte mithilfe einer Lotterie an Geld zu kommen. Die gesetzliche Genehmigung hierfür wurde u.a. von Lesseps’ Teilhabern Cornélius Herz und Baron Jacques de Reinach – beide Juden – durch Bestechung zahlreicher Politiker und Journalisten erlangt. Der Konkurs der Gesellschaft war dennoch unausweichlich.

Die französische Regierung hielt die Verluste für die Aktionäre zunächst geheim, was neben dem Bekanntwerden der Korruptionsaffäre zu einem starken Vertrauensverlust im Volk führte. Dies und die Beteiligung einiger jüdischer Finanziers (Cornélius Herz, Jacques de Reinach, Émile Arton, Louis Andrieux) an der Gesellschaft leistete dem Antisemitismus in Frankreich Vorschub.

 

Zusammen mit Drumont gründete der Marquis de Morès (1858-1896) 1889 die Ligue antisémitique de France und organisierte 1890 den ersten Antisemitenkongress in Neuilly (an Morès' Begräbnis nahm auch der damalige Pariser Erzbischof de la Vergne teil).

 

1894 zeigte die Dreyfus-Affäre, wie stark der Antisemitismus im französischen Militär und in der Justiz verankert war: Reaktionäre Offiziere und Richter, unterstützt von Monarchisten und strenggläubigen Katholiken verurteilten den Hauptmann Alfred Dreyfus, Elsässer und Jude, aufgrund gefälschter Papiere wegen Landesverrats. Als die Fälschung bekannt wurde, verweigerte man ihm jahrelang die Rehabilitation. Journalisten wie Émile Zola, die sich öffentlich für Dreyfus einsetzten, wurden gerichtlich verfolgt. Die Affäre ließ Theodor Herzl zu dem Schluss kommen, dass die Assimilation der Juden in Europa gescheitert und jüdisches Leben auf Dauer nur in einem eigenen jüdischen Staat möglich sei. Sein Buch Der Judenstaat (1896) begründete den politischen Zionismus.

 

Nachdem Dreyfus 1905 schließlich rehabilitiert wurde, war der Antisemitismus in Frankreich gesellschaftlich und politisch diskreditiert, wenngleich der Bischof von Nancy-Toul, Charles-François Turinaz, noch 1916 erklärte, der Glaube an Dreyfus’ Unschuld sei gleichbedeutend mit Apostasie, dem Glaubensabfall.

 

Danach

 

Nach dem Ersten Weltkrieg flackerte er unter dem Einfluss von Charles Maurras nochmals kurz auf.

 

Einige Forschungsansätze sehen die Zerschlagung des Unternehmens Pathé-Natan – eines der größten Medienkonzerne dieser Zeit – als Ergebnis einer antisemitischen und xenophoben Kampagne gegen seinen Geschäftsführer, den Produzenten und Regisseur Bernard Natan, einen französischen Juden rumänischer Herkunft. Natan wurde in diesem Kontext zweifach wegen Betrugs zu Haftstrafen verurteilt. 1942 entzog man ihm nach der Haftentlassung die französische Staatsbürgerschaft und übergab ihn den deutschen Besatzern. Diese ließen ihn nach Auschwitz deportieren, wo er wenige Wochen später starb.

 

Während der Okkupation 1940 bis 1944 dominierten erneut antidemokratische und antisemitische Tendenzen. Das Vichy-Regime beteiligte sich aktiv an Inhaftierung und Deportation französischer Juden in die deutschen Vernichtungslager.

 

Viele Franzosen versteckten Juden, schleusten sie in den unbesetzten Teil Frankreichs und nahmen an der Résistance teil. Andere Franzosen denunzierten Juden und lieferten sie den deutschen Besatzern aus. Die Propaganda französischer Antisemiten erhielt Auftrieb: In Bordeaux initiierte der „Inspektor für Judenfragen“, Maurice Papon, 1942 die Wanderausstellung Der Jude und Frankreich, die viel Anklang fand. Die Zeitung La Petite Gironde schrieb z.B.:

 

„Der Volksmund sagt, bei einem Verbrechen müsse man stets nach der Frau suchen, die dahinter steckt. Fortan wissen wir, dass wir bei allen Miseren, Konkursen, finanziellen Katastrophen, Skandalen oder Kriegen nach dem Juden suchen müssen, der dahinter steckt.“

 

Großbritannien

 

1290 war England das erste Land in Europa, das die Juden vollständig aus dem Land wies. Den Juden wurde bei Androhung der Todesstrafe die Rückkehr verwehrt. Die Anordnung des Königs Eduard I. wurde am 18. Juli 1290 verkündet. Am 12. Oktober begann die Vertreibung, die am Ende des Monats dem königlichen Erlass gemäß abgeschlossen wurde. Die Schätzungen zur Anzahl der Betroffenen schwanken zwischen zwei- bis fünftausend Personen. Die Aktion war im christlichen Mittelalter ohne Beispiel und erfolgte ohne eine Begründung, die von Chronisten niedergeschrieben worden wäre. Schon Jahrzehnte zuvor spitzte sich die Diskriminierung und Verfolgung der Juden zu. Sie wurden des Ritualmordes und der Hostienschändung angeklagt, galten als Christusmörder und wurden als Geldverleiher gehasst, geschlagen und gelyncht. Dieser Hass hinterließ tiefe Spuren, die noch Jahrhunderte nachwirkten. Als Antithese zum Christentum waren Juden noch immer in den Predigten präsent. Obwohl die Engländer keine Juden mehr gesehen hatten, spielten noch 300 Jahre später zu Zeiten Shakespeares Juden „wie Wölfe in neuzeitlichen Kindergeschichten eine starke symbolische Rolle in der Ökonomie der Imagination.“ Sehr anschaulich wurde der Antisemitismus in England in der Literatur. Dazu zählen die über England hinaus bekanntesten Stücke Christopher Marlowes – „Der Jude von Malta“ – und Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“. Die Figur des Juden Shylock war Hauptfigur des Themas und vieler antisemitischer Stereotype, obgleich die Figur nicht die Hauptfigur des Stückes war. „Der Kaufmann von Venedig“ wird heute als eine Reaktion Shakespeares auf die damalige Fremdenfeindlichkeit interpretiert. Marlowes „Der Jude von Malta“ galt als Massenspektakel in der Londoner Metropole. Stephen Greenblatt verweist hierbei auf die tiefe Verankerung des Antisemitismus in der Gesellschaft: „Es ist in der Tat durchaus möglich, dass Der Jude von Malta eine derart befreiende Wirkung entfaltete, aber wahrscheinlich nur unter denjenigen Zuschauern, die bereits geneigt waren, sich befreien zu lassen.“ Als Schlüsselszene für Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ gilt ein für den Antisemitismus der damaligen Zeit typisches politisches Ereignis: die Denunziation des portugiesischen Leibarztes der Königin Elisabeth Roderigo (Ruy) Lopez als Jude und Verschwörer durch „die äußerst spanienfeindliche, militant protestantische Fraktion um den Earl of Essex“. Seine Verurteilung als Hochverräter ohne Beweise und die Reaktionen des Publikums bei seiner Hinrichtung werden als extrem antisemitisch beschrieben.

 

Um die Mitte des 17. Jahrhunderts begannen die Juden, zurückzukehren. Um 1750 lebten circa 8000 Juden im Land, die jedoch etlichen Beschränkungen (Ausschluss vom Seehandel, Verbot des Ankaufs von Land und verwehrter Zugang zu öffentlichen Ämtern) unterlagen. Ein Einbürgerungsgesetz (jewish naturalization act) des Whig-Premierministers Henry Pelham traf auf erbitterten Widerstand der Tory-Opposition und der Öffentlichkeit. Im Verlauf dieser Ereignisse kam es zu einer heftigen Diskussion über die Judenfrage, was jedoch nicht als breiter Antisemitismus gedeutet werden kann. Die Unterbrechung des jüdischen Lebens während der Zeit entscheidender wirtschaftlicher Entwicklungen wird als einer der Gründe für den relativ schwach entwickelten Antisemitismus im Lande gesehen.

 

Im britischen Königreich vollzog sich die Judenemanzipation in der Folgezeit fast ohne öffentliche Debatte. Seit 1850 waren Juden nur noch vom Eintritt in das Parlament ausgeschlossen (1858 erhielten sie Zugang zum Unterhaus), und bis 1871 konnten sie nicht Fellows in Oxford und Cambridge werden.

 

Der Romanschriftsteller und zweifache britische Premierminister Benjamin Disraeli (1804–1881) galt als der erste Jude in England, der den „Eintritt in die Gesellschaft“ geschafft hatte. Er vertrat gegenüber dem Rassismus des Adels einen extremen jüdischen Chauvinismus. Als „Ausnahmejude“ beflügelte er viel antisemitische Klischees, indem er nach Hannah Arendt öffentlich sagte, „was die anderen nur im Geheimen oder Privaten hofften und meinten“, und galt in der Gesellschaft als „Scharlatan“, „Schauspieler“ und „Parvenu“. Zwar war Disraeli völlig unkundig in Fragen der jüdischen Kultur und bestätigte, er sei als getaufter Jude „außerhalb der jüdischen Gesellschaft und mit großen Vorurteilen gegen Juden erzogen worden“, nutzte aber selbst die Stereotype über die jüdische Weltverschwörung für seine Karriere und hielt sich für den „auserwählten Mann einer auserwählten Rasse“. Disraeli verlangte in seiner Biographie „Lord George Bentinck“ die Legalisierung des „Einfluß[es] der jüdischen Rasse auf die modernen Staaten“. Hannah Arendt resümiert in ihrer Abhandlung zu Disraeli: „So kam es, dass Disraeli sich von den Herrschaftsaspirationen der Juden eine Vorstellung bildete, welche dem Wahn der Weisen von Zion – zieht man die veränderten Vorzeichen ab – gar nicht so unähnlich war. Er hatte mit den Antisemiten dies gemeinsam: er konnte sich ein Volk ohne allen politischen Willen, eine Herrschaftskaste ohne allen Willen zu herrschen, nicht vorstellen. … Das, was Disraeli (wie Antisemiten) so ungeheuer an den Ausnahmejuden imponierte, war die ohne alle äußere Zeichen nur auf Geld und Blut beruhende Zusammengehörigkeit.“

 

Während des Zweiten Burenkriegs von 1899 bis 1902 kam Antisemitismus in breiter Front auf der Seite der liberalen und linken Kriegsopposition zum Ausdruck. Hierbei wurde der Krieg als im Interesse von „jüdischer Finanz“ geführter „Judenkrieg“ bewertet. Zentrales Motiv der antisemitischen Vorurteile war seine Verbindung mit einer Germanophobie. Dies reichte von undifferenzierter Unterstellung prodeutscher politischer Sympathien über Verschwörungstheorien bis hin zur Gleichsetzung aller Juden mit Deutschen sowie der besonders negativen Darstellung deutscher Juden.

 

Erst im Zuge der starken Einwanderung von fast 200.000 Ostjuden aus Polen und Russland um 1900 kam es zu Konflikten. Die Zuwanderer waren durch Sprache, Tracht und Sitten deutlich unterscheidbar und trafen meist völlig mittellos in England ein. Aus Furcht vor billigen „Lohndrückern“ streikten 1903 die Bergarbeiter von Süd-Wales gegen ihre aus Polen stammenden Kollegen und verlangten einen Einreisestopp für verarmte Ausländer. Diese Anti-Alien-Bill wurde 1905 gegen Proteste der englischen Liberalen erlassen. Ein späterer Zusatz nahm allerdings aus religiösen und politischen Gründen Verfolgte davon wieder aus, sodass aus Russland und Rumänien vertriebene Juden weiterhin fast ungehindert einreisen konnten. Sie wurden relativ reibungslos integriert.

 

Im Ersten Weltkrieg entstanden auch in Großbritannien kleine Gruppen von Antisemiten, die aus nationalistischen Gründen vor allem deutsche Juden ablehnten, ohne damit größere Wirkungen zu erzielen. Bernhard Shaw stellte 1925 fest, es gäbe in seinem Land zwar antijüdische Vorurteile, aber diese seien nicht von Vorurteilen gegen Schotten, Iren, Waliser und alle Fremden verschieden. So wie man die Habsucht der Juden verhöhne, spotte man auch über den Geiz der Schotten. Von einem Antisemitismus könne für England keine Rede sein. Trotz enormer Zuwanderung von Juden, sozialer Konflikte und gleichzeitiger heftiger antisemitischer Propaganda auf dem Kontinent, vor allem in Deutschland, bewahrte sich Großbritannien also seine Liberalität und öffnete Juden alle sozialen Aufstiegschancen.

 

Ein Grund dafür lag im hier traditionell starken aufgeklärten Philosemitismus, etwa von Dichtern wie Matthew Arnold und der Schauspielerin Mary Ann Evans, bekannt unter dem Pseudonym George Eliot. Ihr Aufsatz Die Juden und ihre Gegner, der leidenschaftlich und intelligent für die Verständigung und Aussöhnung mit dem lange geknechteten Judentum plädierte, fand 1880 viel Zustimmung. Ein weiterer Grund lag im theologischen Interesse der englischen Christen an der heilsgeschichtlichen Rolle Israels. Dies führte 1850 zur Bildung einer „Israel-Bewegung“ (British Israel Movement), die auch kirchenoffizielle Theologen des Anglikanismus und Methodismus beeinflusste.

 

Doch 1930 entstand auch in England eine faschistische Strömung, die sich in der British Union of Fascists organisierte. Sie konnte aber keine entscheidende politische Macht erringen.

 

Italien

 

1775 hatte Papst Pius VI. ein Edikt über die Juden erlassen, das sämtliche judenfeindlichen Gesetze des Mittelalters sammelte und für die Juden im Ghetto des Kirchenstaates in Rom bekräftigte. 1797 wurden diese Judengesetze im Zuge der militärischen Besetzung Roms durch französische Truppen aufgehoben. Daraufhin ersetzten Vatikantheologen die frühere Idee einer päpstlichen Schutzpflicht für die Juden immer mehr durch die Annahme, die Christen vor dem angeblichen zunehmenden und verderblichen Einfluss der Juden schützen und die jüdische Emanzipation abwehren zu müssen.

 

1814 kehrte der von Napoleon gefangengenommene Papst Pius VII. aus dem französischen Exil in den Kirchenstaat zurück. Der konservative Katholik und spätere Kardinal Giuseppe Antonio Sala übergab ihm dort einen Reformplan, der vorsah, die rechtliche Gleichstellung der italienischen Juden wieder aufzuheben, und dies mit dem angeblichen Machtstreben aller Juden begründete: Sie hätten die für sie günstige Säkularisierung in Europa ausgenutzt, um im Schutz von Aufklärungsideen und mit diesen „infizierten“ Herrschern „ihr Joch abzuwerfen“ und „ihren Aberglauben auszuüben“. Als „unermüdliche Verfertiger von Betrug und Täuschung“ trachteten sie nach Wiederherstellung ihres Reiches Juda und Wiederaufbau ihres Tempels, um Jesu Prophezeiung der Tempelzerstörung Lügen zu strafen, so das Christentum zu entmachten und sich kirchliche Besitztümer anzueignen. Dem müsse der Papst wenigstens im eigenen Herrschaftsbereich einen Riegel vorschieben.

 

Salas Artikel blieb zunächst folgenlos. Doch im September 1825 forderte Francesco Ferdinando Jalabot, später Meister des Dominikanerordens, im 1823 neugegründeten Giornale ecclisiastico di Roma erneut die Ghettoisierung der italienischen Juden und strikte Anwendung aller früheren Judengesetze, um sie zum Übertritt zum Christentum zu bewegen. Nur dann seien sie als gleichberechtigte Bürger in die christliche Gesellschaft aufzunehmen. Ihre schlechten kollektiven Eigenschaften hätten im Geschichtslauf ständig Unruhen und Verbrechen an Christen erzeugt. Ihre Unterdrückung sei notwendige Folge des Fluchs, den sie durch den Gottesmord auf sich gezogen hätten. Andernfalls würden sie aufgrund ihres verdorbenen Volkscharakters unweigerlich die Christen unterjochen. Leo XII., Papst von 1823 bis 1829, widersprach diesem Pamphlet nicht, sondern gab es eventuell als Kardinal selbst in Auftrag.

 

Seit 1890 propagierten fast alle katholischen Zeitungen Italiens, darunter der vatikanische Osservatore Romano, kampagnenartig die angebliche jüdische Kultur- und Weltbeherrschung. Das Jesuitenorgan La Civiltà Cattolica begann 1890 eine Artikelserie zur „jüdischen Frage“ und erklärte diese zur „Überlebensfrage“ der christlichen Welt. Die Juden seien als Ausbeuter der Christen untereinander eng verbunden; gegen ihre „Verschlagenheit und Übermacht“ gebe es kaum Gegenmittel. Ihre Enteignung und Verbannung seien gleichwohl falsch: Maßvolle Gesetze müssten ihren unaufhaltsamen Aufstieg bremsen und sie selbst vor der „Rache der Völker“ schützen.

 

1894 bezogen alle katholischen Blätter Italiens in der Dreyfus-Affäre gegen den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus Stellung und deuteten seinen angeblichen Hochverrat verschwörungstheoretisch: Die Emanzipation habe den Juden überall Macht und Einfluss verschafft, den sie im Bund mit Freimaurern und Frühsozialisten nun in allen Bereichen ausnutzten. Erst als sich 1898 eine Prozessrevision abzeichnete, deuteten dieselben Blätter die Affäre als innerfranzösische juristische Angelegenheit. Papst Leo XIII. mahnte 1899 zur Beendigung der Affäre.

 

Die jüdischen Gemeinden Italiens waren klein. Im August 1938 wurde eine Judenzählung nach rassistischen Kriterien vorgenommen, bei der 58.412 Juden registriert wurden. 46.656 von ihnen waren mosaischen Glaubens. Sie lebten vorwiegend in den Großstädten des Nordens. In Rom, Mailand, Triest und Turin lebten mehr als die Hälfte von ihnen. In Süditalien, Sizilien und Sardinien, wo die Spanier lange geherrscht und fast alle Juden vertrieben hatten, gab es kaum welche von ihnen.

 

Im Zuge des Risorgimento hatte sich auch die Emanzipation der Juden seit 1848 vollzogen; das liberale Königreich Italien verstand sich trotz formaler Privilegierung der katholischen Kirche als neutral in Glaubensfragen. Im Gegenzug wurde erwartet, dass sich die Juden im Gegenzug für die Aufhebung aller diskriminierenden Vorschriften langfristig integrieren und assimilieren sollten.

 

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war aber Antisemitismus auch in Italien anzutreffen. In der katholischen Kirche in Italien und der mit ihr verbundenen Presse erschienen die Juden nicht nur als Mörder Christi, sondern auch als Symbol aller als bedrohlich empfundenen Entwicklungen der Moderne wie Liberalismus, Kapitalismus, Freimaurerei und Sozialismus. In der katholischen Kirche in Italien (und in anderen Ländern) herrschte damals der Antimodernismus. 1921 erschienen erstmals auf Italienisch die Protokolle der Weisen von Zion, ein antisemitisches Pamphlet, das eine jüdische Weltverschwörung belegen sollte. Begünstigt wurden diese Vorurteile durch die gute soziale Lage der Juden, die vorwiegend Kaufleute und Angestellte waren, und ihren überdurchschnittlich hohen Bildungsgrad. 1931 gab es unter ihnen kaum Analphabeten, während die durchschnittliche Quote in Italien noch über dreißig Prozent lag.

 

Im Unterschied zu Deutschland fand der Antisemitismus in der liberalen Führungsschicht Italiens jedoch kaum Resonanz und war auch in der übrigen Gesellschaft nicht so stark verbreitet. Juden hatten wichtige Positionen in der Privatwirtschaft, in den freien Berufen und selbst in der Politik inne. Der Jude Luigi Luzzatti war italienischer Premierminister vom 31. März 1910 bis zum 2. März 1911; ein weiterer Spitzenpolitiker, Sidney Sonnino, hatte einen jüdischen Vater.

 

Benito Mussolini fand seit 1921 unter ihnen Gegner, aber auch opferbereite Mitstreiter, z.B. Enrico Rocca, den Gründer des römischen Faschismus. Mussolini verstand unter „Rasse“ die vom totalen Staat geeinte Nation, unterschied also Juden und Italiener nicht. Politisch suchte er den Dialog mit Vertretern zionistischer Organisationen, um internationale Anerkennung zu gewinnen und den britischen Einfluss im Mittelmeerraum zurückzudrängen. Er gab sich als Philosemit und verspottete Hitlers Rassetheorien. NSDAP-Ideologen wie Alfred Rosenberg bezeichneten Mussolini zeitweise als „Judenknecht“, der selber von polnischen Juden abstamme.

 

Erst nach dem Abessinienkrieg und der „Achse Rom-Berlin“ 1936 machte Mussolini Zugeständnisse an den Nationalsozialismus. Ein „Rassenmanifest“ seiner Partei PNF sprach 1938 von einer „reinen italienischen Rasse“, die „arischen Ursprungs“ sein sollte.

 

Im Herbst 1938 verboten Gesetze, die den Nürnberger Rassegesetzen glichen, Personen mit einem jüdischen Elternteil die Ehe mit „Ariern“, Bekleidung öffentlicher Ämter und Beschäftigung „arischer“ Angestellter. Weitere Gesetze verboten ihnen den Besitz von Radiogeräten, den Besuch von Bibliotheken und Schulen zusammen mit Nichtjuden.

 

Damit war keine weitere Verfolgung intendiert: Bis 1943 lebten jüdische Italiener noch relativ sicher in ihrer Heimat. Erst die nach Mussolinis Sturz vom NS-Regime eingesetzte Marionettenregierung ließ Juden in besonderen Konzentrationslagern internieren und ihr Eigentum beschlagnahmen. Die deutschen Besatzer (die Wehrmacht hatte im September 1943 Italien besetzt - Fall Achse) bereiteten Maßnahmen zur „Endlösung“ vor und trieben die Juden italienischer Großstädte in Ghettos, um sie von dort aus in Vernichtungslager zu deportieren. Die italienische Bevölkerung lehnte dies überwiegend ab, da Juden nicht als Fremde galten. Trotz schwerster Strafandrohungen versteckten viele ihre jüdischen Nachbarn und verhalfen ihnen zur Flucht, besonders nach der „Räumung“ des Judenghettos in Rom innerhalb nur eines Tages am 17. Oktober 1943.

 

Spanien

 

Spanien hatte sein Judenproblem schon gegen Ende des Mittelalters „gelöst“. Nach dem Ausweisungsedikt vom 31. März 1492 mussten alle Juden, sofern sie sich nicht taufen ließen, binnen dreier Monate das Land verlassen. Die konvertierten Juden (marranos) wurden dennoch weiterhin als Juden betrachtet und der Zusammenarbeit mit ihren früheren Glaubensbrüdern verdächtigt.

 

Juden und marranos waren immer wieder Opfer der Inquisition. So wurden im Jahr 1680 bei einem Autodafé in Madrid 86 Juden verbrannt. Mit dem Nachweis der Blutreinheit (Limpieza de sangre), einer Verbindung von Antisemitismus und Rassismus (Estatutos de limpieza de sangre, erstmals in Toledo 1449 niedergelegt), bis zu einem 16-tel jüdischen Erbanteils sollte einer Integration der Konvertiten vorbeugt werden.

 

„Erstmalig in der europäischen Geschichte trat hier eine Argumentationsfigur auf, bei der man sich auf die rassenbiologische, durch individuelle Wahl nicht beeinflussbare Andersartigkeit berief.“

 

Karin Priester: Rassismus

 

Vom 16. Jahrhundert bis Anfang des 19. Jahrhunderts war zur Erlangung eines höheren Amtes die Vorlage eines reinen Stammbaums, ähnlich dem Ariernachweis, erforderlich. Im Jahr 1796 empfahl der Finanzminister Don Pedro Varela, der sich von einer jüdischen Einwanderung eine wirtschaftliche Belebung und Konsolidierung der nach dem Krieg gegen Frankreich schwachen Finanzlage versprach, die Aufhebung des Niederlassungsverbotes. 1802 bestätigte Karl IV., unter anderem auf Drängen des Klerus, erneut das Niederlassungsverbot. Ab 1876 wurden die Juden in Spanien dann geduldet. In religiöser Hinsicht waren sie dennoch weiter diskriminiert, denn nach Artikel 11 der Verfassung von 1876 war jede „religiöse Kundgebung“ außer der katholischen verboten. 1909 wurde Artikel 11 aufgehoben.

 

Trotz der engen Anlehnung des Franco-Regimes an Deutschland und öffentlicher Äußerungen wie:

 

„[…] die Einstellung der spanischen Regierung gegenüber Bolschewismus und Kommunismus sich nicht ändern werde, und dass dieser Kampf im In- und Ausland fortgeführt werden würde, ebenso wie gegen das Judentum und die Freimaurerei.“

 

unterschied sich Franco in Bezug auf die Judenfrage von Hitler. Spanien soll circa 50.000 europäische Juden gerettet haben, welche sich nach Spanien flüchteten. 1933 gelang eine größere Anzahl Juden von Deutschland nach Spanien. Auch in der Folgezeit wurde ein „Transit“ von jüdischen Flüchtlingen toleriert, sofern er unauffällig vor sich ging.

 

Niederlande

 

In den Niederlanden erhielten Juden schon 1796 die vollen bürgerlichen Rechte und konnten sich danach frei entfalten und integrieren. Sie stiegen z.B. früh in hohe Staatsämter auf, waren Richter, Universitätsprofessoren usw.

 

Ab 1924 entstand hier eine rechtsautoritäre Strömung mit teilweise faschistischen Positionen, die Nationale Unie. 1931 gründeten Cornelis van Geelkerken (1901–1979) und Anton Adriaan Mussert (1894–1946) in Utrecht die neue Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), die sich mit ihrem Führerprinzip an Mussolini anlehnte und wie dieser keinen ausgeprägten Antisemitismus vertrat. Auch Farbige und Juden konnten zunächst dort Mitglieder werden. Ihr Ziel, ein „großniederländisches“ Reich, wurde bis 1936 von etwa acht Prozent Niederländern unterstützt. Innerhalb der Partei wuchs jedoch eine völkische Fraktion mit starker Sympathie für Hitler und den Antisemitismus. Mit Rücksicht auf sie verkündete Parteiführer Mussert 1937 die vollständige Übernahme der nationalsozialistischen Rassenideologie; ab 1938 schloss die NSB jüdische Mitglieder aus. Hohe Parteifunktionäre begrüßten den Anschluss Österreichs an das „Großdeutsche Reich“ und pflegten enge Kontakte zu den Nationalsozialisten in Berlin.

 

Doch diese deutschfreundliche Haltung wurde nicht belohnt: Es folgten Wahlverluste und Parteiaustritte. Nach Kriegsbeginn versuchte Mussert, die NSB daher zunächst auf „Neutralität“ zu verpflichten. Dennoch inhaftierten die niederländischen Behörden 10.000 NSB-Mitglieder als mutmaßliche Kollaborateure beim Einmarsch der Deutschen am 10. Mai 1940. Nach der Flucht der Königin ins Exil erklärte Mussert seine Partei zur einzigen Vertretung der Niederländer gegenüber den Deutschen und erklärte Hitler, er wolle sein Land – um Belgien und Wallonien zu einem Großniederlande erweitert – in den „Bund germanischer Völker“ eingliedern.

 

Trotz anderer Zielsetzung ließ Hitler ihn an der Macht. Am 12. Dezember 1941 schwor Mussert einen „Führereid“ auf Hitler, woraufhin die NSB zwei Tage später zur einzig zugelassenen Partei der Niederlande erklärt wurde. Ab 1942 ließ die formell regierende NSB-Führung die Deportation von 102.000 niederländischen Juden – neben 400.000 niederländischen Zwangsarbeitern für die deutsche Kriegswirtschaft – ohne Widerspruch zu. Bis zu 40.000 Niederländer dienten in niederländischen Untergruppen der Waffen-SS unter deutscher Führung und halfen mit beim Niederschlagen des Widerstands und beim Ausliefern von Juden. Dafür wurde Mussert am 12. Dezember 1945 als Landesverräter in Den Haag zum Tod verurteilt und am 7. Mai 1946 erschossen.

 

Belgien

 

Im Anschluss an niederländische Forschungen beauftragte der belgische Senat 2002 eine von dem Historiker Rudi van Doorselaar geleitete Forschergruppe damit, das Verhalten der Belgier während der deutschen Besatzung vom 10. Mai 1940 bis Ende 1944 zu untersuchen. Am 13. Februar 2007 berichtete Doorselaar dem Senat von deren Ergebnissen, die in dem Buch „Das gehorsame Belgien“ veröffentlicht wurden.

 

Danach gab es seit 1930 im demokratisch verfassten Königreich Belgien eine rassistische Politik, um den „schädlichen Einfluss“ der Juden zurückzudrängen. Deshalb ließen belgische Behörden sofort nach dem Einmarsch der Wehrmacht 16.000 belgische Juden festnehmen und in Lagern festhalten. Bis 1944 wurden etwa 25.000 belgische Juden an die Besatzer ausgeliefert und nach Auschwitz deportiert; nur 1.200 davon überlebten.

 

Skandinavien

 

In Dänemark kam es 1819 fünf Monate lang zu antijüdischen Ausschreitungen in Kopenhagen und anderen Städten gegen jüdische Geschäfte, Wohnhäuser und Personen. Diese folgten unmittelbar den deutschen Hep-Hep-Unruhen.

 

1849 erhielten die Juden die bürgerliche Gleichberechtigung und wurden ohne Störungen integriert.

 

In Schweden wurden antijüdische Sondergesetze langsamer abgebaut: 1870 blieben den Juden aber nur noch der Reichsrat und Ministerämter verwehrt.

 

In Norwegen wurde Juden der Zuzug bis 1851 ganz verboten. Ein antisemitischer Rassenhass war jedoch in keinem der drei Staaten feststellbar.

 

In Finnland gestattete Schweden bis 1809 und später Russland keine jüdische Ansiedlung. 1880 begann eine zehnjährige Debatte um die Emanzipation der Juden, bei der ein Teil der Presse sich für die Einführung von Reformen zugunsten der Juden einsetzte, während reaktionäre Stimmen und der Klerus dies ablehnten. Doch bis nach dem Ersten Weltkrieg unterlagen die finnischen Juden etlichen Berufs- und Aufenthaltsbeschränkungen. Während des Zweiten Weltkriegs weigerte sich das mit Deutschland verbündete Land, seine jüdische Bevölkerung zu deportieren.

 

Obwohl in Island immer nur eine Handvoll Juden lebten, existierte ein erstaunlich hoher Antisemitismus. Das isländische Parlament lehnte 1853 eine Bitte des dänischen Königs nach freiem Ansiedlungsrecht und Religionsausübung zuerst ab. Während des Zweiten Weltkriegs verweigerte das Land nicht nur Juden Visa, sondern wies diese auch nach Deutschland aus.

 

Erst unter dem Einfluss des Berliner Antisemitismusstreits kam es auch in Skandinavien unvermutet zu antijüdischen Reaktionen gegen die Judenemanzipation: So polemisierte der norwegische Theologe F.C. Heuch 1879 gegen den jüdischen Literaturhistoriker Georg Brandes, der in Anlehnung an Gotthold Ephraim Lessing einen humanistischen Fortschrittsglauben vertrat. Heuch sah das „glaubenslose Reformjudentum“ als gefährlichen Feind des Christentums, das auf dessen Ausrottung hinarbeite.

 

Ähnlich warnte auch der Kopenhagener Pastor Fredrik Nielsen 1880 vor dem „modernen Judentum“, das von Lessing, Moses Mendelssohn und Abraham Geiger inspiriertes Anti-Christentum sei. Beide hatten jedoch kaum eine nachhaltige Wirkung auf das Geistesleben ihrer Länder.

 

Polen

 

In den Jahren um 1848 hatten sich die Juden Kongresspolens erneut als „glühende Patrioten“ gezeigt und für Unabhängigkeit Polens gekämpft, von der sie sich auch ihre Gleichstellung erhofften. 1862 kam es in Warschau nach gemeinsamen Aufständen gegen die russische Herrschaft zu Verbrüderungen von Christen und Juden, die ihre Gefallenen gemeinsam bestatteten. Der Graf Aleksander Wielopolski verbesserte daraufhin ihre Rechtslage: Sie durften Immobilien erwerben, wurden als Zeugen vor Gericht zugelassen und mussten keine Sondersteuern mehr zahlen.

 

Doch nach dem Scheitern des polnischen Aufstandes 1864 war den Juden Polens die Perspektive der Emanzipation verstellt, während das Wohlstandsgefälle weiter bestand. Nun gewann allmählich eine Ablehnung der Juden an Boden, da diese die Assimilation angeblich verweigerten und man ihnen eine durch ihre Religion bedingte Abschottung unterstellte.

 

Auf die russischen Pogrome von 1881 reagierte das polnische Bürgertum überwiegend empört und schloss ähnliche Gewaltakte für Polen aus. Doch schon am 25. Dezember jenes Jahres kam es in Warschau zu einer tagelangen Plünderung des Judenviertels, nachdem bei einer Massenpanik in einer katholischen Kirche 28 Menschen zu Tode kamen und ein Gerücht Juden dafür verantwortlich machte. Nun schrieb die Warschauer Prawda:

 

„Das polnische Volk hasst die Juden aus religiösen und Rassengefühlen.“

 

Dieser Hass traf vermehrt Juden, die damals ohne Kenntnis polnischer Kultur aus Russland flohen und die wirtschaftliche Konkurrenzsituation zu den ebenfalls unterdrückten Polen verschärften. Das löste auch bei liberalen Intellektuellen häufige Sorgen vor „Überfremdung“ aus.

 

1878 erschienen mit der Schrift Żydzi, Niemcy i my („Juden, Deutsche und wir“) des Journalisten Jan Jeleński (1845–1909) eine erste antisemitische Publikation in Polen. 1887 gründete sich im Schweizer Exil die Liga Narodowa (Nationale Liga) als Geheimbund gegen die russische Fremdherrschaft. Daraus ging 1897 die Partei Narodowa Demokracja (Nationale Demokratie) hervor. Sie suchte bald sozialen und ökonomischen Fortschritt durch Kompromisse mit den Russen auf Kosten der polnischen Juden und Deutschen zu erreichen. Ihr führender Ideologe, Roman Dmowski, schrieb 1903:

 

„Ein nationaler Organismus darf nur das aufsaugen, was er sich zu eigen machen und in eine Vermehrung des Wachstums und der Stärke des Gesamtkörpers umsetzen kann. Ein solches Element sind die Juden nicht… die Aufsaugung einer größeren Menge dieses Elements [würde] uns verderben […], durch Elemente des Zerfalls jene jungen schöpferischen Keimzellen ersetzen […], auf welchen wir unsere Zukunft bauen.“

 

Die nationale Intoleranz sei Folge des Duldens der Juden, da diese unfähig zur Integration seien. Diese Motive des völkischen Antisemitismus griffen nun in Polen wie in Deutschland 20 Jahre zuvor um sich.

 

Bei den polnischen Bauern waren neben nationalen alte religiöse Motive für neuen Judenhass wirksam. Besonders in Posen und Galizien stachelte sie meist der katholische Klerus, die Dorfpriester, gegen die Juden auf. Man denunzierte sie nach ersten Streikwellen und der Russischen Revolution 1905 als heimliche Drahtzieher des sozialrevolutionären Umsturzes. 1911 schrieb z.B. die Lemberger Gazeta Niedzielna:

 

„Das sollt ihr nicht erleben, ihr Herren Juden. Nur eines werden wir euch erleichtern, […] dass ihr so schnell wie möglich euch aus unserem Lande begebt. Wer mit uns bleiben will, der nehme unseren Glauben an und werde Pole…“

 

So bildeten Katholizismus und Nationalismus auf dem Land weithin eine antijudaistische, antidemokratische und antisozialistische Einheit.

 

Auf jüdischer Seite verstärkte dies die Bindung an eigene Tradition und Religion, Hinwendung zum Zionismus und zum proletarischen Sozialismus. Viele Juden lehnten bis 1914 ein unabhängiges Polen ab, weil dieser Nationalstaat ihnen nur größeren Assimilationsdruck versprach. Als Polen 1918 unabhängig wurde, änderte sich dies rasch: Die Zionisten bildeten einen „Nationalrat“, der als Partei für den Sejm (das polnische Parlament) kandidierte und dort die Gleichberechtigung aller Juden Polens – etwa zwei Millionen – forderte. Diese wurde 1930 realisiert.

 

Doch seit dem polnisch-sowjetischen Krieg 1920 wuchs in Polen der offene Antisemitismus. Polens Bischöfe veröffentlichten einen Hilferuf an die Katholiken in aller Welt, in dem sie das Judentum mit dem Bolschewismus gleichsetzten:

 

„Das wahre Ziel des Bolschewismus ist die Welteroberung. Die Rasse, welche die Führung des Bolschewismus in ihren Händen hat, hat schon in der Vergangenheit die Welt mittels des Goldes und der Banken unterworfen, und jetzt, getrieben durch die immerwährende imperialistische Gier, die in ihren Adern pocht, zielt sie schon auf die endgültige Unterwerfung der Nationen unter das Joch ihrer Herrschaft… Bolschewismus ist in Wahrheit die Verkörperung und Fleischwerdung des Antichrist auf Erden.“

 

Der antisemitische Priester und Parlamentarier Kazimierz Lutosławski denunzierte die Juden als Werkzeuge der Russifizierung und Germanisierung und lastete ihnen die Demoralisierung des Volkes, seiner Arbeitskraft, Entchristlichung der Kultur, kurz: die „Vergiftung der Volksseele“ Polens an.

 

Unter anderem auf dem Hintergrund dieser verbreiteten antisemitischen Stereotype, die der katholische Klerus und die nationalkonservativen Parteien stützten und propagierten, wurden Juden von Polen während der deutschen Besetzung dann kaum verteidigt und z.B. 1941 in Jedwabne von den Dorfbewohnern ermordet. Im Herbst 1946 kam es in Kielce und anderen polnischen Orten erneut zu Pogromen an Juden, die den Holocaust überlebt hatten.

 

Siehe auch: Die Geschichte der Juden in Polen

 

Litauen

 

Die in Litauen ansässigen Juden waren ab Mitte des 15. Jahrhunderts wirtschaftlich sehr erfolgreich, was im Jahr 1485 erstmals zu nennenswerten Spannungen führte. Litauen war eines der Zentren jüdischer Kultur in Osteuropa mit eigenen Schulen, einer großen Bibliothek und zahlreichen Toraschulen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wandte sich ein immer größerer Bevölkerungsteil gegen die wirtschaftliche Vormachtstellung der Juden, was 1764 zum Ende der etwa zweihundert Jahre praktizierten jüdischen Selbstverwaltung führte.

 

In den ersten Jahren nach der litauischen Unabhängigkeit 1918 genossen Juden noch beachtliche Privilegien (eigenes Schulsystem, Recht auf freie Benutzung der eigenen Sprache, Anerkennung des Sabbat (Sabbatobservanz), ein Ministerium für jüdische Angelegenheiten sowie die Gleichstellung der Rabbiner mit anderen Geistlichen). 1924 wurden nach dem Erstarken der nationalistischen Partei die jüdische Gemeindeverwaltung unter staatliche Aufsicht gestellt, das Ministerium für jüdische Angelegenheiten aufgelöst und die jüdische Autonomie für innere Angelegenheiten weitgehend eingeschränkt. Unter der autoritär-nationalistischen Regierung Antanas Smetonas verschlechterte sich die Situation der Juden weiter.

 

Nach der sowjetischen Okkupation 1939 wurden jüdische Organisationen aufgelöst, und es kam zum Einzug von Eigentum. Von den 35.000 nach Sibirien deportierten Einwohnern waren 7.000 Juden. Mit dem deutschen Einmarsch im Juni 1941 entfaltete sich der Antisemitismus der litauischen Bevölkerung zu vollem Maß. Bereits ganz zu Beginn der deutschen Offensive waren bei Pogromen mehrere Tausende Juden getötet worden. Im Gesamtbericht der Einsatzgruppe A bis zum 15. Oktober 1941 (Stahleckerbericht) heißt es: „Aufgabe der Sicherheitspolizei musste es sein, die Selbstreinigungsbestrebungen in Gang zu setzen und in die richtigen Bahnen zu lenken, […] ohne dass eine Anweisung deutscher Stellen erkennbar ist. In Litauen gelang dies zum ersten Mal in Kauen durch Einsatz der Partisanen. […] Im Verlauf des ersten Pogroms in der Nacht vom 25. zum 26.6. wurden über 1.500 Juden von den litauischen Partisanen beseitigt, mehrere Synagogen angezündet oder anderweitig zerstört und ein jüdisches Wohnviertel mit rund 60 Häusern niedergebrannt. In den folgenden Nächten wurden in derselben Weise 2.300 Juden unschädlich gemacht. In anderen Teilen Litauens fanden nach dem in Kauen gegebenen Beispiel ähnliche Aktionen, wenn auch in kleinerem Umfang statt

 

Bis Herbst 1941 ist von etwa 80.000 Toten auszugehen. Von den ehemals über 200.000 Juden leben heute in Litauen nur noch 5500.

 

Lettland

 

Während die jüdische Bevölkerung in den Provinzen Kurland und Semgallen auch nach der Einverleibung in das russische Reich 1795 ihre Eigenständigkeit weitgehend beibehalten konnte, wurde den Juden in der Polen zugeschlagenen Provinz Livland verboten, Handel zu treiben oder Abgaben und Zölle zu erheben. 1785 kam es unter russischer Oberhoheit zur Gründung der ersten jüdischen Gemeinde in Livland. Ab 1822 wurde den Juden erlaubt, in Riga zu wohnen und Handel und Gewerbe zu treiben.

 

Während der deutschen Besetzungszeit fanden Vernichtungsaktionen der deutschen Besatzungsmacht gegen Juden statt, die zur fast völligen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Lettlands führten.

 

Estland

 

Die erste jüdische Gemeinde entstand in Tallinn (erste Synagoge 1883). Obwohl es zwischen den Weltkriegen judenfeindliche Strömungen gab, kann nicht von einem bedeutsamen öffentlichen Antisemitismus gesprochen werden. Estland hatte 1941 rund 4500 jüdische Einwohner, von denen ungefähr die Hälfte in die Sowjetunion flüchten konnte. Die bei Ankunft der deutschen Truppen noch im Land befindlichen Personen wurden sofort festgenommen und ermordet oder interniert.

 

Russland, Ukraine, Sowjetunion

 

Im Russischen Reich gab es anfangs kaum Judengemeinden. Dennoch übernahm die orthodoxe Staatskirche neben antikatholischer Polemik den traditionellen Antijudaismus der Patristik, etwa von Johannes Chrysostomos. Die Ikonenmalerei enthielt auch antijüdische Motive. Im Zuge der russischen Ausdehnung nach Westen wurden die Juden Polens oft als Katholikenfreunde betrachtet und grausam verfolgt, so 1563 durch Iwan IV. in Polazk.

 

Der ukrainische Aufstand von 1648 unter Führung des Kosaken-Hetmans Bohdan Chmelnyzkyj richtete sich zwar gegen die Herrschaft des polnischen Adels in den ukrainischen Gebieten Polen-Litauens, doch ein großer Teil seiner Opfer waren Juden, die oft in einer prekären Vermittlerposition zwischen polnischen Magnaten und ukrainischen Bauern standen. Jüdische Opfer werden auf eine Zahl zwischen 10.000 und 200.000 geschätzt. Während der Aufstand in der ukrainischen Geschichtsschreibung als Akt des nationalen Heldentums gilt, sieht die jüdische Geschichtsschreibung darin den ersten Vorläufer der großen neuzeitlichen Judenmorde.

 

Durch die Türkenkriege und drei Teilungen Polens im 18. Jahrhundert gelangten zahlreiche Judengemeinden in den eroberten Gebieten unter russische Herrschaft. 1790 verbot Katharina II. Juden nach anfänglicher Toleranz den Kaufmannsberuf und erlegte ihnen doppelte Steuern auf, um die Moskauer Kaufleute vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen. Gleichwohl mussten sich die leibeigenen Bauern häufig beim jüdischen Kleinbürgertum verschulden, um die hohen Auflagen ihrer Grundherren auszugleichen. Auf dieser Basis kam es schon 1825, dann erneut 1841 und 1871 in Odessa zu Ausschreitungen gegen die Juden der Region. Die auf dem Land verbreitete Judenverachtung spiegelt sich auch in der damaligen Literatur, etwa in Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers (1852).

 

Zar Nikolaus I. (1796–1855, 1825 bis 1855 Kaiser von Russland und 1825 bis 1830 letzter gekrönter König von Polen) betrieb eine harte antijüdische Politik: 1835 begrenzte er den Hauptwohnsitz der Juden im Russischen Reich auf den sogenannten Ansiedlungsrayon (Tscherta osedlosti), dieser umfasste 15 Gouvernements des Kernreichs und zehn weitere im Königreich Polen. Die orthodoxe Staatskirche begrüßte diese Ghettoisierung als Chance zur konzentrierteren Judenmission; der konservative russische Adel und das Großbürgertum sahen darin eine willkommene Abwehr des parlamentarischen „Virus“ aus Westeuropa.

 

Die 1861 erfolgte „Bauernbefreiung“ von Alexander II. (Kaiser von 1855 bis 1881) gestattete ehemals leibeigenen Bauern den Landerwerb, was Gebildeten und Begüterten – darunter relativ vielen Juden – eher zugutekam. Dies vergrößerte den Neid und Judenhass der einfachen Bevölkerung noch. Ihre Vorurteile vertrat auch Dostojewski in seinem einflussreichen Tagebuch eines Schriftstellers 1877:

 

„Da kam nun der Befreier und befreite das autochthone Volk – und was nun: Wer stürzte sich als Erster darauf als ein Opfer, wer benutzte vorzugsweise seine Laster, wer umwand es mit seinem ewigwährenden goldenen Gewerbe, wer ersetzte sogleich, wo er nur konnte und gelegen kam, die abgeschafften Gutsherren? Mit dem Unterschied, dass die Gutsherren, wenn sie die Leute auch stark ausgebeutet hatten, dennoch bestrebt waren, ihre Bauern nicht zugrunde zu richten, meinetwegen um ihrer selbst willen, um ihre Arbeitskraft nicht zu erschöpfen; aber den Hebräer kümmert die Erschöpfung der russischen Kraft nicht, er nahm das Seine und ging…“

 

Erst unter Alexander II. durften einige reiche russische Juden außerhalb der Ghettos wohnen und ihre Kinder auf höhere Schulen schicken. Seine Ermordung am 1. März 1881 aber löste eine Pogromwelle aus: Staatlich lancierte Gerüchte lasteten den Mord und die schlechte Versorgungslage der jüdischen Minderheit an, um den Unzufriedenen ein Ventil für das Ausbleiben einer vom Zaren versprochenen Landreform zu öffnen. In den Folgemonaten verwüsteten und plünderten arbeitslose verarmte Bauern, die sich dabei auf einen angeblichen Zaren-Befehl beriefen, über 100 jüdische Gemeinden vor allem in der Ukraine. Die Behörden blieben untätig, und die christliche Stadtbevölkerung duldete die Übergriffe. Nur wenige orthodoxe Kleriker versuchten, die Bauern von den Exzessen abzubringen.

 

Zar Alexander III. (er regierte von 1881 bis 1894) verordnete dann am 3. Mai 1882 die so genannten Maigesetze, die die Juden an freier Berufswahl und Gewerbefreiheit hinderten und vielfach in noch größere Armut stürzten. Der Prozentanteil jüdischer Gymnasiasten wurde auf 10% beschränkt. Sie lösten die erste Alija (Einwanderungswelle) von Juden nach Palästina aus. In dieser Zeit begannen einige Intellektuelle gegen die judenfeindlichen Staatsmaßnahmen zu protestieren, darunter Odessas Erzbischof Nikanor. Auch der „russische Lessing“, der Religionsphilosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjow setzte sich neben der Wiedervereinigung von orthodoxer und katholischer Kirche für nachhaltige gegenseitige Achtung von Juden und Christen ein (Das Judentum und die christliche Frage 1884). Er fand die rückhaltlose Zustimmung von Leo Tolstoj.

 

Gerade in der Priesterschaft griff die judenfeindliche Hetze um sich. Bildungsrückstand und traditionelle Verbindung von staatlicher Despotie und Kirche trugen dazu bei. So fand die Ritualmordanklage im 19. Jahrhundert gerade in Russland prominente Fürsprecher und Popularität. Seit 1881 kam die Gleichsetzung des Judentums mit revolutionären Umtrieben hinzu, die wegen der Bildung einer jüdischen sozialistischen Partei und des relativ hohen Anteils von Juden in der russischen Sozialdemokratie plausibel wirkte. Die Gegenrevolutionäre vereinten sich in Gruppen wie dem Bund des russischen Volkes oder dem Erzengel-Michael-Bund, die unter orthodoxen Priestern viel Zulauf hatten. Diese Kreise produzierten und veröffentlichten die Hetzschrift „Protokolle der Weisen von Zion“, durch die bis heute antisemitisches Gedankengut weltweit verbreitet wird.

 

Die zweite große Pogromwelle wurde wahrscheinlich von solchen Gruppen organisiert. Sie begann am Osterfest 1903 in Kischinjow und griff rasch auf Gomel, dann Hunderte weiterer Orte über. Der gesetzlich vorgeschriebene Eingriff des Militärs unterblieb, und die Regierung stellte die Pogrome als angeblich „spontane Racheakte“ der christlichen Bevölkerung an jüdischen Revolutionären hin. Das wiederholte sich während der ersten russischen Revolution 1905.

 

1903 erschienen erstmals die Protokolle der Weisen von Zion als Flugschriften auf Russisch, um die Bevölkerung zu Pogromen gegen Juden aufzuhetzen. 1905 gab Sergej A. Nilus sie als Anhang in seinen Büchern heraus; der Text stammte vom zaristischen Geheimdienst Ochrana und fasste dessen antisemitische Motive zusammen. Im Anschluss an ältere russische und französische Vorläufer und Vorlagen stellte das Pamphlet eine Verbindung zwischen Sozialismus bzw. Bolschewismus, Kapitalismus, Freimaurerei und Zionismus her. Es führte neuzeitliche Revolutionen, Kriege und andere negativ gedeutete Ereignisse auf eine angebliche Geheimelite des Judentums zurück, die eine angebliche jüdische Weltherrschaft zum Schaden aller übrigen Völker anstrebe. Damit begründete es auch die Vorstellung eines jüdischen Bolschewismus. Die deutsche Übersetzung und Veröffentlichung von 1920 schaffte die Voraussetzung dafür, dass diese Verschwörungstheorie in der Weimarer Republik und besonders im Nationalsozialismus als „tödliches Mobilisierungs- und Manipulationsinstrument“ fungieren konnte.

 

Nach der russischen Revolution 1905 wurden die antijüdischen Gesetze weiter verschärft und blieben bis zur Februarrevolution 1917 in Kraft. So war der russische Antisemitismus, gestützt auf den ländlichen Antijudaismus, eine kaum verhohlene halboffizielle Maßnahme zur Verhinderung der Sozialrevolution. In diesen Jahrzehnten erfolgte die zweite und dritte Alijah von Juden nach Palästina.

 

Die Februarrevolution unter Alexander Fjodorowitsch Kerenski brachte allen Minderheiten, auch den Juden, 1917 die rechtliche Gleichstellung. 140 antijüdische Gesetze wurden aufgehoben. Doch im Russischen Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution kam es zu den bislang schwersten Pogromwellen in den von den „weißen“ Konterrevolutionären besetzten Gebieten. Dabei starben – vor allem in der Ukraine – etwa 60.000 Juden.

 

Danach waren Christen wie Juden der gleichen antireligiösen Staatspropaganda und Unterdrückung ausgesetzt. Die vorherige Gleichsetzung von Judentum und Kommunismus im orthodoxen Klerus sorgte mit dafür, dass die KPdSU die Synagogen nicht bevorzugte und ihre Lehrer wie die der Kirche für fortgesetzten Religionsunterricht mit Zwangsarbeit oder in Schauprozessen mit dem Tod bestrafte. Im ersten Jahrzehnt nach der Revolution beschränkten sich die antijüdischen Aktionen des Staates hauptsächlich auf Aktivitäten gegen die Religion und deren Ausübung. Es gab z. B. Kampagnen gegen den Sabbat, gegen andere jüdische Festtage oder gegen das Backen von ungesäuertem Brot (Matze). Alle jüdischen Schulen, Heradim wie Jeschiwoth, wurden geschlossen, religiöse Publikationen durften nicht mehr erscheinen, und es kam zu einigen publizitätsstarken Prozessen gegen säkulare wie religiöse jüdische Institutionen und deren Träger. Die Verhaftung, Verurteilung und Ermordung von Klerikern und die Schließung von Synagogen im größeren Umfang begann dann 1928. Die Verwischung der Grenzen zwischen Antisemitismus, Antizionismus und der Unterdrückung religiöser Lebensformen setzte erst Mitte der 1930er Jahre ein.

 

Stalin aktivierte den orthodoxen Antijudaismus seit 1936 gegen alle abweichenden Meinungen und Gruppen in der KPdSU, besonders gegen vermeintliche oder tatsächliche Trotzkisten. Zwar lockerte er seit 1941 einige der antireligiösen Gesetze, um den traditionellen christlichen russischen Patriotismus gegen den Überfall Hitlerdeutschlands und seiner Verbündeten zu mobilisieren. Davon waren die Judengemeinden jedoch ausgenommen, obwohl ihre Angehörigen die Heimat nicht minder aufopferungsbereit verteidigten. Russische Juden wurden häufig aus der Bevölkerung bei sowjetischen Behörden angezeigt bzw. denunziert und den Besatzern ausgeliefert. Die Rote Armee unternahm anfangs nichts gegen die Ghettoisierung der polnischen Juden.

Etwa 2005 veröffentlichtes Archivmaterial u.a. des Zentralkomitee der KPdSU datiert den staatlich organisierten Antisemitismus auf 1938 (Kostyrtschenko 2005). Damals fragten führende Parteiorgane nach der angeblichen „Verunreinigung“ der Kader (Angestellten) im Volkskommissariat für Gesundheit: Die Hälfte der Familiennamen auf dieser Liste waren „jüdisch“. Von 1942 bis 1944 häuften sich innerparteiliche antisemitische Dokumente. In den Kriegsjahren ließ Stalin die Wirkungen dieses latenten Antisemitismus im Staatsapparat aus innen- und außenpolitischen Gründen möglichst bremsen.

 

Tschechoslowakei

 

Die Lage der Juden verbesserte sich mit den von Ideen des aufgeklärten Absolutismus und von jüdischen Aufklärern (Haskala) geprägten Reformen des österreichischen Kaisers Josephs II.. So gestattete das Toleranzpatent für das böhmische Judentum von 1781 diesen jede Form von Handwerk und Handel.

 

Mit dem im Zuge der nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts einhergehenden Gegensatz zwischen Tschechen und Deutschen mussten die Juden sich für die Zugehörigkeit zu einer dieser Kulturen entscheiden. Die von Integrationsbemühungen seitens der Tschechen führten zu einer verstärkten „Germanisierung“ der tschechischen Juden, sodass z.B. 1890 74% der Prager Juden Deutsch als ihre Umgangssprache angaben.

 

In Böhmen und Mähren war ab 1867 die volle Gleichberechtigung der Juden gesetzlich garantiert. Dennoch wurden die Juden mit „Deutschtum“ und kapitalistischer Ausbeutung in Zusammenhang gebracht. Nach dem gescheiterten Versuch der Wiener Regierung, sowohl deutsch als auch tschechisch zur Amtssprache zu erheben, kam es im ganzen Land zu einem Sturm auf deutsche Institutionen und darauf folgenden antisemitischen Ausschreitungen. Großes Aufsehen erregte im Jahr 1899 die sogenannte Hilsner-Affäre, als in Nordböhmen ein ermordetes Mädchen aufgefunden wurde. Der Verdacht fiel auf den jüdischen Schustergesellen Leopold Hilsner, dem vorgeworfen wurde, das Mädchen aus rituellen Gründen ermordet zu haben, um ihr Blut beim Pessachfest zu benutzen. Hilsner wurde zum Tode verurteilt (später in eine lebenslange Haft umgewandelt).

 

Unter dem ersten Präsidenten der tschechoslowakischen Republik Tomáš Garrigue Masaryk und seinem Nachfolger Edvard Beneš war Antisemitismus offiziell nicht akzeptiert, und die Juden waren voll gleichberechtigt. Dies endete mit dem Einmarsch deutscher Truppen im Jahr 1938. Von den 118.310 Juden aus den tschechischen Ländern konnten 26.100 emigrieren, und 78.000 fielen dem Holocaust zum Opfer.

 

Ungarn

 

In Ungarn entwickelte sich eine Stimmung, welche die reinrassige Kultur der Ungarn durch Juden gefährdet sahen. Wegen der Teilnahme vieler Juden an der Revolution von 1918/19 hatte sich der Begriff ‚Judeobolschewik‘ in konservativen Kreisen verbreitet. Nach dem Zerfall der Monarchie wich der liberale, eher tolerante Nationalismus einem eher radikalen und autoritären, aus Antisemitismus, Nationalismus, Revanchismus und aggressiver Christlichkeit bestehenden Konservativismus.

 

Rumänien

 

Im 19. Jahrhundert wurden über 200 Judengesetze erlassen, von denen etliche später dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland als Vorbild dienten. Beim Entwurf der rumänischen Verfassung 1866 wurde überlegt, ob nicht die Juden ein Hindernis für Unabhängigkeit, Prosperität und Kultur des Landes seien. Artikel 7 („Nur Fremde christlichen Glaubens können rumänische Staatsbürger werden“.) grenzte diese Juden dann auch als Staatsbürger aus. Als der Berliner Kongress von Rumänien in den Artikeln 43 und 44 seines Schlussdokuments die Gleichberechtigung der Juden forderte, reagierte der Abgeordnete Vasile Conta am 5. September 1879: „Wenn wir nicht gegen das jüdische Element kämpfen, sterben wir als Nation“. Der Schriftsteller Ioan Slavici schlug gar Pogrome zur Lösung des Problems vor: „Erwürgen wir sie, werfen wir sie in die Donau, damit auch nicht der kleinste Rest von ihnen übrig bleibt“.

 

Von 1900 bis 1906 emigrierten über 70.000 Juden in Richtung Amerika. Diese starke Abwanderung erregte die Weltöffentlichkeit und veranlasste die amerikanische Regierung zur Absendung der sogenannten Hay-Note im Jahr 1902, welche die europäischen Mächte auf die Missachtung des Berliner Vertrags durch Rumänien verwies.

 

Das nächste Aufflammen von Antisemitismus fand kurz nach dem Ersten Weltkrieg statt. 1923 hatte Corneliu Zelea Codreanu nach dem Vorbild des italienischen Faschismus die nationalistische, antisemitische Legion des Erzengels Michael (Legiunea Arhanghelul Mihail) gegründet, die sich ab 1931 Eiserne Garde nannte. Alexandru C. Cuza in Iași forderte 1926 und wieder 1935 im Namen einer Liga apararei nationale crestine (Liga der völkisch-christlichen Verteidigung) die Eliminierung (Entfernung) aller Juden, deren Gleichstellung nur durch die Pariser Vorortverträge 1920 von außen erzwungen worden sei. Diese „Parasiten“ sollten irgendwo als Bauern angesiedelt werden, aber nicht auf Kulturboden und schon gar nicht in Palästina, das den Moslems und Christen gehöre. Es gäbe viel zu viele Juden an den rumänischen Universitäten, z.B. an seiner eigenen in Jassy.

 

Auch nach dem Tod Codreanus 1937 blieb die „Eiserne Garde“ aktiv. 1940 kam es auf Druck der Nationalsozialisten zu einer Koalitionsregierung von General Ion Antonescu und Codreanus extrem antisemitisch eingestelltem Nachfolger Horia Sima, welche ein enges Bündnis mit Deutschland einging. Unter dieser Militärdiktatur wurden die rumänischen Juden dann besonders brutal verfolgt, wobei die Schätzungen über die Zahl der Ermordeten zwischen 300.000 und 400.000 schwanken.

 

Bulgarien

 

Im Jahr 1878 wurden im Unterschied zu Rumänien, wo sie bis nach dem Ersten Weltkrieg als meist Staatenlose der Willkür der Behörden preisgegeben waren, alle Juden eingebürgert. Nach 1878 gab es erstmals vereinzelte antisemitische Übergriffe. In den Jahren während des Ersten Weltkriegs sowie unter dem Regime von Aleksandar Zankow nach dessen Putsch 1923 wurden antisemitische Ideologien und Aktivitäten dagegen stärker.

 

Ein von der bulgarischen Regierung im Oktober 1940 verkündetes und im Januar 1941 verabschiedetes antisemitisches Gesetz zum Schutze der Nation führte zu massiven Protesten aus der Bevölkerung, von bekannten Intellektuellen und seitens der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche. Auf Grund der Ablehnung des nationalsozialistischen Antisemitismus in weiten Teilen der bulgarischen Gesellschaft und weiterer Proteste gelang es auch, Deportationen der ca. 50.000 Juden aus den vor 1940 zu Bulgarien gehörenden Gebieten zu verhindern. Über 12.000 Juden aus den bulgarisch besetzten Gebieten in Griechenland und Jugoslawien wurden in deutsche Vernichtungslager deportiert und dort ermordet.

 

Kroatien

 

Der Antisemitismus der Balkanregion muss in Hinsicht auf die lange Beherrschung durch die multinational geprägte, aber dennoch im Kern katholische österreichische k.u.k. Monarchie sowie das Osmanische Reich, ihre nationalen Befreiungsbewegungen, die kurzen Abschnitten nationaler Selbstständigkeit sowie die anschließende Okkupation durch Deutschland im Rahmen des Zweiten Weltkriegs betrachtet werden. Generell ist festzustellen, dass sich die Lebensbedingungen der Juden des Balkans nach den Reformen der k.u.k. Monarchie ab den 1870er-Jahren verbesserten.

 

Der Antisemitismus in Kroatien bewegte sich im gesamteuropäisch üblichen Rahmen. Allerdings ermöglichte der vorherrschende Katholizismus und die in Relation zu europäischen Kernstaaten verzögert einsetzende Aufklärung dem unter anderem durch das Motiv des Gottesmordes geprägten Antijudaismus eine längere Lebensdauer.

 

Ebenso wie in Tschechien wurden die Juden im Verlauf nationaler Bestrebungen des 19. Jahrhunderts mit der als „überfremdend“ empfundenen „anderen Nation“ identifiziert. So galten die oft die kroatische Sprache nicht vollkommen beherrschenden und stattdessen ungarisch sprechenden „kroatischen Juden“ als Ausländer und wurden im Zusammenhang mit den „Magyarisierungsbestrebungen“ der österreichisch-ungarischen Herrschaft gesehen. Um die Jahrhundertwende erschienen in Zagreb Zeitschriften wie Hrvatsko kolo, welche die nun erstarkten antijüdischen Tendenzen formulierten.

 

Mit Erreichung der nationalen Unabhängigkeit im 1918 proklamierten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen schwächten sich diese Erscheinungen jedoch nicht ab, sondern intensivierten sich.

 

Aufgrund der wirtschaftlichen Folgeschäden des Krieges entlud sich die Unzufriedenheit des Volkes in pogromähnlichen Ausschreitungen gegen Juden und deren Besitz in Form von Plünderungen und Zerstörungen ihrer Geschäfte und Häuser.

 

Es kam zur Vertreibung von Juden, die erst seit kurzer Zeit auf dem Territorium des neuen Staates lebten und demnach nicht das Recht auf die jugoslawische Staatsbürgerschaft besaßen. Weitere diskriminierende Maßnahmen waren der Ausschluss von den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung sowie die Verwehrung des Zugangs von Juden zu diplomatischen Berufen.

 

Trotz der genannten Diskriminierungen ist das Ausmaß des Antisemitismus in Kroatien im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten wie Polen oder Russland als eher gering einzustufen. Von einem durchgehend staatlich gelenkten oder parteiprogrammatisch geforderten Antisemitismus kann nicht ausgegangen werden.

 

1941 wurde das Land zum deutschen Vasallenstaat (Unabhängiger Staat Kroatien) unter der faschistischen Diktatur der Ustascha-Bewegung Ante Pavelićs, welche die Nürnberger Gesetze übernahm und Serben, Juden und Roma systematisch verfolgte und ermordete.

 

Serbien

 

1941, mit der Zerschlagung des Königreichs Jugoslawien, wurde Serbien von den Nazis besetzt und ebenfalls zum deutschen Vasallenstaat (Serbien im Zweiten Weltkrieg) unter der faschistischen Diktatur der ZBOR-Bewegung unter der Führung von Milan Nedić, welche die Nürnberger Gesetze übernahm. Juden und Roma wurden systematisch verfolgt und ermordet. In den Jahren 1941 und 1942 fand in Belgrad eine Anti-Freimaurer-Ausstellung statt, die Teil der propagandistischen Kampagne der serbischen Nazi- Kollaborateursregierung war und von der Stadtverwaltung Belgrads finanziert wurde. Im Juni 1942 wurde Belgrad als erste Stadt Europas für „judenrein“ („očišćen od Jevreja“) erklärt. Vier Fünftel der serbischen Juden verloren in dieser Zeit ihr Leben.

 

USA

 

Die Puritaner hatten als Calvinisten das Alte Testament großgeschrieben. Die Sehnsucht nach freier Religionsausübung war ein Hauptmotiv für ihre Auswanderung in die damals noch britischen Kolonien. Die in der Bill of Rights 1776 verankerte religiöse Toleranz ließ die USA zum idealen Ziel vieler in Europa bedrängter und religiös verfolgter Gruppen, auch der Juden werden.

 

Bis 1850 lebten nur etwa 60.000 Juden in den USA. Seit den russischen Pogromen von 1881 kamen jährlich 6.000 russische Juden dazu. Bis 1910 stieg die Zahl der amerikanischen Juden so auf insgesamt zwei Millionen. Um 1930 lebten schon über vier Millionen Juden in den USA. Dieser enorme Zuzug führte zu regionalen Spannungen, die 1921 zu einer gesetzlichen Begrenzung der jüdischen Zuwanderung vor allem aus Südosteuropa durch ein Quotensystem führten.

 

Seit 1879 tauchten deutsche und französische antisemitische Schriften in der US-amerikanischen Öffentlichkeit auf. Der deutsche Lehrer und Antisemit Hermann Ahlwardt versuchte seit 1896, auch in den USA nach deutschem Vorbild eine antisemitische Partei zu gründen, scheiterte jedoch.

 

Freikirchen hatten in den USA ein traditionelles Interesse an der Judenmission. Um 1900 wurde diese von über 30 Konfessionen und Verbänden gepflegt. Aber schon 1890 kam es zu einer nationalen Konferenz von Juden und Christen, die einander besser kennenlernen wollten, zusammen Vorträge hörten und beteten. Die Abschlusserklärung proklamierte, dass jede ungerechte Behandlung von Juden und ihr Ausschluss zu sozialen Vorteilen „unamerikanisch“ und „unchristlich“ seien.

 

Erst im Gefolge des Ersten Weltkriegs entstand auch in den USA eine antisemitische Strömung. Dafür war seit 1920 vor allem die Kampagne von Henry Ford verantwortlich. Gegen seine öffentlichen Anklagen in der Zeitung Dearborn Independent erhoben sich jedoch sofort anhaltende Proteste von vielen Seiten, darunter dem Verband der Churches of Christ in America. In Großannoncen veröffentlichten u.a. 119 angesehene Bürger ihre Abscheu vor Fords antisemitischen Hetzparolen:

 

„Antisemitismus ist fast unabänderlich verbunden mit Gesetzlosigkeit, Brutalität und Ungerechtigkeit. Er ist ebenso unausweichlich verflochten mit anderen dunklen Gewalten, vornehmlich jenen, die korrupt, reaktionär und voll Unterdrückung sind. Wir glauben, der Kampf gegen diese Pest sollte nicht den Männern und Frauen jüdischen Glaubens überlassen bleiben…“

 

1927 widerrief Ford angesichts des breiten innenpolitischen Widerstands seine antisemitische Erklärung und brach die Kampagne ab.

 

Eine gewisse Nachwirkung zeigte sich an manchen Hochschulen: So führte zum Beispiel die Yale University 1925 ein diskriminierendes Aufnahmesystem ein, das Kinder von nichtjüdischen Absolventen bevorzugte, um so den Anteil jüdischer Studierender zu begrenzen.

 

In den 1930er-Jahren waren Radiosendungen des antisemitischen katholischen Priesters Charles Coughlin sehr beliebt. Auch der Luftfahrtpionier Charles Lindbergh, der in der amerikanischen Öffentlichkeit beträchtliches Ansehen genoss, vertrat antisemitische Ansichten. Er war 1936 und 1938 zu Besuch im nationalsozialistischen Deutschland, wo er von Hermann Göring mit großem Pomp und mit viel propagandistischem Wirbel empfangen wurde. Nach einer Umfrage von 1939 waren 53 Prozent der US-Bürger der Ansicht, dass Juden anders seien und Einschränkungen unterliegen sollten. 10 Prozent hielten Deportationen für angebracht. Verschiedene Untersuchungen zwischen 1940 bis 1946 belegten, dass sie als eine größere Gefahr für das Wohl der Vereinigten Staaten angesehen wurden als jede andere national, religiös oder rassisch definierte Gruppe.

 

In den Südstaaten ist unter den weißen Protestanten die Ablehnung „jüdischer Yankees“ der „Wallstreet“ – also der städtischen Hochfinanz der Nordstaaten – zum Teil bis heute verwurzelt.

 

Japan und China

 

Nach Japan waren seit 1854 einige wenige Juden ausgewandert, die sich kaum von anderen westlichen Einwanderern unterschieden und auch nicht anders wahrgenommen wurden. Antisemitismus war unter Japanern unbekannt, bis westliche Bildungsliteratur – vor allem das Neue Testament und William Shakespeare – ins Japanische übersetzt wurden. Nach Lenins Oktoberrevolution 1917 veröffentlichten die mit den Japanern gegen die Bolschewisten verbündeten weißrussischen Truppen erstmals antisemitische Propaganda in Japan, wonach die Revolution eine Verschwörung von Juden gewesen sei. 1919 wurden die Protokolle der Weisen von Zion ins Japanische übersetzt.

 

Die politische Annäherung des von der Weltwirtschaftskrise ebenso gebeutelten Japans an Deutschland begann 1930. Damit einher ging der Import von nationalsozialistischer Propaganda, darunter Hitlers Mein Kampf.

 

Als Reaktion auf den europäischen Antisemitismus und um die USA zu Investitionen in Japan zu bringen, erwog die japanische Regierung seit 1930 mit dem Fugu-Plan, Zehntausende jüdische Flüchtlinge aus Europa anzuwerben und in der Mandschurei anzusiedeln. Man glaubte, Juden könnten Japans Wohlstand mehren und seine internationalen Handelsbeziehungen – besonders zu den USA, die man unter der Kontrolle amerikanischer Juden wähnte – verbessern. Der Plan war also nicht judenfreundlich, sondern aus dem aus Europa übernommenen Glauben an eine jüdische Weltherrschaft motiviert.

 

1938, nach dem Anschluss Österreichs, gewann der Plan konkrete Gestalt; doch nach dem Pakt Japans mit Deutschland und Italien 1941 blieb die Umsetzung aus. Die Regierung schürte den großjapanischen Nationalismus, ohne jedoch die in Japan lebenden Juden zu verfolgen. Erst aufgrund einer deutschen Intervention wurden in Kōbe Juden verhaftet.

 

In China wurde ein jüdisches Ghetto in Shanghai eingerichtet (Hongkou-Ghetto). 

    

Brasilien

 

In Brasilien fanden die Rassetheorien aus Deutschland und Frankreich auch bei Intellektuellen positive Aufnahme. Der brasilianische Diktator Getúlio Dornelles Vargas hatte ab 1936 die Erteilung von Einreisevisa für verfolgte Juden verboten, zudem wurden zahlreiche Juden an Nazi-Deutschland ausgeliefert. In keinem Land außerhalb Deutschlands besaß die NSDAP mehr Mitglieder.

 

 

Antisemitismus (nach 1945)

 

Antisemitismus bezeichnet seit 1945 keine politisch organisierte Massenbewegung und staatlich propagierte und vollstreckte Ideologie mehr, wie sie sich bis 1945 entwickelt hatte. Gleichwohl verschwanden Judenhass, rassistische und antisemitische Vorurteile nach dem Holocaust nicht.

 

Die Antisemitismusforscher Herbert A. Strauss und Norbert Kampe schrieben 1985 dazu,

 

„dass selbst die monströsen Konsequenzen des ‚Antisemitismus an der Macht‘ nicht die Weiterexistenz antisemitischer Stereotypen verhindert hat. Ohne die von gewalttätigen Randgruppen ausgehende Gefahr verkleinern zu wollen, scheint die Verbreitung eines Antisemitismus im Zustand der Latenz das Hauptproblem darzustellen.“

 

– Herbert A. Strauss, Norbert Kampe: Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust

 

Diese Einschätzung hat sich seit den Anschlägen vom 11. September 2001 verschärft und zu einer neuen Antisemitismusdebatte geführt. Dieser Begriff steht dabei weiterhin für Formen pauschaler Judenfeindlichkeit, deren Vertreter Juden mit lange überlieferten und eingeübten Klischees und Stereotypen als übermäßig einflussreiches Kollektiv betrachten, für alle möglichen negativen Zeiterscheinungen verantwortlich machen und so bedrohen.

 

Öffentliche antisemitische Hetze gegen Juden und andere Minderheiten ist in einigen Staaten strafbar, in Deutschland etwa als Volksverhetzung, in Österreich als Verhetzung bzw. NS-Wiederbetätigung oder in der Schweiz als Rassismus.

 

Begriff

 

Antisemitismusforschung

 

„Antisemitismus“ war eine Wortschöpfung deutscher Judengegner im 19. Jahrhundert: Sie wandten sich gegen einen angeblichen „Semitismus“, den es weder als geistige noch politische Größe gab. Sie definierten damit das Judentum nicht als Religion, sondern als fremde Rasse mit unveränderbaren Eigenschaften, die die Integration, Assimilation und Emanzipation der jüdischen Minderheit in Europa illusorisch und gefährlich erscheinen ließen. Diese Ablehnung erstreckte sich auch auf alle möglichen Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft, die mit „jüdischem Wesen“ in Verbindung gebracht und verschwörungstheoretisch aus Plänen eines angeblichen Weltjudentums erklärt wurden. Mit Rassentheorien wurde dieser Judenhass pseudowissenschaftlich untermauert und gewann dann im Nationalsozialismus seine beispiellose vernichtende Wirkung.

 

Seit der Shoah hat diese ausgeformte Ideologie ihren gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Rückhalt verloren. Judengegner bezeichnen sich kaum noch als Antisemiten und verdecken ihre weiterwirkenden Vorurteile oft durch Abgrenzung vom Rassenantisemitismus. Dennoch nennen Historiker und Politologen politische und ideologische Tendenzen, die sich mit typischen judenfeindlichen Klischees verbinden, weiterhin „Antisemitismus“. Für die angelsächsische und israelische Antisemitismusforschung ist dies der Oberbegriff für alle komplexen Motive und Traditionen pauschaler Judenfeindschaft. Sie überträgt damit den fehlgeprägten Rassenbegriff der Antisemiten auch auf nichtrassistisch begründete Judenfeindlichkeit, betont also eher deren Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Daher wird der Begriff heute oft als Synonym für „Judenfeindlichkeit“ verstanden.

 

Deutsche Antisemitismusforscher dagegen verwenden den Begriff meist für die besondere antiemanzipatorische Strömung, die sich von etwa 1789 an in Mitteleuropa etablierte, im Deutschen Kaiserreich politisch organisierte und sich im 20. Jahrhundert zum Faschismus und zum Nationalsozialismus steigerte. Sie gilt hier als eigenständiges Phänomen gegenüber Antijudaismus und sonstigem Rassismus, der eher eine Minderwertigkeit der verachteten Gruppe unterstellt. Dagegen unterstellen Antisemiten „den Juden“ meist einen übergroßen Einfluss, Gefährlichkeit und Machtstreben bis hin zur Weltherrschaft. Bis heute lasten sie diesem vermeintlichen Kollektiv negative Begleitumstände von komplexen gesellschaftlichen Vorgängen wie Urbanisierung oder Globalisierung an und verbinden sie mit Ideologien wie Antikapitalismus, Antikommunismus und Islamismus.

 

Diese Vorurteilsstruktur zeigt sich auch dort, wo keine Juden leben oder man keine kennt. Jean-Paul Sartre befand in seinen Überlegungen zur Judenfrage (1946), dass man nicht durch Erfahrungen zum Antisemiten werde, sondern durch ein psychologisches Bedürfnis nach solch einem Ressentiment. Er stellte die These auf: „Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden.“ Dieses chimärische Judenbild ist durch Hinweise auf Fakten kaum korrigierbar und immunisiert sich gegen Korrektive von außen: ein Merkmal aller klassischen Verschwörungstheorien.

 

Zur Sündenbock-Funktion trat seit 1945 ein sekundärer Antisemitismus, der unbewältigte sozialpolitische Defizite und unverarbeitete Schuldgefühle wieder auf die Nachkommen der Holocaustopfer projiziert. Diese Vorurteilsstruktur zeigt sich in dem 1986 von Henryk M. Broder in Umlauf gebrachten und einem israelischen Psychoanalytiker namens Zvi Rex zugeschriebenen „Bonmot“: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“ Die 2005 im Berliner Taschenbuch Verlag herausgekommene Ausgabe von Der ewige Antisemit führt das Bonmot nicht mehr auf Zvi Rex, sondern „einen klugen Israeli“ zurück: „Und Auschwitz, sagte mal ein kluger Israeli, ‚Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen‘.“Wo nicht das Judentum, sondern ihm zugeschriebene Eigenschaften abgelehnt werden, spricht man von einem „strukturellen“ Antisemitismus.

 

EUMC-Arbeitsdefinition

 

Im Januar 2005 veröffentlichte die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) eine Arbeitsdefinition als Grundlage für die Beobachtung antisemitischer Tendenzen in den 25 europäischen Mitgliedsstaaten der EU mit dem Ziel einer konsistenteren Koordinierung bei der Feststellung und Strafverfolgung antisemitischer Straftaten. Sie lautet:

 

     „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die man als ‚Judenhass‘ bezeichnen kann.

 

     Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus sind gegen jüdische oder nichtjüdische Individuen und/oder gegen ihr Eigentum, gegen Institutionen der jüdischen Gemeinden und gegen religiöse Einrichtungen gerichtet.

 

     Außerdem können solche Manifestationen gegen den Staat Israel – angesehen als jüdische Gemeinschaft – gerichtet sein.

 

     Antisemitismus klagt Juden häufig der Verschwörung zum Schaden der Menschheit an und wird oft benutzt, um Jüdinnen und Juden dafür verantwortlich zu machen, ‚wenn etwas falsch läuft‘. Er drückt sich in Worten, in schriftlicher und visueller Form und in Taten aus und verwendet dazu unheilvolle Stereotypen und negative Charakterzüge.“

 

Die folgende Beispielliste führt auf:

 

  • „Den Aufruf, die Unterstützung oder die Rechtfertigung, Jüdinnen und Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen religiösen Sicht zu töten oder zu schädigen.
  • Das Äußern verlogener, entmenschlichender, dämonisierender oder stereotyper Behauptungen über Juden als solche oder über die kollektive Macht von Jüdinnen und Juden, etwa besonders, aber nicht begrenzt auf, den Mythos einer jüdischen Weltverschwörung oder die jüdische Kontrolle der Medien, der Wirtschaft, der Regierung oder anderer gesellschaftlicher Einrichtungen.
  • Die Beschuldigung, dass Juden als Kollektiv Verantwortung trügen für das reale oder vermeintliche Vorgehen einzelner oder einer Gruppe von Jüdinnen und Juden oder selbst für solche Handlungen, die von nicht-jüdischen Menschen begangen wurden.
  • Die Leugnung der Tatsache, des Umfangs, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) oder der Absicht des Genozids am jüdischen Kollektiv seitens des nationalsozialistischen Deutschlands und seiner Unterstützer und Verbündeten während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
  • Die Beschuldigung der Jüdinnen und Juden als Kollektiv oder des Staates Israel, den Holocaust erfunden oder dramatisiert zu haben.“

 Die Handreichung definiert auch Haltungen als antisemitisch, die sich oft als Antizionismus oder Antijudaismus ausgeben oder so eingeordnet werden:

 

     „Die Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts von Jüdinnen und Juden, z.B. durch die Behauptung, der Staat Israel sei ein rassistisches Projekt.

 

     Die Anwendung doppelter Standards, indem an Israel Verhaltensansprüche gestellt werden, die von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder gefordert werden.

 

     Die Anwendung klassisch-antisemitischer Symbole und Bilder (z.B. der Vorwurf, dass Juden Jesus töteten, oder die Behauptung von Blutopfern) für die Charakterisierung Israels oder der Israelis.

 

     Der Vergleich der aktuellen Politik Israels mit der der Nazis.

 

     Die Behauptung einer Kollektivverantwortung der Jüdinnen und Juden gegenüber der Politik des Staates Israel.“

 

Festgestellt wird jedoch auch:

 

„Allerdings kann Kritik an Israel dann nicht als antisemitisch eingestuft werden, wenn sie in ähnlicher Weise auch gegenüber anderen Ländern geäußert wird.“

 

Im Rahmen eines Antrages „Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern“ beschloss der 16. Deutsche Bundestag am 4. November 2008, die EUMC-Arbeitsdefinition „für die Arbeit staatlicher Behörden zu empfehlen“.

 

Die Arbeitsdefinition wurde im Dezember 2013 von der Website der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte gelöscht. Die Justizabteilung der Europäischen Kommission sagte dazu, dass „weder die Kommission noch die EU eine feste Definition von Antisemitismus haben und dass es keine Bestrebungen gibt, eine zu erschaffen“. Der Verzicht auf die Definition wurde vom American Jewish Congress und der Nichtregierungsorganisation Honest Reporting kritisiert.

 

Bundesrepublik Deutschland

 

Nachkriegszeit

 

Der Zweite Weltkrieg beendete zwar mit dem NS-Regime auch den Antisemitismus als herrschende Staatsideologie. Aber dies war nicht auf einen Wandel der Einstellungen in der Bevölkerung, sondern auf die strengen Maßnahmen der alliierten Siegermächte sowie die „Re-Education“ (Umerziehung) zurückzuführen. Diese konfrontierten die Deutschen in den Kriegsgefangenenlagern mit den Verbrechen, die in ihrem Namen und mit ihrer aktiven und passiven Beteiligung begangen worden waren. So mussten beispielsweise Bürger Weimars das KZ Buchenwald besuchen, die Frankfurter mussten sich Dokumentationsfilme über die KZ Dachau und Buchenwald anschauen, ehe Lebensmittelkarten verteilt wurden. Die Reaktionen waren in fast allen Fällen identisch: „Davon haben wir nichts gewusst.“

 

In den folgenden Jahren fand so gut wie keine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus statt. Die Deutschen waren mit dem Überleben und Alltagssorgen befasst, die Vergangenheit wurde verdrängt und tabuisiert. Nach statistischen Studien der US-Besatzungszone sahen sich 1945 23%, 1946 21%, 1948 noch 19% der Befragten als Antisemiten. Bis zu 40% der übrigen Befragten teilten antisemitische Einstellungen, obwohl sie sich nicht als Antisemiten sahen. 1952 stieg der Anteil der „bekennenden“ Antisemiten auf 34% an.

 

Die auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 beschlossene Entnazifizierung der Deutschen wurde mangels ausgebildeter Verwaltungsbeamter und wegen des aufbrechenden Kalten Krieges zwischen den Alliierten nicht konsequent durchgeführt. Das westliche Kriterium für einen Nationalsozialisten, die Mitgliedschaft in der NSDAP oder ihren Unterorganisationen, fragte nicht nach dem Grad der aktiven Schuld; das östliche, der Antifaschismus, blieb ebenfalls unklar. Vielfach stellten Kirchenbeamte ehemaligen Nazis „Persilscheine“ aus. Die alliierten Kontrollorgane trauten den Kirchenvertretern pauschal politische Urteilsfähigkeit zu, obwohl auch sie diese 1933–1945 hatten vermissen lassen und selbst oft Antisemiten waren.

 

Zu den höchstens 10.000 überlebenden deutschen Juden kamen nach Kriegsende nochmals 90.000 verschleppte jüdische Zwangsarbeiter. 1946 und 1947 waren überlebende Juden, die in ihre Heimatdörfer zurückkehren wollten, in Polen, der Ukraine und Russland neuen Pogromen ausgesetzt. Etwa 290.000 Ostjuden flohen daher nach Deutschland und wurden dort in 60 Lagern untergebracht, die zum Teil bis 1954 bestanden. Die westlichen Staaten nahmen nur sehr wenige dieser displaced persons („entwurzelten Personen“) auf; auch die USA lockerten ihre Einreisebestimmungen für sie erst 1948.

 

Wegen der allgemein angespannten Versorgungslage konnten gerade die „Lagerjuden“ vielfach nur durch den Schwarzmarkt überleben und stießen bei den Deutschen daher auf wachsende Ablehnung. 1946 führten 180 deutsche Polizisten mit Hunden eine Razzia in einem jüdischen DP-Lager in Stuttgart durch, erschossen einen KZ-Überlebenden und verletzten drei weitere; aufgedeckt wurde lediglich der Schwarzhandel mit einigen Hühnereiern. 1952 blockierten Bewohner des DP-Lagers Föhrenwald die Fahrzeuge von 115 Beamten des Zolls und der Finanzbehörden, die geschützt von 33 Polizisten die kleinen Lagergeschäfte überprüfen wollten. Die verärgerten Staatsdiener reagierten mit Rufen wie „Die Krematorien gibt es noch“ oder „Die Gaskammern warten auf euch“, ein Warnschuss wurde abgegeben. Die Ablehnung der Juden zeigte sich ab 1949 auch an häufigen Schändungen jüdischer Friedhöfe. Diese nahmen 1950 bei den ersten Gerichtsprozessen gegen ehemalige Nazis, z.B. den Filmproduzenten von Jud Süß, Veit Harlan, noch zu. Im Gerichtssaal kam es zu antisemitischen Ausschreitungen. In Leserbriefen zeigten viele Schreiber ihren unveränderten Judenhass. Der Bürgermeister von Offenbach verweigerte einem jüdischen Arzt die Anstellung in der städtischen Frauenklinik. Die Sozialistische Reichspartei fand raschen Zulauf und konnte 1951 in mehrere Landtage einziehen, bis sie im Folgejahr vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde.

 

Eine ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit fand in der Politik kaum statt; sie ging von privaten oder kirchlichen Initiativen aus. So begannen sich seit 1948 die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit zu bilden. 1952 riefen sie erstmals zu einer Woche der Brüderlichkeit auf, die Bundespräsident Theodor Heuss eröffnete. Jedoch blieben diese Wochen in den Folgejahren von der Allgemeinheit kaum beachtete philosemitische Rituale.

 

Die Frage der Rückerstattung von ehemals jüdischen Vermögenswerten und von der „Arisierung“ Betroffenen blieb zunächst Sache deutscher Landesregierungen. Als diese sich bis 1947 auf kein gemeinsames Gesetz einigen konnten, erließ zuerst die US-Militärverwaltung eine entsprechende Regelung, der die übrigen Besatzungszonen folgten. In der SBZ tat dies nur Thüringen; in der späteren DDR gab es ein ähnliches Gesetz zur Wiedergutmachung wie im Westen nicht.

 

Bis zur Gründung der Bundesrepublik 1949 war in vielen Tageszeitungen oft zu lesen, dass die Überwindung des Antisemitismus Grundvoraussetzung der geistigen Erneuerung Deutschlands sei und bleibe. Dies schärfte der US-amerikanische Hochkommissar im Juli 1949 kurz vor der ersten Bundestagswahl nochmals ein:

 

„Die Welt wird die neue deutsche Regierung beobachten. Ein Maßstab in der Beurteilung ihrer Handlungen wird sein, in welchem Umfang ihre Führer eine Atmosphäre schaffen, in der Juden und alle Minoritäten sich in der Ausübung ihrer Rechte sicher fühlen können. […] Das Leben und das Wohlergehen der Juden in Deutschland wird ein Prüfstein der demokratischen Entwicklung in Deutschland sein.“

 

Konrad Adenauer erwähnte die Juden in seiner ersten Regierungserklärung jedoch mit keinem Wort. Erst in späteren Interviews machte er deutlich, dass er die Bekämpfung des Antisemitismus, die Bestrafung von NS-Verbrechen, Reparationen an Israel und den Aufbau jüdischer Gemeinden in der Bundesrepublik fördern wolle.

 

1951 begannen direkte Verhandlungen der Bundesregierung mit Israel, die 1952 zum Luxemburger Abkommen führten. Dazu trug auch die westdeutsche Presse bei: Der Präsident des Hamburger Presseamtes, Erich Lüth, rief 1951 die Aktion Friede mit Israel ins Leben, um den Antisemitismus zu bekämpfen und die Trauer über die Massenvernichtung in den NS-Lagern einzuüben.

 

Die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich zeigten 1967 in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern, dass die meisten Deutschen ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus kaum verarbeitet hatten. Daher konnten emotionale Bindungen an autoritäre und antisemitische Denkmuster unbewältigt und unverstanden fortwirken. Die NS-Verbrechen blieben weitgehend tabuisiert. Die Autoren resümierten:

 

„Vorerst fehlt das Sensorium dafür, dass man sich zu bemühen hätte – vom Kindergarten bis zur Hochschule –, die Katastrophen der Vergangenheit in unseren Erfahrungsschatz einzubeziehen, und zwar nicht nur als Warnung, sondern als die spezifisch an unsere nationale Gesellschaft ergehende Herausforderung, mit ihren darin offenbar gewordenen brutal-aggressiven Tendenzen fertig zu werden.“

 

Geschichtsverdrängung und Geschichtsfälschung

 

Nach 1945 begann der Kampf um die Deutungshoheit über die Verbrechen der Nazis. Zuerst wurden sie verdrängt oder den finsteren Plänen nur weniger führender Nationalsozialisten zugeschrieben. Die Nürnberger Prozesse wurden vielfach als Siegerjustiz wahrgenommen. Auch die Auschwitzprozesse (1963–1965 und 1977–1981) veränderten die übliche Abwehrhaltung kaum. Eine Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit trat im Wirtschaftswunderland zunächst zurück.

 

Etwa ab 1965 begann die Holocaustleugnung mit der „Auschwitzlüge“. Dieser Begriff wurde im Zusammenhang mit Wahlerfolgen der NPD propagiert. Ihr Ziel war der „Nachweis“, dass der Holocaust eine Erfindung „der Juden“ sei, um Deutschland als Tätervolk zu brandmarken und politisch-finanzielle Reparationen zu „erpressen“. Dieses Motiv gehört seitdem zum Standardrepertoire des deutschen Rechtsextremismus.

 

Weiter verbreitet ist heute die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen. Dabei wird die Besonderheit des Holocaust bestritten, indem seine historischen Ursachen verallgemeinert oder umgedeutet werden. Ernst Nolte löste 1986 einen Historikerstreit aus mit der These, die deutschen Konzentrationslager seien eine Reaktion auf Stalins massenvernichtende Gulags und Umsiedlungspolitik gewesen.

 

Begünstigt wurde dieser Geschichtsrevisionismus durch historische Ansätze, die eher auf die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Erscheinungsformen von Judenfeindlichkeit pochten. Diese Differenzierung trug zu Verharmlosung bei: Heute tarnen Antisemiten ihre prinzipielle Judenfeindschaft oft als Antijudaismus, Antizionismus oder allgemeine Kapitalismuskritik und setzen sich vom Nationalsozialismus ab. Doch ihre Ideologien enthalten oft Motive, die bekannten antisemitischen Stereotypen sehr ähneln.

 

Antisemitismusdebatte

 

Im Zusammenhang der Kollektivschuld-Debatte wurde erstmals die Forderung laut, die Vergangenheit zu den Akten zu legen. Diese Mentalität ist seitdem gewachsen und zeigt sich fast jedes Mal, wenn die Nazizeit öffentlich thematisiert oder berührt wird; z.B.:

  • im Streit um die Wehrmachtsausstellung, die 1995 bis 1998 und 2001 bis 2004 die aktive Teilnahme der Wehrmacht und ihre Kooperation mit der SS bei der Judenvernichtung nachwies;
  • im Streit um Zwangsarbeiter-Entschädigungen: Hier zeigte sich eine unzureichende Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit bei vielen Unternehmen, die Zahlungen zunächst verweigerten;
  • im Streit um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin: Nachdem Opferverbände erfuhren, dass eine Tochterfirma der I.G. Farben am Bau des Mahnmals beteiligt war, zogen sie ihre Unterstützung dafür zurück.

 Hinzu kamen weitere Debatten im Zusammenhang verschiedener Affären, oft ausgelöst durch Einzeläußerungen, in denen die fortdauernde Problematik des Umgangs mit der NS-Vergangenheit sichtbar wurde.

 

Die Probleme einer historisch angemessenen Bewertung der „Mitläufer“ des NS-Regimes zeigte der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger in seiner Rede zum Jahrestag der Novemberpogrome 1938 im Jahre 1988. Er sprach – rhetorisch ungeschickt und im leidenschaftslosen Tonfall – von Hitlers „Leistungen“ vor 1938, die große Bevölkerungsteile dazu gebracht habe, ihm zu folgen. Das löste öffentliche Empörung aus, wegen der Jenninger zurücktrat. Der Zentralrat der Juden in Deutschland stellte sich allerdings offen hinter Jenninger. Ignatz Bubis demonstrierte die „Unbedenklichkeit“ seiner Rede, indem er später weite Teile daraus ohne Angabe der Quelle selbst hielt.

 

Der amerikanische Historiker Daniel Goldhagen eröffnete 1996 mit seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker eine neue Debatte über den Anteil „gewöhnlicher Deutscher“ am Holocaust. Er vertritt die These, ein in der deutschen Bevölkerung tief verwurzelter besonderer eliminatorischer Antisemitismus sei die zentrale Ursache des Holocaust gewesen. Er wandte sich damit besonders gegen die Strukturalisten, denen zufolge nicht der Antisemitismus, sondern die Strukturen von NS-Staat und NSDAP die Vernichtung der Juden verursacht hätten. Sein Buch wurde gegen Goldhagens erklärte Absicht als Neuauflage der Kollektivschuldthese aufgefasst.

 

Martin Walser erklärte in seiner Dankesrede zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998, Auschwitz werde als „Moralkeule“ und zur „Dauerrepräsentation unserer Schande“ benutzt. Das Erinnern werde zum Ritual und zur Pflichtübung. Es müsse jedem überlassen werden, wann und wie er sich erinnern wolle, und Vergessen müsse erlaubt sein. Dafür fand Walser viel Zustimmung, aber auch Kritik. Ignatz Bubis als damaliger Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland setzte sich – aus seiner Sicht erfolglos – öffentlich mit Walser auseinander. Danach sah er sein Lebenswerk – die Versöhnung mit den Deutschen auf der Basis gemeinsamen Erinnerns an den Holocaust – als gescheitert an.

 

Auch Walsers Roman Tod eines Kritikers (2001), der unübersehbar auf den jüdischen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki anspielte, fand viel Kritik. Ein Teil der Feuilletonisten (z.B. Frank Schirrmacher) warf ihm vor, er arbeite mit antisemitischen Klischees. Diese Vorwürfe fasste Matthias N. Lorenz in seiner Dissertation zusammen: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck.“ Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Er stieß damit in der Öffentlichkeit auf große Resonanz, fand aber bei Rezensenten und Feuilletonisten wenig Zustimmung.

 

Der US-amerikanische Politologe Norman Finkelstein warf in seinem Buch Die Holocaust-Industrie (2001) den jüdischen Opferverbänden und ihren Anwälten vor, sie hätten seit 1967 gezielt eine „Industrie“ der Holocausterinnerung geschaffen, um vergangenes jüdisches Leiden skrupellos auszubeuten. Sie eigneten sich einen Teil der angeblich überhöhten Reparationen an den Staat Israel an, während Einzelentschädigungen viel zu niedrig seien. Damit zog er den Vorwurf des Antisemitismus seitens der Kritisierten, aber auch darüber hinaus auf sich. Seine Thesen werden von deutschen Rechtsextremisten begeistert aufgegriffen, für die „die Juden“ als Urheber und Eintreiber von vermeintlich überhöhten Finanzlasten durch vermeintlich ungerechtfertigte Entschädigungsansprüche gelten.

 

Mit dem Wahlkampfflugblatt Jürgen Möllemanns versuchte 2002 erstmals ein Spitzenpolitiker einer etablierten Partei, durch ressentimentgeladene öffentliche Kritik an Juden und an Israel Stimmen aus dem rechten Spektrum zu gewinnen. Dieser Tabubruch löste eine neue Antisemitismus-Debatte aus.

 

Das in Coburg erscheinende Szenemagazin Kult bediente bei seiner Kritik am Staat Israel auch antisemitische Stereotype, indem es 2002 öffentlich forderte: „Don’t buy Jewish!“

 

Der deutsche CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann erklärte 2003 in einer Wahlkampfrede in seinem Wahlkreis Fulda/Hessen, ebenso wie die Deutschen im Blick auf Hitlers Verbrechen könnte man die Juden als Tätervolk bezeichnen, weil Juden maßgeblich an der russischen Oktoberrevolution 1917 und folgenden sowjetischen Verbrechen beteiligt gewesen seien. Damit wollte er diesen Begriff für die Deutschen abwehren. Seine heftig diskutierten Äußerungen führten später zu seinem Ausschluss aus der CDU. Auch der Bundeswehrgeneral Reinhard Günzel, der öffentlich Partei für Hohmann genommen hatte, wurde daraufhin in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.

 

Der Dramatiker Rolf Hochhuth erklärte in einem Interview mit der Zeitschrift Junge Freiheit 2005: Der britische Holocaustleugner David Irving sei „sehr viel seriöser als viele deutsche Historiker“. Dass Irving seit 1993 nicht mehr in die Bundesrepublik einreisen darf, führte Hochhuth auf „Verleumdung“ zurück. Irving sei ein „fabelhafter Pionier der Zeitgeschichte“, der Vorwurf, er sei ein Holocaustleugner, „einfach idiotisch“. Auf die Aussage Irvings angesprochen, in Auschwitz habe es keine Gaskammern gegeben, dort seien „weniger Menschen umgekommen als 1969 auf dem Rücksitz Edward Kennedys“, sagte Hochhuth: „Da hat er seiner nicht ganz unbritischen Neigung zum schwarzen Humor auf zynische Weise freien Lauf gelassen. Wahrscheinlich ist er wahnsinnig provoziert worden, ehe er das gesagt hat. Als Historiker ist er ein absolut seriöser Mann.“

 

Bei diesen unterschiedlichen Debatten ging es immer um den heutigen Umgang mit den Verbrechen der NS-Zeit und um die Folgerungen daraus. Die Verantwortung, die die Deutschen als „Volk der Täter“ (Lea Rosh) bis heute und in Zukunft dafür zu tragen haben, wird zunehmend als Belastung, nicht als Chance empfunden. Dabei erschienen neue Vorwürfe gegen Juden: Sie wollten die Schuldgefühle der Deutschen verlängern (Goldhagen-Debatte), um sich am Holocaust zu bereichern (Finkelstein-Debatte) und ihre eigenen „Verbrechen an den Palästinensern“ zu tabuisieren (Möllemann-Debatte). Dabei lässt sich eine Akzentverschiebung beobachten: Wurde früher gefordert, eine Debatte über deutsche Schuld müsse beendet werden, so wurde nun verlangt, eine Debatte über Israels vermeintliche Schuld müsse „wieder möglich“ sein.

 

Bei diesen Debatten wurde stets die Situation der hier lebenden jüdischen Minderheit übersehen. Deutsche Juden mussten in jedem öffentlichen Streit vermehrte Anfeindung und Bedrohung erleben. Politiker wie Möllemann und Hohmann bedienten dabei gewollt oder ungewollt latente oder offene Wünsche nach einer „Entlastung“ von früherer Schuld und heutiger Verantwortung, um rechtsradikales Wählerpotential zu erreichen. In vielen Reaktionen aus der Bevölkerung zeigte sich ein antisemitischer „Bodensatz“ sowie der „sekundäre“ Antisemitismus, der Juden nicht trotz, sondern wegen des Holocaust und seiner Folgen ablehnt und abwertet.

 

Latenter Antisemitismus

 

Unter „Latenz“ versteht die soziologische Vorurteilsforschung Ansichten und Vorurteilsstrukturen, die nicht notwendig mit offen gezeigter Ablehnung verbunden sind. Wieweit latente Strukturen statistisch nachweisbar sind, ist in der Forschung umstritten: unter anderem, weil sich Antisemitismus nicht nur an ausdrücklichen judenfeindlichen Zielen manifestiert, sondern auch in Freund-Feind-Haltungen, die Judenhass fördern, dafür anfällig sind und sich dahin entwickeln können.

 

Nach verschiedenen älteren Umfragen (u.a. Allensbach) neigten 1995 mindestens 15 bis zu 25% der deutschen Bevölkerung antisemitischen Meinungen zu oder vertraten sie. Nach einer Forsa-Umfrage vom November 2003 stieg dieser Anteil von 20% (1998) auf im Durchschnitt 23%:

 

  • 28% glaubten, Juden hätten in der Welt zu viel Einfluss.
  • 36% fanden, Juden zögen aus der Vergangenheit Vorteile und ließen die Deutschen dafür zahlen.
  • 61% fanden, man solle endlich einen Schlussstrich unter die Diskussion der Judenverfolgung ziehen.

Die im Juni 2002 veröffentlichte Studie des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts und der Universität Leipzig ermittelte einen deutlichen Anstieg gegenüber 1999 um 5% auf 36% der Befragten, die sich klar antisemitisch äußerten. Das latente antisemitische Potential zeigen auch regionale Wahlergebnisse rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien wie REP, DVU oder NPD, welche bei der Landtagswahl in Sachsen 2004 9,2% errang. Durch populäre Protestparolen erhielten sie dort Zulauf und zumindest vorübergehende Akzeptanz in der Gesellschaft. Dazu scheint neben sozialen Problemen wie der Arbeitslosigkeit, die etablierte Parteien bisher nicht verringern konnten, auch ein mangelndes Bewusstsein gegenüber der Gefahr des Rechtsextremismus beizutragen. Dies zeigte sich in der Folge durch einen Eklat durch den NPD-Fraktionschef im Sächsischen Landtag, der zeitweilig von den Plenarsitzungen ausgeschlossen wurde.

 

Offener rechtsextremer Antisemitismus

 

1949 wurde „Aufruf zum Rassenhass“ zum Straftatbestand. Das hält Rechtsextremisten jedoch nicht davon ab, ihr Weltbild weiter zu pflegen. Antisemitismus ist dort Grundkonsens und eine Art „Ehrensache“, über die intern nicht eigens diskutiert wird. Mit der 1964 neu gegründeten NPD gaben sich alte und neue Nazis eine Parteiorganisation, die sich die Abschaffung des Grundgesetzes zu Gunsten einer Volksgemeinschaft zum Ziel setzt. Da die NPD parlamentarisch wirken will, distanzierte sie sich im Verbotsverfahren nach außen von der Gewalt z.B. der Skinheads.

 

Doch zahlreiche rechtsextreme Gruppen knüpfen auch unabhängig von der NPD bewusst an völkische, deutschnationale, nationalsozialistische Ideologie und Symbole aus der Weimarer Republik an. Diese verbinden sich mit autoritären und aggressiven Verhaltensmustern, Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft zu einem zunehmend gefährlichen Gemisch. Nachdem 1992 eine Reihe dieser Gruppen verboten wurde, unterlaufen sie das staatliche Organisationsverbot heute durch dezentrale Vernetzung als „Freie Kameradschaften“. Sie organisieren sich auch vermehrt als „autonome Nationalisten“ und knüpfen vom Erscheinungsbild und den Aktionsformen her an die Autonomen der 1980er Jahre an.

 

Die Zahl der Rechtsextremisten in Deutschland wird auf etwa 42.000 organisierte, davon etwa 12.000 gewaltbereite geschätzt. Die Dunkelziffer nicht organisierter Sympathisanten ist damit nicht erfasst.

 

Antisemitische Straftaten

 

Gewaltbereitschaft gegen Obdachlose, „Fremde“, Linke, Homosexuelle, Behinderte, Ausländer, Menschen mit dunkler Hautfarbe und auch gegen Juden findet man vor allem bei rechtsextremen Jugendgruppen und Neonazis. Bis 2003 wurden insgesamt mindestens 93 Menschen in Deutschland durch rechtsextreme Gewalt getötet (Dossier der Frankfurter Rundschau).

 

Verlässliche Daten zu antisemitischen Straftaten sind schwer zu finden: Das Bundeskriminalamt z.B. führt keine gesonderte Statistik darüber. Taten mit antisemitischem Hintergrund sind oft nicht als solche erkennbar und werden unter gewöhnlicher Gewaltkriminalität verbucht. Eine Zunahme fremdenfeindlicher und antisemitischer Straftaten ist jedoch unverkennbar. Im Jahr 2000 gab es laut amtlicher Zählung insgesamt rund 15.951 solche Taten: ein Anstieg von 58% gegenüber dem Vorjahr.

 

Antisemitisch sind vor allem Zerstörungsaktionen gegen jüdische Friedhöfe. Diese haben seit dem Mittelalter gerade in deutschsprachigen Gebieten eine lange Tradition. Sie geschehen auch heute noch vermehrt während der Karwoche und um den 9. November (das Hauptdatum der Novemberpogrome 1938) herum; vermutet werden daher antijudaistische und neonazistische Hintergründe. Anders als bei anderen Grabschändungen sind jüdische Gräber nicht von zertrampelten Beeten, geraubten Blumen oder Leuchten betroffen, sondern vom Umstürzen und Zertrümmern der Grabsteine oder Grabplatten, Herausreißen von Grabbegrenzungen, Eintreten von Friedhofstoren usw. Hinzu kommen Schmähparolen in Graffiti-Form wie: „Juda verrecke“, „Tod den Juden“, „Juden raus“, „Sieg Heil“, „Blut und Ehre“, „Viertes Reich“, „SS“, „SA“, „Judenschwein“, „Judensau“.

 

Solche Schändungen werden seit 1945 statistisch zu erfassen versucht. Registriert wurden in Deutschland bis 1990 rund 1000 gemeldete Fälle; die vermutete Dunkelziffer liegt weit höher. Von 1990 bis 2000 gab es 409 registrierte Fälle, mehr als doppelt so viel wie von 1970 bis 1990. Das Grabmal von Heinz Galinski, dem früheren Leiter des jüdischen Zentralrats, wurde 1998 zwei Mal gesprengt, so dass sein Nachfolger Ignatz Bubis sich in Israel beerdigen ließ.

 

Nach einer Studie von Adolf Diamant aus dem Jahr 1982 konnten nur 36,5% der bis dahin bekannten Fälle aufgeklärt werden; davon ordneten die Behörden 36,2% eindeutig antisemitischen Tätern, den Rest meist „Jugendlichen“ ohne „politische Motive“ zu. Nachfragen ergaben damals, dass die meisten Landesbehörden nicht darüber Buch führten und die angegebenen Motive auf reinen Annahmen beruhten.

 

Auch Synagogen und jüdische Personen sind Ziel von Anschlägen. Einige Fälle seien hervorgehoben:

 

  • 25. März 1994: Brandanschlag Lübeck. Fünf Personen wurden gerettet. Ein Jahr später wurden vier rechtsextreme Täter zu Haftstrafen zwischen zwei und vier Jahren verurteilt.
  • 7. Mai 1995: erneut Brandanschlag Lübeck. Ein angrenzendes Gebäude brannte aus. Die Ermittlungen wurden im August 1997 eingestellt, da es keinen Hinweis auf die Täter gab.
  • Im September und im Dezember 1998 wurden auf das Grab Heinz Galinskis auf dem Jüdischen Friedhof Heerstraße in Berlin-Westend zwei Sprengstoffanschläge von unbekannten Tätern verübt. Dabei wurde der Grabstein fast vollständig zerstört.
  • 20. April 2000: Brandanschlag Erfurt, von Anwohnern gelöscht. Zwei jugendliche Täter mit rechtsradikalem Hintergrund wurden ein Jahr später zu Haftstrafen von ein bis zwei Jahren verurteilt.
  • 27. Juni 2000: Bombenanschlag Düsseldorf. Eine versteckte, vorher platzierte Rohrbombe verletzte zehn russische Emigranten, davon sechs Juden. Der Anschlag wurde bisher nicht aufgeklärt. Die jüdische Gemeinde dort erhält seitdem viele Drohbriefe. Eine bundesweite Debatte über rechtsextreme Gefahr danach blieb folgenlos.
  • 6. Oktober 2000: Steinwürfe auf die Berliner Synagoge am Fraenkelufer. Als Täter werden arabischstämmige Jugendliche ermittelt.
  • November 2003: knapp vereitelter Anschlag auf die Festversammlung zur Wiedereröffnung der Münchner Synagoge. Als Initiator wurde der Neonazi Martin Wiese ermittelt, er und einige Mittäter wurden zu Haftstrafen verurteilt.
  • 28. August 2012: Ein Rabbiner wurde von vier Jugendlichen vor den Augen seiner Tochter beleidigt und angegriffen. Die jungen Männer sprachen den 53-Jährigen nach Erkenntnissen der Ermittler wegen seiner Kippa an und fragten, ob er Jude sei. Einer der Jugendlichen schlug daraufhin mehrfach zu und verletzte den Mann am Kopf. Dem Mädchen drohten die Täter mit dem Tod.
  • 26. September 2012: Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, wurde nach dem Besuch einer Synagoge in Berlin bedroht. Der Täter erkannte Kramer wahrscheinlich anhand eines mitgeführten Siddur, eines Gebetsbuches, als Jude, forderte ihn auf, „dahin zurückzukehren wo er herkomme“, und drohte ihm Gewalt an. Kramer war mit seinen beiden Kindern unterwegs.

Die Jahresberichte des Bundesamts für Verfassungsschutz notierten anhand eingeleiteter Ermittlungsverfahren

 

  • 1991: 388,
  • 1992: 628,
  • 1994: 1366,
  • 1999: 817,
  • 2000: 1378,
  • 2001: 1406,
  • 2002: 1515,
  • 2003: 1199,
  • 2004: 1316 antisemitische Straftaten,

von 1998 bis 2002 insgesamt rund 3400.

 

Auch Graffiti-Anschläge auf Erinnerungsstätten des Holocaust haben sich seit der deutschen Einheit enorm vermehrt. Die Täter werden besonders in Deutschland nur sehr selten gefunden. Die Verfolgung von Grabschändungen wird hier meist nach fünf Monaten eingestellt. Die Aufklärungsrate liegt im europäischen Vergleich fast an letzter Stelle.

 

Antisemitische Straftaten werden vor allem von Journalisten wie Anton Maegerle, Medien wie dem SPD-nahen Blick nach Rechts und Privatinitiativen registriert, etwa in Form einer regelmäßig veröffentlichten „Chronik des Hasses“. Seit 2002 erstellt die Amadeu Antonio Stiftung kontinuierlich eine Chronik antisemitischer Vorfälle, die sie auf ihrer Homepage dokumentiert.

 

Politische Linke

 

Politisch linksgerichtete Organisationen bekämpfen traditionell die Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen und deren Rechtfertigungen aufgrund völkischer, rassistischer oder sozialdarwinistischer Kriterien. Jedoch gibt es auch hier antisemitische Tendenzen. Das Identifizieren von „raffenden“ Kapitalisten und Juden ist beispielsweise eine Erscheinung, die in linken Organisationen seit Jahrzehnten auftaucht. Diese Tendenzen stoßen bei linken Analytikern auf Kritik, Robert Kurz spricht hier beispielsweise von einer „politischen Ökonomie des Antisemitismus“.

 

Antisemitische Stereotype zeigen in dieser Sichtweise manche Karikaturen und Plakate, die Vertreter des Finanzkapitals mit Zügen darstellen, die als „typisch jüdisch“ bzw. als Anspielung auf das Klischee vom „Weltjudentum“ interpretiert werden: z. B. einen Bankdirektor als Marionettenspieler oder eine weltumspannende Krake. Während der Debatte um eine Aussage Franz Münteferings, der Manager von US-amerikanischen Hedgefonds mit Heuschrecken verglich, zeigte das Titelblatt des Mitgliedermagazins der IG Metall vom April 2005 eine Mücke mit einer gekrümmten Nase und einem Zylinder in den Farben der US-Flagge mit dem Untertitel „US-Firmen in Deutschland – Die Aussauger“. Dies fand wegen der Ähnlichkeit mit antisemitischer NS-Propaganda starke Kritik. Der Gewerkschaftsvorsitzende Jürgen Peters verteidigte das Bild jedoch als „Freiheit der Kunst“.

 

Seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 richtete sich auch das Augenmerk vieler westdeutscher Antiimperialisten – ähnlich wie im arabisch-islamischen Raum – auf das Zusammenspiel der Weltmacht USA mit dem von ihr unterstützten Staat Israel. Die Kritik daran führte zur Solidarisierung mit dem „Befreiungskampf des palästinensischen Volkes“ gegen den angeblichen „Stellvertreter des US-Imperialismus in Nahost“. Dabei unterstützten manche antiimperialistischen Gruppen kritiklos auch Palästinenser-Organisationen, die Israels Existenzrecht verneinen. So heißt es etwa bei Linksruck: „Hamas und Hisbollah sind Teil [des] rechtmäßigen palästinensischen Widerstands. Wer Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im Nahen Osten will, muss den Widerstand der Palästinenser unterstützen.“ Diese Solidarität mit Feinden Israels wird als „linker Antisemitismus“ bezeichnet, und es wird auf „Schnittmenge[n] linker Politik und islamischer Religion“ in der Bekämpfung Israels verwiesen. So heißt es bei haGalil: „Hierzu gehört unter anderem eine Organisation namens ‚Linksruck‘, deren Mitglieder schon mal die ‚bedingungslose Solidarität‘ mit der islamistischen Terroristenorganisation ‚Hamas‘ beschwören.“

 

Besonders ambivalent war dabei die RAF. Während Ulrike Meinhof zwar Palästinas Kolonialisierung kritisierte und Israels Schutz als Aufgabe der Linken sah, blieb ihre Kritik an palästinensischen Verbündeten auch dort aus, wo diese Israels Existenzrecht in Frage stellten. In ihrer Analyse der Geiselnahme von München 1972, als ein palästinensisches Terrorkommando elf israelische Sportler kidnappte und anschließend ermordete, lassen sich Stereotype eines sekundären Antisemitismus nachweisen, der durch Umkehrung von Täter- und Opferrollen den Holocaust relativiert und von nationaler Verantwortung entlastet. Während Meinhof die Terroristen des Schwarzen September als „gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch“ rühmt, wird die Heimat ihrer Opfer durchgängig mit dem Dritten Reich assoziiert: So schreibt Meinhof von „Israels Nazifaschismus“, bezeichnet Verteidigungsminister Mosche Dajan als „Himmler Israels“ und setzt die nationalsozialistische Ausrottungspolitik mit der Kompromisslosigkeit der Regierung Meir gleich: Sie habe die Sportler „verheizt wie die Nazis die Juden“. Bei der Flugzeugentführung von Entebbe 1976 behandelten die Geiselnehmer – zehn Palästinenser und zwei deutsche Mitglieder der Revolutionären Zellen – israelische Staatsangehörige getrennt von den übrigen Passagieren und bedrohten sie mit dem Tod. Diese an die Praxis in den Vernichtungslagern gemahnende Selektion führte zu Irritationen in der linken Szene, ein Aufschrei in ihr blieb aber aus. Deutsche Linke blieben bis in die Gegenwart teilweise antizionistisch und antiisraelisch eingestellt.

 

In den 1980er Jahren rief eine längere Kampagne der antiimperialistischen Linken zum Boykott gegen Israel auf. Zudem wird die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete oft mit der Besatzungspolitik der Nazis in Polen oder der Sowjetunion verglichen.

 

Aufgrund der gelegentlichen Verwendung antisemitischer Stereotype in der globalisierungskritischen Bewegung diskutierte z.B. Attac das Verhältnis zwischen Globalisierungskritik – besonders an den Finanzmärkten – und Antisemitismus. Fortan soll beides strikt getrennt werden. Auch in anderen linken Gruppen führte Kritik etwa seitens der Antideutschen zu einer kritischen Reflexion antisemitischer Aussagen, zu ihrer Einstellung oder zur Isolation der Betroffenen innerhalb der linken Bewegung.

 

In der Tageszeitung resümiert Philipp Gessler eine Position des Antisemitismus-Experten Klaus Holz, der eine Konvergenz von Rechts- und Linksextremismus in den neuen Formen des Antisemitismus beobachtet: „An dieser Stelle taucht das auf, was neu am heutigen Antisemitismus genannt werden kann, ohne dass man dies ‚Neuer Antisemitismus‘ nennen muss: Es ist, vor allem seit den Anschlägen vom 11. September 2001, eine ideologische Angleichung des Judenhasses über ursprünglich weit entfernte Ideologien und Milieus hinweg, wie der Antisemitismus-Experte Klaus Holz erklärte. Im Kern ist es ein antisemitischer Antizionismus, auf den sich radikale Islamisten, Neonazis und zum Teil auch Linksextremisten einigen können. Sie alle sehen die Welt und sich selbst als Opfer einer irgendwie gearteten jüdisch-zionistisch-kapitalistischen Verschwörung in Politik, Wirtschaft und Medien, die sich stark mit antiamerikanischen, globalisierungskritischen und antimodernen Ideen mischt. ‚Die Juden‘ werden dabei als die treibenden Kräfte hinter den Kulissen imaginiert, die zusammen mit der US-Regierung und Israel eine Weltherrschaft etablieren möchten, die die Völker zerstört.“

 

Muslime

 

Laut einer vom Bundesinnenministerium beauftragten Studie aus dem Jahr 2007 tendieren muslimische Schüler überdurchschnittlich stark zu antisemitischen Vorurteilen. Von 500 befragten jungen, in Deutschland aufgewachsenen Muslimen stimmten 15,7% dem Satz zu, dass Menschen jüdischen Glaubens überheblich und geldgierig seien. Die Zustimmung zu diesem Vorurteil war damit doppelt so hoch wie bei anderen Einwanderer-Jugendlichen und fast dreimal so hoch wie in der originär deutschen Altersgruppe. Eine große Rolle dabei spielen laut Grünen-Chef Cem Özdemir türkische und arabische Medien. Sie trügen eine sehr verzerrte und stereotype Sicht auf Israel und die Juden in die Wohnzimmer nach Deutschland.

 

In einer repräsentativen Studie des Berliner Meinungsforschungsinstituts Info GmbH im August 2012 gaben 18 % der in Deutschland lebenden Türken und Deutschtürken an, Juden als minderwertige Menschen zu betrachten.

 

Gegenwärtige Situation

 

Der im Jahr 2012 das erste Mal vorgestellte Antisemitismusbericht des Deutschen Bundestages stellt fest, dass rund 90 % aller antisemitischen Straftaten von Tätern begangen werden, die dem politisch rechten Spektrum zugeordnet werden. Latent antisemitische Einstellungen, also Denkmuster, die sich nicht in Straftaten äußern, sind „in erheblichem Umfang“ bis „in die Mitte der Gesellschaft“ verankert. Wissenschaftler und Fachleute, die den Bericht erarbeitet haben, konstatieren, dass es diesen latenten Antisemitismus bei etwa 20% der Bevölkerung gebe. Besonders gefährlich erscheine die „Anschlussfähigkeit des bis weit in die gesellschaftliche Mitte reichenden und nicht hinreichend geächteten Antisemitismus für rechtsextremistisches Gedankengut“. Der Bericht erwähnt als Medium zur Verbreitung von Antisemitismus das Internet, in dem Rechtsextreme, Holocaustleugner und extremistische Islamisten ihre Propaganda verbreiten. Der Expertenkreis empfiehlt, dass die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ antisemitische Stereotypisierungen und antisemitische Inhalte im Internet thematisiert.

 

Das Simon Wiesenthal Center veröffentlicht seit 2010 jährlich eine Rangliste der nach Ansicht der Organisation zehn gefährlichsten antisemitischen und gegen Israel gerichteten Verunglimpfungen, auf der bis 2013 jährlich auch Äußerungen von deutschen Publizisten bzw. Zeitungen vermerkt sind.

 

Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland Dieter Graumann warnte 2014 anlässlich des Holocaustgedenktages vor einem „neuen Antisemitismus“ in Deutschland.

 

Nach den letzten Ereignissen in Nahost (Gazakrieg 2014) liegen noch keine vertrauenswürdigen Zahlen und Berichte vor.

 

Deutsche Demokratische Republik

 

In der SBZ gab es eine Diskrepanz zwischen der offiziellen Parteilinie, die die Juden als Opfer des Faschismus anerkannte (wenngleich sie materiell schlechter gestellt wurden als die politisch Verfolgten, die Kämpfer gegen den Faschismus), und der Bevölkerung, die ihren Judenhass besonders im Jahre 1947 durch antisemitische Akte wie Friedhofsschändungen offenbarte.

 

So wurde beispielsweise in der DDR der Holocaust zwar nicht ausgeblendet, aber auch nicht besonders hervorgehoben. Dies entsprach der sowjetischen Linie, den Judenmord nur als sekundäres Merkmal der nationalsozialistischen Diktatur anzusehen. Die jüdischen Opfer wurden als Opfer zweiter Klasse gegenüber kommunistischen Opfern gesehen:

 

„Opfer des Faschismus sind Juden, die als Opfer des faschistischen Rassenwahns verfolgt und ermordet wurden, sind die Bibelforscher und die ‚Arbeitsvertragssünder‘. Aber soweit können wir den Begriff ‚Opfer des Faschismus‘ nicht ziehen. Sie alle haben geduldet und Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft!“

 

Allerdings blieb auch hier der Einfluss Stalins auf die SED nicht ohne Folgen. So erschien 1949 in der DDR, in Anlehnung an den Sprachgebrauch der KPdSU, eine Artikelserie gegen „Kosmopoliten“ und gegen „Amerikanismus“ in der von der SED herausgegebenen Zeitschrift Einheit. Die Lage verschlechterte sich im Zuge der gegen Rudolf Slánský in der CSSR angestrengten Prozesse. Betroffen von der neuen Israelpolitik war beispielsweise der Umgang mit Paul Merker. Merker war zunächst Mitglied des Politbüros der SED, wurde 1950 aus der Partei ausgeschlossen und später zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Vorgeworfen wurden ihm dabei u.a. „zionistische“ Positionen. Auch in der DDR wurden Prozesse gegen Jüdinnen und Juden vorbereitet. Im Frühjahr 1953 flohen ein großer Teil der jüdischen Gemeindevorstände und mehrere hundert Mitglieder der jüdischen Gemeinde in der DDR. Unter ihnen befand sich auch der Präsident des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Julius Meyer. Nach einem Verhör durch die SED-Parteikontrollkommission flüchtete er am 15. Januar 1953 nach West-Berlin.

 

Zu einem Aufleben des populären Antisemitismus kam es in der Sowjetunion nach 1967. Auch die DDR folgte der antizionistischen Politik.

 

Im Politbüro der SED, dem eigentlichen Machtzentrum der DDR, war ab 1958 bis 1989 mit Albert Norden und dem Auschwitz-Überlebenden Hermann Axen durchgängig mindestens ein Jude vertreten.

 

Nach der Wiedervereinigung konnten antisemitische Einstellungen erstmals offiziell untersucht werden. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR waren jedoch nur 4% der Bevölkerung antisemitisch eingestellt, im Vergleich zu 16% der Bevölkerung Westdeutschlands.

 

Frankreich

 

2012 wanderten laut Statistik des israelischen Einwanderungsministeriums etwa 1900 Juden aus Frankreich nach Israel aus; 2013 waren es 3120. Im März 2012 erschoss der Islamist Mohamed Merah während der Anschlagsserie in Midi-Pyrénées vor einer jüdischen Schule in Toulouse drei Schüler und einen Lehrer. Laut der jüdischen Organisation SPCJ (Service de protection de la communauté juive; etwa: Schutzdienst der französischen Gemeinschaft) und dem jüdischen Dachverband CRIF (Conseil représentatif des institutions juives de France) nahm die Zahl antisemitisch motivierter Taten in Frankreich im Jahr 2012 um 58 % gegenüber 2011 zu. Laut einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte beobachten 88% der französischen Juden eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber ihrer Religion in den vergangenen fünf Jahren, 46% erwägen eine Auswanderung. Höher liegen diese Werte nur noch in Ungarn.

 

Eine Diskussion um Dieudonné M’bala M’bala, der als Komiker oder Kabarettist bekannt wurde, bewegt 2014 Frankreich. Sein Programm enthält antisemitische Äußerungen. Innenminister Manuel Valls hält Dieudonnés Auftritte für politische Veranstaltungen, bei denen er antisemitische und rassistische Parolen verbreitet. Ein Auftritt in Nantes und später einer in Tours wurden verboten. Der Conseil français du culte musulman (CFCM) verurteilte am 8. Januar 2014 alle Provokationen unter dem Deckmantel von Humor und Spott.

 

Naher Osten, arabische und islamische Länder

 

Seit etwa 1918 lebten europäische antisemitische Traditionen im Zusammenhang des aufkommenden Nahostkonflikts zwischen Juden, Palästinensern und Arabern wieder auf. In antiisraelischer Propaganda arabischer Medien und Schulbücher wird besonders seit 1967 häufig auf antisemitische Stereotype und Karikaturen zurückgegriffen. Ein Beispiel ist die Charta der Hamas, sie bezieht sich auf die Protokolle der Weisen von Zion. Dies wird meist als Import des europäischen Antisemitismus gedeutet. Zu den Ursachen dafür gehören neben dem Nahostkonflikt auch alte historische, religiös-kulturelle Spannungen zwischen dem Judentum und dem Islam.

 

In Ägypten wies das Oberste Verwaltungsgericht das Innenministerium im Juni 2010 an, Maßnahmen zu ergreifen, dass Männern mit israelisch-jüdischen Ehefrauen und deren Kindern die ägyptische Staatsbürgerschaft entzogen werden kann. Diese Regelung soll nicht für Ehen mit arabischstämmigen Israelinnen gelten. Nach Auffassung des Gerichts müsse verhindert werden, dass eine Generation von „dual citizens“ entstehe, deren „geteilte Loyalitäten“ die nationale Sicherheit Ägyptens gefährdeten.

 

Besir Atalay, der Vizeregierungschef der türkischen Regierung Erdogan, behauptete während der Proteste in der Türkei 2013, diese seien von der jüdischen Diaspora in der Türkei organisiert worden; auch die internationale Presse und andere „ausländische Kräfte“ hätten sich an einer „Destabilisierung“ der Türkei beteiligt.

 

Ostblock

 

Nach 1945 bestand in den Staaten des Ostblocks eine tief verwurzelte Judenfeindlichkeit weiterhin fort.

 

Als klar wurde, dass sowjetische Erwartungen in Bezug auf ein kommunistisches Israel nicht wahr würden, ließ Stalin 1952 die Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees ermorden, nachdem sie in einem Scheinprozess angeklagt worden waren. Der Antisemitismus verbarg sich in dieser Zeit häufig hinter Schlagworten wie „wurzelloser Kosmopolit“, einer verklausulierten Bezeichnung für „Jude“. Stalins zunehmende Paranoia gipfelte schließlich in der sogenannten „Ärzteverschwörung“. Diese antisemitische Kampagne hatte großen Einfluss auf die übrigen Staaten im sowjetischen Machtbereich.

 

Judenfeindliche Motive – bzw. ein Wechsel im Umgang mit dem neugegründeten, anfänglich als sozialistisches Modellprojekt unterstützten Staat Israel – spielten auch eine Rolle bei den Prozessen gegen Rudolf Slánský in der CSSR. Eine Kontinuität bzw. gar ein intensives Wiederaufleben von antisemitischen Tendenzen in den osteuropäischen EU-Beitrittsländern wird intensiv diskutiert, Antisemitismus war dort um die Jahrhundertwende 1900 wie nach 1989 eng verknüpft mit Vorbehalten gegenüber einer liberalen Elite und städtischen Modernisierungspionieren.

 

Noch in den 1940er und 1950er Jahren kam es etwa in Polen zu Übergriffen und Pogromen, wie dem Pogrom von Kielce (1946). Gegen Juden gerichtete Gewalt brach insbesondere aus, wenn Juden in ihre Häuser zurückkehren wollten und ihr ehemaliges Eigentum wieder in Besitz nahmen. Die genaue Zahl der jüdischen Gewaltopfer im Nachkriegspolen ist nicht bekannt, sie wird auf 500 bis 1.500 taxiert (mit 327 dokumentierten Opferfällen), was zwischen 2% und 3% der Gesamtopferzahl der Gewalttaten im Nachkriegspolen beträgt. Eine ähnliche Situation wie in Polen gab es auch in Ungarn, sie schwächte sich hier aber im Laufe der Zeit im Vergleich zu anderen Staaten des Ostblocks ab. In der Tschechoslowakei hatten die oft Deutsch sprechenden Juden zusätzlich unter Repressalien zu leiden. 1952 kam es hier zum Slansky-Prozess: Zwölf führende jüdische Mitglieder der KP und zwei Nicht-Juden wurden in einem Schauprozess als „Zionisten“ angeklagt. Bis Anfang der 1950er mussten aus einer Vielzahl von Gründen etwa 150.000 osteuropäische Juden aus ihrer Heimat fliehen und lebten in den DP-Lagern in Westdeutschland. Bis 1956 wanderten 90% der bulgarischen Juden aus. Allein 300.000 Juden verließen bis 1975 ihre rumänische Heimat.

 

Antisemitische Ressentiments spiegeln sich auch in der Interpretation des Holocaust und dem Umgang mit seinen Opfern seitens der realsozialistischen Staaten. In der Ära Chruschtschow ging der öffentlich-staatliche Antisemitismus in den osteuropäischen Staaten zurück. Eine Ausnahme bildete Polen, wo es Mitte der 1950er Jahre zu innerparteilichen Kämpfen kam, in denen antijüdische Motive eine Rolle spielten.

 

Zu einem Aufleben des populären Antisemitismus kam es in der Sowjetunion nach 1967. Der Antisemitismus trat in Osteuropa insbesondere unter dem Deckmantel des Antizionismus auf. Unter Kossygin entstanden antizionistische Karikaturen, Schriften und Filme mit offensichtlichen Parallelen zum Stürmer-Stil. Juden („Zionisten“) wurden wieder als Bedrohung für die Welt dargestellt, und das Weltjudentum bzw. der internationale Zionismus wurde als Verbündeter des US-Imperialismus charakterisiert. Juden wurde zudem vorgeworfen, sie hätten nach der Herrschaft über den letzten Zaren gestrebt und würden hinter den antisowjetischen Unabhängigkeitsbestrebungen Polens und dem Prager Frühling stecken. In Polen kam es nach Protesten gegen die Absetzung eines Dramas von Adam Mickiewicz im Zusammenhang mit den März-Unruhen 1968 zu antisemitischen Übergriffen und Massenentlassungen von Juden. Fast alle Juden verließen daraufhin das Land. Auch in Ungarn wurde der „Zionismus“ für oppositionelle Entwicklungen verantwortlich gemacht und antisemitische Stereotype der Bevölkerung in Krisenzeiten ausgenutzt.

 

In Jugoslawien war die Entwicklung besonders heftig. Eine Ausnahme unter den Ostblockstaaten bildete Rumänien, das als einziger Staat normale Beziehungen zu Israel unterhielt.

 

Gorbatschow stand schließlich in den 1980ern für eine neue Politik auch gegenüber den Juden. Noch Ende der 1980er erlaubte die Sowjetunion vielen Juden die Ausreise nach Israel.

 

Erst nach der Wende war es möglich, wieder soziologische Erhebungen über antisemitische Einstellungen in Osteuropa durchzuführen. Dabei zeigte sich, dass der Antisemitismus gemeinhin den Linien von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg folgte. In Polen und der Slowakei gab es in der Bevölkerung dabei häufiger antisemitische Vorstellungen als in Tschechien oder Ungarn.

 

Während und nach dem Umsturz in der Ukraine 2014 kam es zu Vorwürfen antisemitischer Ausschreitungen Dem wurde aber aus in der Ukraine ansässigen jüdischen Kreisen widersprochen.

 

Vereinigte Staaten von Amerika

 

Nach 1945 haben antisemitische Tendenzen in den USA, die es bis dahin gab, stark abgenommen. Allerdings war die antikommunistische Hetzjagd der McCarthy-Ära in den USA der 1950er Jahre mit Antisemitismus verbunden. Dieser äußerte sich als tendenzielle Gleichsetzung von Zionismus und Kommunismus, da die jüdischen Siedler oft Formen eines Gemeineigentums in Kibbuzim und tolerante, liberale Anschauungen pflegten.

 

Die Regierungen der USA unterstützen jedoch traditionell den Staat Israel als Demokratiemodell für den Nahen Osten. Auch das Holocaustgedenken und die Holocaustforschung haben hier besonders seit 1967 einen starken Rückhalt. Das amerikanische Judentum ist stark säkularisiert: Heute heiraten ungefähr 60% der Juden in Amerika – gegenüber weniger als 10% vor 1914 – Andersgläubige.

 

Konservative Christen, Evangelikale und Fundamentalisten unterstellen teilweise bis heute, dass der „jüdische Einfluss“ der Kulturindustrie in Hollywood als Vorhut für die Schwächung der „traditionellen Familienwerte“ verantwortlich sei. In manchen Country Clubs, Nachbarschaften und Konzernen sind Juden nicht willkommen: Sie orientieren sich an der Elite der White Anglo-Saxon Protestants („WASP“), d.h. den weißhäutigen Protestanten angelsächsischer (nordeuropäischer) Herkunft. Einzelne Prediger der Christian Right wie Jerry Falwell und John Hagee bezeichnen im Rahmen ihres apokalyptischen Weltbildes den Antichrist als jüdisch.

 

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