Hyam Maccoby verdanken wir eine der innovativsten wissenschaftlichen Interpretationen zur Ideen- und Wirkungsgeschichte des Christentums. Die damit eng verknüpfte Theorie des Antisemitismus ist deutlich belastbarer als beispielsweise die schwachbrüstigen Ansätze des Antisemitismusbeauftragten Michael Blume. Maccoby ist im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert worden, was u.a. am unglücklichen Publikationsort der ersten Übersetzungen, dem Ahriman-Verlag des Alt-SDSlers und Sektierers Fritz Erik Hoevels, liegen mag. Dem renommierten Hentrich & Hentrich Verlag gebührt das Verdienst, Maccobys A Pariah People: The Anthropology of Antisemitism (1996) nun in deutscher Übersetzung verfügbar gemacht zu haben: Hier einige Auszüge.
Die Evangelien sind so geschickt und dramatisch konstruiert, dass sie die jüdische Schuld unterstreichen. Gleichzeitig betonen die Evangelien auch die Unvermeidbarkeit des Todes Jesu als Mittel der Erlösung für die Welt. Zusammen geben diese zwei Faktoren den Juden die Rolle der Heiligen Henker, dazu verurteilt, durch ihre eigene Verdammung die Erlösung herbeizuführen.
Jüdische Schuld wird auf vielen subtilen Wegen vermittelt. Wie wir gesehen haben, wirkt die Gestalt des Judas Ischariot symbolisch, um den Verrat der Juden allgemein an einem der ihren darzustellen. „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11). Alle Gruppen des jüdischen Volkes werden als feindselig gegenüber Jesus dargestellt, und wenn sie ihn zeitweilig unterstützen (wie am Palmsonntag), dann vergrößert dies nur ihre Schuld, weil ihr folgender Entzug der Unterstützung ein Element des Verrats hinzufügt. Einige Juden freilich unterstützen Jesus, nämlich seine nächsten Anhänger, die Apostel. Aber sogar sie zeigen einen Mangel an Loyalität und Verständnis (…). Wie wir gesehen haben, vervollständigt die Verunglimpfung der Pharisäer die Schande des jüdischen Volkes und seiner Überlieferung. Manchmal werden die Juden nur als blind und dumm geschildert und nicht als bösartig. Diese Haltung ist das Erbe der Gnosis mit ihrer Ansicht von den Juden und dem Judentum als irdisch und ungeistig. Häufiger wird aber ein Ton angeschlagen, der den Juden den boshaften, sinnlosen Wunsch unterstellt, Jesus aus teuflischem Hass auf das Gute zu töten.
Oft wird die Entschuldigung vorgetragen, dass die Evangelien sich nicht ausdrücklich gegen die Juden richten, sondern nur gegen das Böse im Menschen, für das die Juden damals zufällig standen. Oft ist zu hören: „Wenn wir dort gewesen wären, hätten wir das Gleiche getan.“ Diese Behauptung ist aus vielen Gründen falsch. Allein die Tatsache, dass die früheren schriftlichen Zeugnisse des Neuen Testaments den Juden nicht die Schuld zuweist, beweist, dass die antijüdische Ausrichtung der Evangelien eine bewusste Entscheidung war. Anstatt die Römer zu beschuldigen, die tatsächlich die Kreuzigung des Juden Jesus (und von tausenden anderen Juden, die als umstürzlerisch betrachtet wurden) durchführten, wurde die verständliche, wenngleich feige Entscheidung getroffen, die gesamte Schuld den Juden zu geben, einem Volk, das sich damals im tiefsten Elend der Niederlage befand. Es war eine ungefährliche Entscheidung, weil von einem hilflosen Volk keine Vergeltung zu erwarten war. Den Römern dagegen konnte man nicht gefahrlos die Schuld zuschieben, und die paulinischen Christen fürchteten zu Recht, dass jede Andeutung von Schuld in Richtung Rom sie in römischen Augen in das gleiche rebellische Lager wie die Juden stecken würde. Dennoch ist es wirklich bemerkenswert, wie es den Evangelien gelingt, die Römer angesichts der Relikte der historischen Tatsachen, die selbst sie nicht verwischen konnten, von jeglicher Schuld reinzuwaschen.(…)
In den Evangelien (…) ist Rom sorgfältig entlastet. Pilatus, der römische Statthalter, wird als höchst unwillig, Jesus hinrichten zu lassen, geschildert. Es wird sogar betont, dass er ahnungslos gewesen sei, welche Gefahr für Rom von Jesus Anspruch, König der Juden zu sein, ausging. Im Johannesevangelium (Joh 19,12–15) stellt er vielmehr Jesus den Juden mit den Worten vor: „Da ist euer König!“ Er muss sich von den Juden sagen lassen: „Wenn du ihn freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich als König ausgibt, lehnt sich gegen den Kaiser auf “, als ob man einem römischen Präfekten sagen müsse, jeder, der Anspruch auf den jüdischen Thron erhebe, müsse wegen Rebellion gekreuzigt werden. Die Juden rufen aus: „Weg mit ihm, kreuzige ihn!“, worauf der unglaubliche Dialog folgt: „Pilatus aber sagte zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser.“ Das Bild des Pilatus (aus anderen Quellen als Schlächter bekannt) als eines politisch Unschuldigen wird nur von der Unwahrscheinlichkeit übertroffen, dass Pilatus, anders als die groben weltlichen Juden, anerkennt, dass Jesus, als er sich als König bezeichnet, meint, sein Königtum sei nicht von dieser Welt.
Zuvor in derselben Szene, als Pilatus erklärt hatte, „Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen“, hatten die Juden (die Szene wechselt zwischen „die Juden“ und „die Hohepriester“ in einer Weise ab, dass alle Juden von den höchsten bis zu den geringsten eingeschlossen sind) ihren angeblich wahren Grund für ihren Wunsch, Jesus aus dem Weg zu räumen, aufgedeckt. „Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat.“ Also sieht das vollständige Drehbuch so aus: Die Juden wollen Jesus aus religiösen Gründen töten, weil sein Anspruch auf Göttlichkeit „blasphemisch“ sei; sie erfinden deshalb einen politischen Grund, um ihn bei den Römern zu denunzieren, obgleich sie sehr wohl wissen, dass Jesus keine politischen Ziele hat. Pilatus, der weiß, dass Jesus unpolitisch ist, beugt sich dem falschen jüdischen Vorwurf, Jesus sei eine politische Bedrohung, während er ehrfürchtig davon überzeugt ist, Jesus sei tatsächlich Gottes Sohn. Dieses ganze Szenario manipuliert die historischen Fakten, dass Jesus in der Tat eine Bedrohung für die römische Besatzungsmacht war, da er Anspruch auf den jüdischen Thron erhob, und dass die Römer, zusammen mit ein paar jüdischen Quislingen, ihn mit ihrer üblichen Bestrafung für Umsturzversuch mit der Kreuzigung aus dem Weg räumten. Das Gesamtergebnis der Manipulation durch die Evangelien ist, dass die Römer als unschuldige Opfer einer jüdischen List dastehen. Eine unwahrscheinlichere Verdrehung historischer Fakten ist kaum vorstellbar.
Zusätzlich zur Verharmlosung von Pilatus werden die Römer durchgängig in einem vorteilhaften Licht gezeigt. Der Erste, der die Göttlichkeit Jesus eingesteht, ist der römische Zenturio, der ihn sterben sieht und sagt: „Wahrhaftig, das war Gottes Sohn“ (Mt 27,54, Mk 15,39, aber bei Lukas 23,47 sagt der Zenturio nur: „Das war wirklich ein gerechter Mensch“; offenbar sperrt sich Lukas gegen die Rohheit der Übertragung religiöser Erkenntnis und Autorität von den Juden auf die Römer). Ausgerechnet der Mensch, der die Kreuzigung beaufsichtigt, wird wegen seiner Verehrung des Gekreuzigten von der Schuld entlastet. Nirgendwo in den Evangelien sehen wir die Römer als grausame Unterdrücker eines brutal unterworfenen und ausgebeuteten Volkes.
So steht die Behauptung, die Juden repräsentierten nur das menschliche Böse, im Widerspruch zu der Tatsache, dass die Evangelien eine absichtliche Übertragung der Schuld von den wahren Henkern Jesu, den Römern, auf die Juden betreiben. Die Behauptung selbst ist als eine Art Trost oder Zuspruch für die Juden gedacht, die bestürzt sind, sich als die Schurken in der Erzählung der Evangelien wiederzufinden: „Wir geben euch nicht wirklich die Schuld, weil jeder andere das Gleiche getan hätte.“ Diese Versöhnlichkeit wiederholt den angeblichen (nur Lukas bekannten) Ruf Jesu am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Man fühlt sich an den von der römisch-katholischen Kirche heiliggesprochenen Pater Kolbe erinnert, der jede Anklage gegen die Juden glaubte, auch die Ritualmordlegende, ihnen aber alles verzieh. Solche Frömmelei kann von den Verleumdungsopfern kaum willkommen geheißen werden. Falsche Beschuldigungen werden durch Vergebung nicht besser, noch kann Vergebung die Untersuchung ersetzen, ob der Angeklagte wirklich schuldig ist.
Manche Kommentatoren schlagen vor, dass selbst die gegen die Juden erhobene Anklage des Gottesmordes nicht wahr sei, die Juden sollten sich nicht darum kümmern, denn die Anklage sei nur symbolisch. „Die Juden“, die ständig in der Erzählung des Johannes auftreten, sollten nicht mit wirklichen Juden gleichgesetzt werden, da der Begriff nur für menschliche Sünder im Allgemeinen stünde, die in jeder historischen Epoche Christus leugnen und die deshalb als „geistig verantwortlich“ für seinen Tod betrachtet werden können. Ich frage mich, wie die Reaktion wäre, wenn man den Begriff „die Schwarzen“ für „die Juden“ einsetzen würde. Ich meine, dann würde offenkundig, dass die Verwendung jeder Menschengruppe als Symbol des Bösen untragbar ist. Damit wird das genaue Gegenteil des Beabsichtigten erreicht: Anstatt Leser zu beeinflussen, sich selbst die Schuld für Böses zu geben, beeinflusst es sie unweigerlich, die gesamte Schuld auf die Gruppe abzuwälzen, die in der Erzählung der Verleumdung ausgesetzt ist.
Ein eingefleischter Bösewicht wie Jago, in seiner ganzen Niedertracht auf der Bühne vorgeführt, wird vom Publikum ausgepfiffen und dient nicht dazu, die eigene Einstellung zu Niedertracht zu überprüfen. Selbst Jago ist kein so melodramatischer Bösewicht wie Judas Ischariot (der tatsächlich alle grundlos satanischen Schurken in der westlichen Literatur inspiriert hat), und wenn das „Wir-sind-alle-schuldig“-Argument nicht auf Judas angewendet wird (was anscheinend nicht der Fall ist), sollte es nicht als relevant für den kollektiven Judas, das jüdische Volk, betrachtet werden. Wenn die Evangelien die Leser wirklich anregen wollen, sich selbst die Schuld zu geben, haben sie sich die am wenigsten wirksame künstlerische Methode zu diesem Zweck zu Eigen gemacht.
Noch wichtiger für die Dämonisierung der Juden und ihre spätere Rolle als eine Pariakaste im Christentum ist die Erhöhung ihres Verbrechens des Gottesmordes in den Rang eines erlösenden Ereignisses. Dies mag überraschend und paradox erscheinen. Viele Juden (einschließlich Disraeli) haben sich gefragt, warum sie von Christen nicht mit Dankbarkeit, sondern mit Hass betrachtet werden, da doch ihre angebliche Tötung Jesu die direkte Ursache christlicher Erlösung war. Aber man ist dann nicht mehr überrascht, wenn man die christliche Erzählung von der Erlösung mit ähnlichen Erzählungen vergleicht, etwa den Mythen von Osiris, Baldur und anderen. Die Einstellung der Eingeweihten zum Tod ihres Erlösers muss von reinem Schmerz und Leid geprägt sein.
Es darf keine Beimischung von Befriedigung oder Freude bei dem Gedanken geben, dass dieser schreckliche Tod Erlösung bringt, ein Gedanke, der in der Zeit des Trauerns aus dem Geist verbannt wird. Wenn die gute Nachricht überbracht wird, dass die Auferstehung stattgefunden hat, kommt eine erstaunte Freude hinzu, die umso größer ist, als die Erlösung völlig unerwartet ist. Die Phänomenologie der Erlösung durch Opferung geht somit von gespaltenen Geisteszuständen aus, die getrennt gehalten werden müssen, damit sich nicht das ganze Erlösungsgeschehen auflöst. Den Eingeweihten wird dann bewusst, dass sie alles andere als die Empfänger einer unerwarteten Erlösung sind, sondern das ganze Drama selbst arrangiert haben. (…)
Es ist diese tragische Gespaltenheit, die den besonderen gegen die Juden gerichteten Hass erklärt. Wo das Opfer vom Menschen, nicht vom Gott, getötet wird, ist es von überragender Wichtigkeit, dass die Eingeweihten saubere Hände haben. Deshalb ist es notwendig, eine Person oder Klasse von Personen zu haben, der man die Schuld an der Bluttat zuschieben kann. Je mehr diese Person oder die Klasse von Personen aus Abscheu abgelehnt wird, desto stärker kann der Eingeweihte die Verantwortung für den abscheulichen Mord, der ihm Erlösung bringt, abstreiten. Somit wird Hass ritualisiert. Der Hass an sich wird Teil des Erlösungsprozesses.
Bei wirklichen Riten des Menschenopfers, wie sie in primitiven Zeiten und sporadisch in historischen Zeiten bis in die Gegenwart ausgeübt wurden, gab es eine rituelle Figur, die die Opferung ausführte und dann vom Stamm verflucht und in die Wüste verbannt wurde. In der hellenistischen Welt ist dieses antike Ritual der Erlösung zu Initiationskulten vergeistigt worden, in denen das Opfer symbolisch war, nämlich enthalten in einer Erzählung oder einem Mythos vom gewaltsamen Tod eines Gottmenschen, der von einer bösen, manchmal übernatürlichen Gestalt verraten worden war. Im Christentum ging es um den Tod einer historischen Gestalt, des Juden Jesus, der beanspruchte, der Messias zu sein, dessen Tod durch die Römer zum Opfertod mystifiziert worden war. Die Rolle des Heiligen Henkers ging deshalb ebenfalls an die historischen Gestalten über – die Juden. Sie wurden für diese Rolle ausgewählt, weil sich das paulinische Christentum vom jüdischen Kampf gegen Rom distanzierte.
Wir können (…) offen anerkennen, dass Antisemitismus nicht auf die Christenheit begrenzt ist, sondern auch, in anderer Form, im Islam existiert. Aber dies führt uns zur Formulierung einer ersten Aussage über den Ursprung und Umfang von Antisemitismus (…): Antisemitismus entsteht in Regionen, in denen eine vom Judentum abgeleitete Religion vorherrscht. Dieses Prinzip lässt viel Raum für nähere Ausarbeitung, denn die Art des Antisemitismus, der entsteht, hängt vom Charakter der Beziehung zwischen der verdrängenden Religion und der ursprünglichen Religion ab. Sie hängt auch, wie wir erklären werden, von der Art des Usurpationsmythos ab, der in der verdrängenden Religion entsteht, um das Bedürfnis nach einer neuen Form der Religion, nach einem neuen Personal für das auserwählte Volk Gottes und nach der Verurteilung und Vertreibung des früheren Personals zu erklären.
Ein Einwand könnte allerdings gegen das oben ausgesprochene Prinzip erhoben werden, dass es die früheste Form des Antisemitismus, nämlich den hellenistischen, nicht berücksichtigt, der aus kultureller Konkurrenz und schlichter Ablehnung jüdischer religiöser Behauptungen entstand, nicht aus dem Versuch, die Juden aus ihrem eigenen Diskursrahmen heraus zu verdrängen. An dieser Stelle ist es notwendig, tiefer in die Definition des Antisemitismus einzudringen, um verschiedene Ebenen zu erkennen.
Im Allgemeinen bedeutet Antisemitismus einfach Hass auf die Juden. Es ist zu diesem Zeitpunkt kaum nötig, darauf hinzuweisen, dass dies nicht „Hass auf Semiten“ bedeutet. Hitlers enge Freundschaft und Allianz mit dem Mufti von Jerusalem beweist, dass er kein Feind der Semiten war, sondern nur der Juden, und das gilt für alle Antisemiten. Der Name „Anti-Semit“ wurde von Wilhelm Marr geprägt, um dem Judenhass einen pseudowissenschaftlichen genetischen oder rassistischen Anstrich zu geben. Einige wohlmeinende, aber törichte Autoren (zum Beispiel Arthur Koestler und Hugh Montefiori) haben die rassistische Theorie so ernst genommen, dass sie eine einfache Lösung für Antisemitismus vorgeschlagen haben: beweisen, dass die Juden eigentlich keine Semiten seien (da sie chasarischer oder gemischter Abstammung seien), und der Antisemitismus werde verschwinden. Leider hat diese Lösung, da die Gleichsetzung von Juden und Semiten nie mehr als ein Trick war, keine Chance zu funktionieren.
James Parkes schlug vor, das Wort immer „antisemitisch“ statt „anti-semitisch“ („antisemitic“ statt „anti-Semitic“) zu schreiben, um die Sinnlosigkeit des Gedankens hervorzuheben, es gebe Menschen, die ernsthaft gegen Semiten als solche (zum Beispiel nicht nur Juden, sondern auch Araber, Phönizier, Akkader, Babylonier und so weiter) sein könnten. Es ist bedauerlich, dass das Wort inzwischen so eingeführt ist, dass es heute unmöglich ist, es gegen einen passenderen Ausdruck wie etwa „Judenhasser“ auszutauschen. Angesichts der Tatsache, dass das Wort nicht mehr verschwinden wird, müssen wir uns mit so offenkundigen Absurditäten wie „arabischer Antisemit“ oder dem offensichtlichen Anachronismus eines „hellenistischen Antisemitismus“ in einer Zeit, als es keine rassistische Theorie gab, abfinden. Das Äußerste, was wir tun können, um die Absurdität oder den Anachronismus zu vermeiden, ist der Gebrauch der Schreibung „Antisemitismus“, wie Parkes vorschlug, um darauf hinzuweisen, dass das Wort nicht buchstäblich als „Hass auf Semiten“ verstanden werden soll, sondern als Codewort für Judenhass. Unterdessen muss man hoffen, dass das Wort nicht mehr buchstäblich als Entschuldigung für die opportunistische semantische Taschenspielerei gebraucht wird, zum Beispiel: „Wie können Araber Antisemiten sein? Sie sind doch selbst Semiten.“
Wenn Antisemitismus Hass auf Juden bedeutet, wie unterscheidet er sich von bloßer Fremdenfeindlichkeit? Die Antwort ist, dass Antisemitismus auf der untersten Ebene tatsächlich bloß eine Form von Xenophobie ist, vergleichbar etwa mit Ausdrücken wie Anglophobie. Auf dieser Ebene mag man die Juden nur deshalb nicht, weil sie anders sind, genauso wie die Engländer vielleicht die Franzosen oder sogar die Waliser nicht mögen. Vieles im hellenistischen Antisemitismus lag auf dieser Ebene. Vieles ging aber auch über diese Ebene hinaus und wurde stattdessen ein Gegensatz ideologischer Art, da die Hellenisten glaubten, die Juden stellten eine Gefahr für den hellenistischen kulturellen Anspruch auf die höchste Form der Zivilisation dar. Zu einer weiteren Ebene stieg dieser ideologische Antisemitismus in der Gnosis auf, wo die Juden als die irdischen Vertreter einer bösen kosmischen Macht angesehen wurden, und zu einer noch höheren Ebene im Christentum, wo man glaubte, die Juden hätten eine Tat von außergewöhnlicher Bosheit vollbracht, die Ermordung des menschgewordenen Gottes.
Gavin Langmuir hat argumentiert, dass der Antisemitismus erst auf dieser irrationalen und paranoiden Ebene seinen besonderen und einmaligen Platz verdiente, da er unter den verschiedenen Arten von Xenophobie eine besondere Bezeichnung verlangte. Ich würde zustimmen, dass diese äußerste Form des Antisemitismus die interessanteste und wichtigste für den Historiker, Soziologen und Anthropologen ist. Ein besonderer paranoider Abscheu macht sich auf dieser letzten Ebene an den Juden fest, der mit keinem anderen xenophoben Hass verglichen werden kann, und dieser war es, der nach vielen Jahrhunderten der Indoktrination den Holocaust herbeigeführt hat. Doch gibt es terminologische Schwierigkeiten, den Begriff Antisemitismus nur auf diese Ebene zu beschränken, und ich würde vorschlagen, dass der Begriff auf jede Ebene angewendet werden sollte, aber mit dem Vorbehalt, dass Antisemitismus nur auf der dämonisierenden ideologischen Ebene ein einzigartiges Problem darstellt.
Vor der Neuzeit gab es nur drei Formen des dämonisierenden ideologischen Antisemitismus, die gnostische, christliche und islamische, von denen die christliche Form die mit Abstand aggressivste war, da sie von einem einzigartig erschreckenden Usurpationsmythos verstärkt wurde. Ein detaillierter Vergleich dieser drei vormodernen Formen sprengt den Rahmen (…) Hier möge es genügen, anzumerken, dass alle drei vom Judentum abhängige Formen von Religion sind, und wir können unsere Formel wie folgt ergänzen. Dämonisierender ideologischer Antisemitismus ist auf Bevölkerungen begrenzt, die vom Judentum abgeleiteten Religionen angehören.
Die Existenz aggressiver Formen des modernen Antisemitismus, die offenbar nicht mit dem Christentum verknüpft sind, wird oft als Beweis dafür angeführt, dass dämonisierender Antisemitismus nicht zwangsläufig religiösen Ursprungs ist. Der Nazismus stellte sich als nichtchristliche, heidnische oder sogar christenfeindliche Doktrin im Geiste Nietzsches dar. Ähnlich ist die andere Erscheinungsform des modernen ideologischen Antisemitismus, jene des Marxismus, mit ihrem jüngeren Sprössling, dem Antisemitismus der Neuen Linken, deutlich nach Ziel und Selbstverständnis nichtchristlich. Doch jede historische Untersuchung der Ursprünge und Denkmuster des Antisemitismus der Nazis und der Neuen Linken zeigt, wie unauflösbar diese Erscheinungsformen den christlichen Antisemitismus fortsetzen.
Die nazistische antisemitische Propaganda bestand aus der Wiederholung antisemitischer Verunglimpfungen, die im Mittelalter und sogar noch früher gegen die Juden ersonnen worden waren, zum Beispiel die Ritualmordlegende, die behauptete, dass Juden christliches Blut für rituelle Zwecke verwendeten. Hitler stützte seinen Standpunkt bewusst auf die antisemitischen Ergüsse Luthers. Zwar war der Nazismus keine christliche Bewegung, doch war sein Antisemitismus die Frucht von Jahrhunderten christlicher antisemitischer Propaganda, die besonders heftig in Deutschland war, der eigentlichen Heimat der Passionsspiele. Die Nazis wussten, dass das Ausspielen der antisemitischen Karte eine politische Masche war, die in der christlichen Bevölkerung nicht nur in Deutschland, sondern in Europa überhaupt eine prompte Reaktion hervorrufen würde. Ohne die stillschweigende und oft offene Unterstützung dieser Bevölkerung hätte der Holocaust niemals umgesetzt werden können.
Der marxistische Antisemitismus war nicht so bewusst darauf angelegt, tief verwurzelte christliche Vorurteile anzusprechen, doch seine Ursprünge lassen sich mühelos aufspüren. Marx war selbst Jude, wurde aber getauft und als Christ großgezogen. Seine ganze Erziehung war christlich, und seine Kenntnis des Judentums beschränkte sich auf das in christlichen Quellen Enthaltene. Obwohl er als Erwachsener seinen christlichen Glauben ablegte, behielt er ein negatives Bild von den Juden als „Krämer“ bei, deren ganze Religion sich auf Geld richtete. Deshalb fiel es ihm leicht, das Judentum als Herz und Seele des Kapitalismus auszumachen, eine Kennzeichnung, die er mit anderen sozialistischen Antisemiten einschließlich Proudhon und Charles Fourier teilte. Diese Identifizierung lässt sich letztlich auf das christliche Bild von Judas Ischariot zurückführen, den archetypischen Juden, der seinen Herrn für Geld verkaufte, mit dem Geld der zwölf Apostel betrog und in der christlichen Kunst immer mit einem Geldsack in der Hand dargestellt ist. Im Antisemitismus der Neuen Linken wird das Bild auf eine weitere Stufe gehoben: Die Juden sind nicht bloß die Organisatoren internationalen kapitalistischen Geldwesens, sondern auch die Speerspitze der kapitalistischen und imperialistischen Verschwörung gegen die unschuldigen und benachteiligten Nationen der „Dritten Welt“.
Die paranoide Art dieser Bilder wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass rechte Anhänger des Kapitalismus es genauso leicht gefunden haben, die Juden als Speerspitze der Mächte des internationalen Kommunismus darzustellen. Einige haben die Juden sogar so dargestellt, als kombinierten sie beide Handlungsweisen, als brächten sie Kapitalismus und Kommunismus gleichzeitig in abgestimmten Manövern voran, um auf den Zusammenbruch der nichtjüdischen Welt hinzuarbeiten. Das Gesamtbild des modernen Antisemitismus zeigt eine starke Tendenz, die Juden mit der wie auch immer gearteten diabolischen Kraft zu identifizieren, wie sie von einer dualistischen Ideologie gefordert wird: Wo die Theorie eine niederträchtige politische Gruppe erfordert, die gegen Gerechtigkeit und Fortschritt arbeitet, wird aufgedeckt, dass Juden diese Gruppe ausmachen.
Es kann kein Zufall sein, dass dieses dualistische Schema jenes des traditionellen Christentums wiederholt. Dieses Phänomen entsteht aus der Tatsache, dass ein Glaubenssystem nicht verschwindet, wenn es zusammenbricht, sondern in der Form unbewusster Fantasien und Vorurteile fortbesteht, die umso stärker sein mögen, als sie sich rationaler Analyse entziehen. Die Judenphobie moderner politischer Ideologien sollte deshalb als nachchristlicher Antisemitismus betrachtet werden. Er sollte nicht mit dem vorchristlichen Antisemitismus der hellenistischen Welt gleichgesetzt werden. Denn er trägt alle besonderen Merkmale des christlichen Antisemitismus, dessen nicht anerkanntes Kind er ist. Der nazistische Antisemitismus zum Beispiel sollte nicht aufgrund von Wagners und Hitlers ausdrücklicher Bewunderung für die nordische Mythologie als Rückfall ins Heidentum abgetan werden. Dies ist eine unverdiente Beleidigung altnordischer Heiden, die nie antisemitisch waren, bis sie christianisiert wurden.
Eine endgültige Version unserer Formel wird also lauten: Dämonisierender ideologischer Antisemitismus ist auf Bevölkerungen begrenzt, die vom Judentum abgeleiteten Religionen angehören oder solche als historischen Hintergrund haben. Eine zusätzliche Komplikation ist, dass die westliche Zivilisation durch ihren erfolgreichen Einsatz der Technologie einen bedeutenden Einfluss auf nichtwestliche Gesellschaften hatte, besonders im 20. Jahrhundert. Dieser Einfluss hat sich auch auf westliche Ideologien ausgedehnt, vornehmlich auf den Marxismus, der das herrschende Bekenntnis Chinas und anderer östlicher Länder wurde. Zusammen mit Technologie und kommunistischem Bekenntnis brachte der Marxismus zum ersten Mal die Grundsätze des Antisemitismus in diese Länder, nun als „zionistischer Imperialismus“ maskiert. Da allerdings der Antisemitismus keine wirklichen Wurzeln in östlichen Ländern hat, wurde er dort eine Leerformel und wird weitere politische Entwicklungen wahrscheinlich nicht überleben.
Ein etwas ernsteres Phänomen war die antisemitische Wirkung des nazistischen Bündnisses mit Japan. Der Antisemitismus schien eine Saite in der japanischen Psyche zu berühren, obgleich er unbekannt war, ehe das Bündnis antisemitische Literatur nach Japan brachte. Selbst nach der japanischen Niederlage und der Errichtung der Demokratie bestand der Antisemitismus in der Form erfolgreicher Unterhaltungsliteratur fort, die die Machenschaften einer weltweiten jüdischen Verschwörung verbreitet. Der Reiz dieser Literatur könnte durchaus eng mit der japanischen Niederlage und dem Bedürfnis, irgendeinen externen diabolischen Grund dafür zu finden, zusammenhängen. Auf merkwürdige Weise diente die Fantasie von der jüdischen Weltherrschaft auch als Ersatz für den früheren japanischen Traum, genau diese zu erreichen, und auch als Vorbild für heutige realistische japanische Anstrengungen, Weltherrschaft im wirtschaftlichen Bereich zu erlangen. Dies erklärt den Anflug von Bewunderung im japanischen Antisemitismus, trotz des scheinbaren Tons moralischer Entrüstung. Insgesamt also ist das Auftreten von Antisemitismus außerhalb des christlich-islamischen Blocks peripher und unbedeutend. Er ist ein unnatürlicher Auswuchs, der Gesellschaften ohne Tradition von Antisemitismus aufgepfropft wurde. Geschehen ist dies wegen des westlichen kulturellen, technologischen und politischen Einflusses, und es ist unwahrscheinlich, dass er dauerhaft Fuß fasst.
Gleichwohl kann man immer noch fragen, warum die Juden im hinduistischen Indien nicht auf Antisemitismus trafen. Warum gab es keine kulturelle Konkurrenz zwischen Judentum und Hinduismus, vergleichbar jener zwischen Judentum und Hellenismus in der Antike? Angenommen, dass die besondere Schärfe von Verdrängung und Usurpation fehlte, weil es keine Beziehung zwischen Judentum und Hinduismus gab, könnte man dennoch etwas von der Rivalität erwarten, die zwischen dem Hinduismus und den anderen auf dem Judentum beruhenden Religionen – Islam und Christentum – tatsächlich vorkam. Die Antwort scheint zu sein, dass das Judentum nicht als missionierende Religion auftrat, wie es die anderen taten. Überdies trat das Judentum anders als der Islam und das Christentum nicht in Gestalt militärischer Eroberung auf.
Der Hinduismus ist von seinem Wesen her nicht auf Konfrontation mit anderen Religionen aus. Er neigt dazu, ihnen einen Platz in seinem eigenen religiösen System zu geben, indem er Gemeinden fremden Ursprungs sogar einen Kastenstatus zuweist. Das Gefühl der Überlegenheit ist vorhanden, wie in der hellenistischen Kultur, aber das Kastensystem erlaubt so viele Varianten der Lebensart und Philosophie, dass fremde Kulturen auf irgendeiner Ebene aufgenommen werden können. Die Gefühle der Überlegenheit sind weitgehend auf die oberste Kaste konzentriert, die Brahmanen, die es gewohnt sind, gegenüber „niedrigeren Stufen der Gesellschaft“ Nachsicht zu üben. Die hellenistische Kultur dagegen hatte einen Drang zur Einheitlichkeit und eine Intoleranz gegenüber Vielfalt, gepaart mit einer grundlegenden Demokratie, die das gleiche kulturelle und geistige Niveau für alle verlangte. Sie verübelte die Existenz von Nischen kulturellen Widerstands, während der Hinduismus sie als Ausdruck der unendlichen Vielfalt des Menschenmöglichen sogar begrüßt.
Der ausgezeichnete Leumund des Hinduismus in Bezug auf das Judentum ist in den letzten Jahren durch eine unfreundliche Haltung der indischen Regierung gegenüber Israel ein wenig getrübt worden. Dies ist nicht durch irgendeine grundlegende Feindschaft verursacht worden, sondern durch die Erfordernisse einer Politik der „Dritten Welt“, die von Indien Solidarität mit arabischen Ländern verlangte, mit denen Indien tatsächlich kulturell wenig gemein hat und, historisch betrachtet, vieles, das gegen diese steht. Mir ist von indischen Freunden versichert worden, dass die Politik der Regierung in dieser Hinsicht von wenigen Vertretern hinduistischer Anschauung unterstützt wird. Im Allgemeinen bietet die Geschichte der hindu-jüdischen Beziehungen den starken Beweis, dass Antisemitismus nicht endemisch in der menschlichen Natur ist und nicht aus ärgerlichen oder elitären Merkmalen der Juden oder des Judentums entsteht.
Das Neue Testament stellte die Juden als verfluchtes Volk hin, dem eine außergewöhnliche Bestrafung zugedacht war. Schon in den Schriften des Neuen Testaments gilt die Zerstörung des Tempels als Erfüllung dieses Fluches, und das spätere Exil der Juden (das in Wirklichkeit nicht vor der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert begann) wurde vordatiert und als weitere Erfüllung des Fluches betrachtet. Es war allerdings nicht das Neue Testament selbst, das die Juden zu einem Pariavolk machte, obwohl es die Bühne bereitete und alle Bedingungen für diese Entwicklung festschrieb. Die Juden wurden zum Pariavolk als Folge des Triumphs des Christentums im Römischen Reich nach dem Regierungsantritt Konstantins, der sie zum ersten Mal zu einem untertanen Volk in einem christlichen Reich machte.
Auch dann dauerte es noch lange, bis die Juden zur Pariagruppe in einer christlichen Gesellschaft wurden. Trotz der ständigen feindseligen Predigten christlicher Lehrer auf allen Ebenen über einen Zeitraum von Jahrhunderten behielten die Juden ein menschliches und sogar würdevolles Erscheinungsbild in den Augen einer heidnischen Bevölkerung. Schließlich griff die Propaganda. Das 11. Jahrhundert kann als Wendepunkt bestimmt werden, als die Juden allmählich von der breiten Masse dämonisiert wurden. Sie wurden zur geächteten Gruppe, ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Umgang, von der Mischehe und von jedem ehrbaren Beruf. Wie dargelegt wurde, besteht die größte Ähnlichkeit ihrer Stellung mit jener der Unberührbaren im Hinduismus, die freilich viel besser dastanden, da sie nicht mit der Schuld des Gottesmordes belastet waren und nicht dämonisiert wurden oder der brutalen Verfolgung ausgesetzt waren, unter der die Juden im Christentum litten.
Das Mittelalter dauerte am längsten für die Juden im zaristischen Russland, wo sie unter mittelalterlichen Bedingungen bis ins 19. Jahrhundert lebten, als sich der sichere Hafen der demokratischen Vereinigten Staaten von Amerika für viele von ihnen auftat, die aus dem „Ansiedlungsrayon“ (das Gebiet im Westen des Russischen Reiches, das bis zu den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert zu Polen gehört hatte) und vor den Pogromen auf der Suche nach Freiheit flüchteten (um dort auf die angewiderte Grimasse von Menschen wie Henry Adams zu stoßen). Die Kontinuität zwischen dem mittelalterlichen Pariatum und dem modernen Antisemitismus kann man ganz deutlich in Russland sehen, wo die Abfassung der gefälschten Protokolle der Weisen von Zion stattfand, die Stütze und Bibel des modernen Antisemitismus.
Aber der größte Ausbruch von Antisemitismus fand nicht in Russland statt, sondern in Deutschland, wo die Kontinuität nicht ganz so stark ins Auge fällt und deshalb von allen geleugnet wurde, die den Antisemitismus von seinen christlichen Vorläufern loslösen möchten. In Deutschland wurden die Juden nicht in Ghettos zusammengepfercht, sondern waren in den höchsten Berufen vertreten, als Richter, Professoren, Naturwissenschaftler, Ärzte, Schriftsteller, Kritiker, Politiker. Sie erfreuten sich ihrer Freiheit und rühmten sich ihres deutschen Patriotismus. Aber hier wurden sie zusammengetrieben, in Lager im Osten geschickt und umgebracht unter Umständen, die an mittelalterliche Bilder von der Hölle erinnern, mit jeder Beigabe, die bitterer Hass sich als Demütigung, Hunger und Folter ausdenken konnte.
Den Deutschen dafür allein die Schuld zu geben, bedeutet für andere Christen, der eigenen Verantwortung auszuweichen. Es ist wahr, dass Deutschland die Schande der schlimmsten Verfolgung von allen trägt, und dies ist eine Fortsetzung der besonders boshaften Färbung der deutschen Judenverfolgung im Mittelalter. In Deutschland war es, wo die ersten Massaker im Zusammenhang mit den Kreuzzügen stattfanden. In Deutschland hatten die Passionsspiele eine besonders sadistische Schärfe und die Darstellungen von Juden in Kunst und Karikatur eine brutale, obszöne Note. Trotzdem ist dies nur der deutsche Anstrich einer universellen christlichen Kampagne des Hasses.
Das blühende deutsche Judentum, in der illusorischen „deutsch-jüdischen Symbiose“ mit Ironie und Trauer von Gershom Scholem beschrieben, hat dazu gedient, die Aufmerksamkeit von der historischen Kontinuität des Antisemitismus abzulenken. Ursachen sind angeführt worden, die in die Neuzeit gehören, wohingegen die Verfolgung und die antisemitische Propaganda der Nazis in Wirklichkeit ein Rückfall in mittelalterliches Denken und Verhalten war, veranlasst durch Ressentiment gegen den jüdischen Versuch, den Vorteil der Versprechungen der Aufklärung wahrzunehmen und der mittelalterlichen Rolle als Paria zu entkommen.
Es ist darauf hingewiesen worden, dass die Maßnahmen der Nazis, die die demokratischen Bürgerrechte der Juden beschnitten, in jeder Hinsicht die mittelalterlichen Verfügungen wiederholen. Außerdem war die aktuelle Propaganda, mit der die Juden verleumdet wurden, einschließlich der Ritualmordlegende, direkt der mittelalterlichen Literatur und Luthers antisemitischen Schmähschriften entnommen.
Angesichts dieser Kontinuität muss man wohl sagen, dass der Holocaust kein Mysterium war. Wenn ein Volk durch die Jahrhunderte ständiger Verleumdung und Dämonisierung ausgesetzt war, sodass ein allgemeiner Abscheu so tief eingeimpft wurde, um wie ein Instinkt zu funktionieren, kann es nicht überraschen, dass irgendwann eine Bewegung aufkommt, deren Ziel die Auslöschung dieses angeblichen Schädlings und Feindes der Menschheit ist. Wenn eine Nation eine demütigende Niederlage in einem großen Krieg erlitten hat und auch unter wirtschaftlicher Not leidet, ist es überhaupt nicht überraschend, dass ein Sündenbock in einer unbewaffneten Minderheitengruppe gefunden wird, die in den Köpfen der Menschen immer noch den Pariastatus einnimmt, der sich aus tiefen religiösen heilsbringenden Vorstellungen herleitet, oder dass eine politische Bewegung, die sich aus nationaler Verzweiflung speist, es sich nicht entgehen lässt, eine solche kraftvolle einende politische Waffe wie Abscheu und Misstrauen gegenüber den Juden zu nutzen.
Bezüglich der „Endlösung“ der Nazis muss eine Sache angesprochen werden, die gewissermaßen gegen die allgemeine Stoßrichtung des vorliegenden Buches läuft. Ich habe die Tatsache hervorgehoben, dass die Juden ein notwendiges Element in der christlichen Religionsökonomie des Mittelalters waren und dass dies den Schutz der Juden vor dem Schicksal der Albigenser und anderer Ketzer erklärt. Bernhard von Clairvaux ist das führende Beispiel des christlichen Anliegens, die Juden vor der Vernichtung zu bewahren; wichtig war hier nicht nur das „Zeugnis“, das die Juden trugen, sondern auch der Glaube, dass die Wiederkunft Christi nicht ohne ihre Bekehrung stattfinden könne. Wegen dieses Glaubens an die Notwendigkeit jüdischen Überlebens wurden die Juden eine Kaste im Christentum – eine Pariakaste, gewiss, aber eine, die wie die Unberührbaren im Hinduismus gebraucht wurde, um das religiöse Spektrum zu vervollständigen.
Hitlers Entscheidung, die Juden vollkommen zu vernichten, könnte also als Abkehr von der traditionellen christlichen Strategie gegenüber den Juden verstanden werden. In Wirklichkeit ist es jedoch keine vollständige Abkehr, denn das Drehbuch der „Endlösung“ war auch im Christentum vorhanden. Es findet sich in den endzeitlichen Bewegungen, die von Zeit zu Zeit aufkamen und die um die Idee vom „Antichristen“ kreisten, vor allem gestützt auf 2 Thessalonicher 2,3-12. Diese Lehre wurde zuerst von den Kirchenvätern (Irenaeus, Hippolytus, Lactantius) ausgelegt. Die paulinische Passage wurde meist dahingehend gedeutet, dass zur Endzeit ein jüdischer Antichrist auftreten würde, der von den Juden als Messias betrachtet und eine mächtige jüdische Armee gegen die Streitkräfte des Christentums unter der Führung von Christus selbst anführen würde. Man glaubte auch, dieser Kampf würde zur völligen Vernichtung der Juden, Männer, Frauen und Kinder, durch die christlichen Streitkräfte führen.
Dieses Drehbuch widerspricht dem gängigeren Szenarium, wonach die Juden zur Zeit der Wiederkunft Christi zum Christentum bekehrt würden. Doch in einer Hinsicht stimmten die beiden Szenarien überein: dass die Juden zur Zeit des Endes nicht mehr notwendig sein würden. Sie würden verschwinden, entweder als Bekehrte oder als Opfer der Vernichtung. Die Existenz der Juden als Pariakaste in der Christenheit war in gewöhnlichen Zeiten notwendig, aber in der Endzeit hätte die triumphierende Kirche (Ecclesia triumphans) keinen Bedarf mehr an den Juden.
Also hatte Hitler in einem Strang der christlichen Tradition doch ein Vorbild für seine Vorstellung von der „Endlösung“. Tatsächlich war die endzeitliche Tradition besonders stark in Deutschland, wo Hitlers tönender Ausdruck vom „Tausendjährigen Reich“ einen endzeitlichen Widerhall hatte, der letztlich aus dem Neuen Testament (Offb 20,4–6) kam, aber auch an die von Thomas Münzer, der 1525 in Frankenhausen hingerichtet wurde, angeführten Wiedertäufer erinnert (…). Die Idee von einer endzeitlich inspirierten Volksbewegung, die die Hoffnung auf eine endgültige Befreiung der Welt von den Juden einschloss, wurde keineswegs von Hitler erfunden, wenn er auch seine eigene weltliche Version entwickelte. (…)
Mehrere Faktoren zusammen haben verhindert, dass die Offensichtlichkeit der Vorläufer des Holocausts allgemein akzeptiert wurde. Die meisten jüdischen Publizisten und Forscher haben sich gescheut, den Holocaust christlichen Lehren und gesellschaftlichen Regelungen zuzuschreiben. Bernard Levin zum Beispiel schreibt in Abständen über den Holocaust in The Times und seine Botschaft ist immer die gleiche: Der Holocaust ist ein unergründliches Geheimnis. Auf einer höheren Ebene haben jüdische Denker wie Elie Wiesel und Emil Fackenheim ebenfalls ein Geheimnis aus dem Holocaust gemacht, indem sie seine Ursache irgendeinem dunklen Element des Bösen im Universum zuordnen. (…) Einige christliche Theologen haben in ihrem Eifer nach einer christlich-jüdischen Annäherung die Leiden der Juden im Holocaust als Echo der Kreuzigung gesehen, und einige Aussagen Elie Wiesels scheinen diese Deutung zu stützen. Von hier war es nur ein Schritt, den Holocaust nicht als spezifisch jüdische Erfahrung zu sehen, sondern auch als Teil der Geschichte und Mission des Christentums. Einige Christen, besonders solche mit jüdischen Wurzeln, aber auch einige, die trotz allgemeiner christlicher Gleichgültigkeit versuchten, den Juden zu helfen, starben in den Todeslagern. Der Tod dieser Christen, von denen die meisten als Juden starben, nicht als Christen, wurde als Bekräftigung des Anspruchs auf christliche Beteiligung als Opfer im Holocaust verstanden. In diesem Geist versuchte eine Gruppe von Karmeliterinnen, einen Konvent auf dem Gelände von Auschwitz zu errichten und war erstaunt, auf jüdischen Widerstand zu stoßen, da ihnen niemand erklärte, dass dieser aus der jüdischen Überzeugung komme, der Holocaust sei ein Ergebnis der christlichen Lehre und nicht etwa ein Beweis für deren Wahrheit.
Der Holocaust ist wahrhaftig ein Teil der Geschichte des Christentums, aber nicht in dem Sinn, den jene Christen beabsichtigten, die den Holocaust für die christliche Theologie vereinnahmen wollen. Der Holocaust ist die schwerste Krise, der sich das Christentum jemals stellen musste, weitaus größer zum Beispiel als die Reformation. Die christliche Antwort auf den Holocaust wird über die Zukunft des Christentums – und ob es eine Zukunft hat – entscheiden. Vielen Christen ist dies bewusst, und sie formulieren die Lehrsätze des Christentums, besonders jene der Christologie, im Licht der entsetzlichen Folgen früherer Lehren neu. Aber es herrscht immer noch sehr wenig Verständnis für die Rolle des Neuen Testamentes und der Kirchenväter in der Entwicklung der Dämonisierung der Juden. Einige christliche Autoren (zum Beispiel Rosemary Ruether, John Gager und Jack Sanders) räumen allerdings ein, dass die Evangelien antisemitisch sind. (…) Der modische Ausweg aus den antisemitischen Schmähungen der Evangelien ist, sie der „innerjüdischen Rivalität“ zuzuschreiben – ein Versuch mehr, die Schuld für den Antisemitismus auf die Juden selbst zu schieben! Wenn die Neuformulierung christlicher Doktrin einer winzigen Minderheit von Gelehrten überlassen bleibt und keine Auswirkung auf den christlichen Kanon hat, wird sie wohl kaum viel Wirkung auf die Kirche insgesamt ausüben, zumal die große Mehrheit der Christen (in Südamerika und Osteuropa zum Beispiel) noch unberührt von der modernen kritischen Methode ist.(…)
Der christliche Antisemitismus ist nicht die einzige Ausprägung des Antisemitismus, die es gibt, aber es ist diejenige, die den Holocaust hervorgebracht hat. Keine der anderen Arten (griechisch, römisch, gnostisch, muslimisch) drückte die Juden auf den Pariastatus hinab oder stattete sie mit dem gleichen Stigma und Abscheu aus, wodurch sie Ausbrüchen allgemeiner oder obrigkeitlicher Gewalt ausgesetzt wurden. Das Niveau der christlichen antisemitischen Propaganda, ihre Bestätigung in sakralen Texten und die Länge der Zeit, über die sie verbreitet wurde, sind ohne Parallele. (…)
Erklärungen des Antisemitismus gibt es zuhauf, aber sie bleiben in der Schwebe zwischen zwei Polen. Einerseits kann Antisemitismus als einmaliges und geheimnisvolles Phänomen betrachtet werden, für das keine rationale Erklärung vorgelegt werden kann. In dieser Ansicht können sämtliche Versuche, Ursachen entweder in gegenwärtigen oder in historischen Faktoren zu finden, bestenfalls nur unvollständige Erklärungen ergeben; insbesondere bleibt die Beständigkeit des Antisemitismus in allen Arten von unterschiedlichen historischen und geografischen Umständen unerklärlich. (…)
Am anderen Extrem steht die Ansicht, dass Antisemitismus vollständig aus unmittelbaren Ursachen heraus zu erklären ist. Nach dieser Ansicht habe jede Generation ihren eigenen Antisemitismus, und es sei falsch zu versuchen, alle diese Antisemitismen zu einer zusammenhängenden historischen Kette zu verbinden; tatsächlich gebe es nicht so etwas wie Antisemitismus als historisches Phänomen, das die Jahrhunderte überspannt. Also hätten Ereignisse im Mittelalter keinerlei Bedeutung für antisemitische Äußerungen im 20. Jahrhundert. Antisemitismus sei im Grunde eine Form von Fremdenhass, eine Reaktion auf „den Anderen“ oder auf diejenigen, die nicht als zugehörig betrachtet werden. Da die Juden in irgendeiner Weise (gewöhnlich erklärt als jüdische Unzulänglichkeiten, d.h. „Exklusivität“) länger als alle anderen Fremde in der Gesellschaft geblieben seien, seien sie mehr Spielarten von Fremdenhass begegnet als andere, aber diese Spielarten müssten jeweils für sich behandelt und dürften nicht auf eine unzulässig metaphysische Art verknüpft werden. Das Studium des Antisemitismus bestehe aus der separaten Untersuchung von generationsmäßigen Antisemitismen, die jeweils in Bezug zu den soziologischen Zeitumständen analysiert würden.(…)
Mein eigener, in diesem Buch dargelegter Standpunkt verwirft beide oben genannte Standpunkte. Antisemitismus ist nicht einmalig oder geheimnisvoll, denn er enthält Elemente, die sich alle anderswo finden, wenn auch nicht in Kombination. Eine historisch ausgeprägte Gruppe, die eine verachtete, doch notwendige Rolle in einer größeren Gesellschaft spielt, die ihren Status durch religiöse Texte bestimmt – das alles ist keineswegs einmalig, denn die gleiche Charakterisierung kann man für die Unberührbaren im Hinduismus feststellen. Eine Gruppe, die Ansprüche auf historische Priorität hat und deren Rang deshalb im Interesse einer usurpierenden Mehrheit aberkannt werden muss – das ist noch verbreiteter, genauso wie die Zuordnung eines Usurpationsmythos zu einer solchen bedrückten Minderheit, um ihre Ersetzung zu erklären und zu entschuldigen. Der besondere Mythos, der an den Juden für Usurpationszwecke festgemacht wird, wiederum ist durchaus nicht einmalig. Es ist der Mythos des Heiligen Henkers, der dunklen Gestalt, die mit der Schuld der Gottesopferung belastet ist, und diese Rolle erscheint im Ritual und in der Mythologie vieler Kulturen, wo immer Schuld wegen eines zentralen Rituals der Opferung empfunden wird. Was allerdings einmalig ist, das ist die Anwendung dieses Mythos für die Zwecke der Usurpation und der Schaffung einer Pariakaste
Während ich die Ähnlichkeit des Antisemitismus mit vielen anderen gesellschaftlichen Äußerungen in anderen Kulturen einräume, verwerfe ich das zweite Extrem, den Antisemitismus mit lokalen soziologischen Faktoren zu erklären, unterschiedlich in verschiedenen Gesellschaften, so dass die Einheit des Antisemitismus als historisches Phänomen zerstört wird. Dies ist eine oberflächliche Herangehensweise, die den historischen Sachverhalt zerstückelt und verfehlt, den Antisemitismus als ein viele Jahrhunderte umfassendes Phänomen zu betrachten. Eine solche Herangehensweise bietet keine Hoffnung auf irgendeine grundlegende Lösung des Problems des Antisemitismus, weil es das Problem als eine Hydra zurücklässt, deren Köpfe man nach und nach abhacken kann, der aber ständig neue Köpfe nachwachsen. Während ich zustimme, dass es mehrere Arten von Antisemitismus gibt, bestehe ich darauf, dass der christliche Antisemitismus der bei weitem wichtigste in seinen historischen Folgen samt dem Holocaust ist. Während der islamische Antisemitismus keineswegs unbedeutend ist und in jüngerer Zeit wegen der Staatsgründung Israels noch wichtiger geworden ist, hat er keinen Holocaust auf dem Gewissen. Außerdem bietet er sich nicht in gleicher Weise wie der christliche Antisemitismus selbst zur Lösung an, weil fundamentalistischer Glaube im Islam noch kaum den Schock des Modernismus erfahren hat, und kritische Annäherungen wesentlich sind für die Lösung dessen, was im Kern ein religiöses Problem ist.
Das Christentum bietet dennoch eine gewisse Hoffnung auf eine Lösung, weil es die postfundamentalistische Phase erreicht hat. Es ist daher möglich, die Analyse christlicher religiöser Texte in einem wissenschaftlichen Geist anzugehen und ihren auf Opfer bezogenen Inhalt freizulegen. Trotz 200 Jahren nichtfundamentalistischer Kritik des Neuen Testaments hat diese Aufgabe gerade erst begonnen, weil die Wissenschaftler, seien sie noch so furchtlos in der Zerlegung der Texte und ihrer Zuordnung zu verschiedenen Dokumenten, sich immer noch dagegen sperren, sich dem Kern ihrer Grausamkeit zu stellen. Die anthropologische Analyse des Neuen Testaments ist der unverzichtbare Prolog zum Verständnis des Antisemitismus.
Hyam Maccoby (1924–2004) war Talmudphilologe, Bibliothekar am Leo Baeck College in London und zuletzt Professor für Judaistik an der Universität Leeds. Er erforschte die Entstehung und historische Dynamik von Christentum und Judentum. Seine zentralen Werke Jesus der Pharisäer, Der Mythenschmied und Der Heilige Henker wurden auch außerhalb der akademischen Welt bekannt. Sein Theaterstück Die Disputation wurde in zahlreichen Städten der USA sehr erfolgreich aufgeführt.
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