Im Islam gibt es keinen traditionellen Antisemitismus

 

Ein Gastbeitrag von Peter Wien

 

Und doch ist er heute in islamischen Ländern weit verbreitet. Wie die Europäer den Judenhass in die Arabische Welt brachten.

 

Heilige Schriften sind das, was Menschen aus ihnen machen, denn auch das Gotteswort will verstanden und gedeutet sein. Das gilt für antijüdische Aussagen, die sich im Koran finden, gleichermaßen. Nicht nur sogenannte Islamkritiker bezeichnen sie heute als antisemitisch, auch muslimische Hassprediger zitieren sie. Für die traditionelle Korandeutung ist dies ein neuartiger Missbrauch. Seit mehr als tausend Jahren mühen sich die Muslime, ihr Gotteswort als moralische und rechtliche Lehre anwendbar zu machen. Gelehrte beanspruchten das alleinige Recht auf Deutung. Demokratisch war dieses Vorgehen nicht, aber es garantierte, dass extreme, isolierte Deutungen wenige Chancen hatten.

 

Verse, die zu Gewalt gegenüber Juden aufrufen sind etwa eingebettet in Berichte über historische Ereignisse. Als der Prophet 622 von Mekka nach Medina auswanderte, schloss er ein Bündnis mit der Bevölkerung, das auch jüdische Stämme einschloss. Als diese der Überlieferung nach den Vertrag brachen, übten Muhammad und seine Anhänger Rache. Hass auf Juden in der frühislamischen Tradition entsprang der prekären Lage der Gemeinde, die in Konkurrenz zu gesellschaftlichen Gegnern stand. Nach diesem Verständnis war er situationsgebunden.

 

Ist der Koran antisemitisch?

 

In Frankreich haben jüngst 300 prominente Persönlichkeiten, darunter Charles Aznavour und Nicolas Sarkozy, die Muslime aufgefordert, sich von Stellen im Koran zu distanzieren, die als Gewaltaufruf gegen Juden, Christen oder Ungläubige gelesen werden können. Frankreichs Muslime wiederum warfen den Unterzeichnern vor, sie würden Muslime und radikale Islamisten über einen Kamm scheren. Die härteste Kritik aber kam vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Er sprach von einem Angriff auf die heilige Schrift der Muslime. Die staatliche türkische Universitätsaufsicht kündigte an, dass Französisch-Departements an mehreren Hochschulen erst mal keine neuen Studenten mehr aufnehmen, schließlich gebe es an französischen Unis auch keine Turkologie. Auf Twitter gibt es dafür viel Spott. "Geht nicht mehr in Korankurse, lernt Französisch!", schrieb ein türkischer Nutzer. Auch in Deutschland bewegt die Frage viele: Ist der Koran nun antisemitisch oder nicht? In diesem Beitrag gibt der Nahost-Historiker Peter Wien eine klare Antwort.

 

So oder ähnlich sahen es islamische Gelehrte bis in unsere Zeit. Jüdisches Leben blühte in Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft unter islamischer Herrschaft durch die Jahrhunderte. Historiker sind sich einig, dass es Juden im Islam weit besser ging als im europäischen Christentum. Es gab zwar auch in der islamischen Welt Gewalt gegen Andersgläubige. Doch hatten islamische Gelehrte mehr Probleme mit den Christen und der Dreifaltigkeitslehre, die verdächtig an Vielgötterei erinnerte.

 

 

Bis zum Zerfall des Reiches blieben die osmanischen Juden meist treue Patrioten

 

Die gegenwärtige Debatte in Deutschland über Antisemitismus unter muslimischen Migranten muss diesen historischen Hintergrund berücksichtigen. Im Islam gibt es keinen traditionellen, religiös oder rassistisch begründeten Antisemitismus. Dennoch ist er heutzutage in den mehrheitlich islamischen Ländern weit verbreitet. Weder Rassismus noch die daraus entstehende Gewalt sind zu rechtfertigen. Die Akzeptanz antisemitischer Vorurteile unter Muslimen sollte aber politisch und gesellschaftlich eingeordnet werden und nicht religiös. Ohne die koloniale Unterwerfung der arabischen Welt im 19. und 20. Jahrhundert ist die Verbreitung antisemitischen Gedankenguts auch in anderen islamischen Ländern kaum denkbar.

 

Zu einem wirklich antisemitischen Vorfall kam es im Nahen Osten zuerst 1840 in Damaskus im Milieu katholischer Missionare. Ein italienischstämmiger Mönch war verschwunden, mehrere unter Folter erzwungene Aussagen schrieben sein Verschwinden den Juden zu, die es angeblich auf das Blut des Opfers abgesehen hatten, um Matze zu backen - ein antisemitisches Motiv, das schon aus dem europäischen Mittelalter bekannt ist, und das der französische Konsul ins Spiel brachte. Die meisten europäischen Staatsbürger standen rechtlich unter diplomatischem Schutz, deshalb konnte der französische Repräsentant die Ermittlungen direkt beeinflussen. Einige Christen spielten das Spiel mit, da sie sich wirtschaftlich Vorteile gegenüber jüdischen Konkurrenten erhofften, während der islamische Gouverneur über Syrien seine Zustimmung zur Vollstreckung der Todesurteile verweigerte. Die Affäre erregte großes Aufsehen in Europa, und zog eine Kampagne internationaler jüdischer Würdenträger nach sich, die zwar die Freilassung der Verurteilten erwirkte, aber auch die Stimmung zwischen den Religionsgruppen verschlechterte.

 

Auch in Nordafrika hatten die Juden unter französischer Kolonialherrschaft mehr von europäischen Siedlern zu befürchten als von ihren muslimischen Nachbarn. Ein Erlass des französischer Justizministers Adolphe Crémieux trieb ab 1870 einen Keil zwischen die Religionsgruppen. Mit einem Federstrich machte er alle algerischen Juden zu französischen Staatsbürgern, ohne dass die darum gebeten hätten. Im Gegensatz war es für Muslime fast unmöglich, volle Bürgerrechte zu erlangen, obwohl Algerien französisches Staatsgebiet war. Crémieux war auch Mitbegründer der Alliance Israélite Universelle, einer einflussreichen Organisation mit Hauptquartier in Paris, die zuerst in Nordafrika und dann im Osmanischen Reich Schulen betrieb, um die in ihren Augen zurückgebliebene jüdische Bevölkerung nach europäischen Maßstäben zu zivilisieren. So entfremdeten sich die Juden in Sprache, Habitus und Qualifikationen von ihren Nachbarn.

 

Bis zum Zerfall des Reiches blieben die osmanischen Juden dennoch meist treue Patrioten. In Wirtschaft, Politik und Kultur waren Juden, Christen und Muslime eng verbunden, wohnten Seite an Seite in modernen Wohnvierteln, trafen sich in Schulen, Handelskammern und Freimaurerlogen. Nach dem Ersten Weltkrieg kämpfte die jüngere Generation in Parteien für eine sozialistische Ordnung ohne religiöse Barrieren oder für die Befreiung der arabischen Nation vom Imperialismus.

 

 

Deutsche Spezialisten stellten die antisemitischen Verbindungen her

 

Die Zahl antijüdischer Übergriffe nahm in den arabischen Ländern in den Dreißigerjahren mit dem Widerstand gegen den Zionismus in Palästina zu. Der Gedanke, Land, das mehr als tausend Jahre lang unter muslimischer Herrschaft gestanden hatte, an Juden abtreten zu müssen, erschien absurd. Noch dazu stand das zionistische Projekt unter dem Schutz des verhassten britischen Kolonialismus. Als Lord Balfour 1917 in seiner berühmten Erklärung das Wohlwollen der britischen Regierung für die Errichtung einer "jüdischen Heimstätte" in Palästina aussprach, glaubte der britische Außenminister wohl selbst nicht an die Durchführbarkeit.

 

Es dauerte aber nur zwei Jahrzehnte, bis die Zionisten in Palästina eine komplexe und schlagkräftige Organisation entwickelt hatten. Zahlenmäßiges Wachstum durch Einwanderung erhöhte den Druck der jüdischen Gemeinschaft auf die Palästinenser bis zum Ausbruch der Palästinarevolte 1936. Sie machte die Palästinafrage zu einer gesamtarabischen Sache. Als britische Soldaten den Aufstand kurz vor dem Zweiten Weltkrieg niederschlugen, war die palästinensische Gesellschaft zerrüttet und die Führungselite zerschlagen, inhaftiert, oder im Exil. Vom Scheitern der Revolte haben sich die Palästinenser nie erholt.

 

Einer der Exilanten war der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini. Die Briten hatten ihn zwar 1921 in das einflussreiche Amt eingesetzt, dennoch wurde er zu ihrem schärfsten Gegner. Seine Propaganda machte den Tempelberg in Jerusalem mit dem Felsendom und der al-Aqsa-Moschee in den Dreißigerjahren für Muslime weltweit zum Symbol für die Bedrohung der heiligen Stätten durch den Zionismus. Der wiederum stand für den neo-imperialistischen Machtanspruch des Westens über die islamische Welt - eine Botschaft die sich militant religiös wie auch radikal säkular und nationalistisch nutzen ließ Amin al-Husseini unterhielt bereits in Palästina Kontakte zu deutschen Diplomaten. 1941 führten sie ihn schließlich nach Berlin, wo er sich bis Kriegsende den Nazis andiente. Seine Rundfunkreden wurden auf Arabisch in den Nahen Osten ausgestrahlt und fanden viel Beachtung, doch lösten sie nirgendwo die erhofften anti-britischen Aufstände aus.

 

Die offen antisemitischen Reden und Texte der Nazipropaganda beinhalten Lesarten des Koran, wie sie sich auch heute bei islamistischen Fundamentalisten finden. Einzelne judenfeindliche Verse werden aus dem Zusammenhang gelöst und aufhetzerisch mit europäischen antisemitischen Parolen verwoben. Es ist jedoch fraglich, ob der Mufti die Rundfunkreden selbst verfasste. Deutsche Spezialisten, die teils als Orientalisten mit dem Koran vertraut waren, stellten die antisemitischen Verbindungen her. Die antisemitische, dem Kontext entrissene Deutung einschlägiger Koranverse war im Nahen Osten zu der Zeit noch unbekannt.

 

 

Die meisten arabischen Denker waren Nazigegner - trotz ihres Hasses auf Großbritannien

 

Alles spricht dafür, dass der Mufti in seiner Berliner Zeit zum skrupellosen Antisemiten wurde. Er nutzte seine Verbindungen zu Himmler für den Versuch, die Auswanderung jüdischer Kinder aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Palästina zu verhindern. Von Auschwitz wusste er, auch wenn nicht belegt ist, ob er selbst dort gewesen ist. Nach dem Krieg wurde er in Ägypten als Aushängeschild der palästinensischen Nationalbewegung benutzt, aber sein Einfluss war gering. Seine Heimat betrat er nie mehr.

 

Die meisten Intellektuellen der arabischen Welt blieben bis Ende des Zweiten Weltkriegs Nazigegner. Deutschland bekämpfte zwar die verhassten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich. Nur wenige erlagen aber der Illusion, dass ein Sieg der Achsenmächte im Nahen Osten den Arabern Vorteile bringen würde. Der einzige Ausbruch umfassender antijüdischer Gewalt von Arabern ereignete sich 1941 in Bagdad. Nach der Niederlage deutschfreundlicher Putschisten in einem kurzen Krieg nutzte ein Mob das Machtvakuum der britischen Besetzung und zog mordend, vergewaltigend und plündernd durch die Straßen des armen jüdischen Viertels. Angehörige einer Jugendorganisation, die unter dem Einfluss des Mufti und dem Eindruck deutscher Propaganda standen, beteiligten sich. Bis zu 200 Juden starben. Zahlreiche Muslime öffneten ihren jüdischen Mitbürgern die Türen. Da, wo Juden und Muslime sich kannten, wurde geholfen. Gemordet und geplündert wurde unter Fremden.

 

Vom Ende des Zweiten Weltkriegs an, als sich der Konflikt in Palästina zuzuspitzen begann, vollzog sich aber ein Wandel. Die arabische Öffentlichkeit begann, westliche antisemitische Hetze kritiklos zu übernehmen. Die Kriege zwischen Juden und Palästinensern, später zwischen Juden und anderen Arabern brachten das Trauma der Vertreibung über einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung des neuen israelischen Staates. Nicht nur für Araber steht dieses Trauma stellvertretend für zweihundert Jahre westlicher Hegemonie über die islamische Welt. Antisemitismus ist dadurch nicht entschuldbar, Gewalt gegen Juden nicht zu rechtfertigen. Doch sie liegt nicht in der Geschichte des Islams begründet.

 

 

Peter Wien ist Professor für Geschichte des Modernen Nahen Ostens an der University of Maryland in College Park, USA.

 

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