Judenfeindlichkeit

 

 

Judenfeindlichkeit (auch Judenhass, Judenfeindschaft, gegebenenfalls Judenverfolgung) bezeichnet eine pauschale Ablehnung der Juden und des Judentums. Dieses Phänomen erscheint seit etwa 2.500 Jahren und hat besonders die Geschichte Europas über weite Strecken begleitet. Es reicht von Verleumdung, Diskriminierung und Unterdrückung über lokale und regionale Ausgrenzung, Verfolgung und Vertreibung bis zum Genozid an nahezu sechs Millionen europäischen Juden (Holocaust) in der Zeit des Nationalsozialismus.

 

Sind die Motive der Feindschaft überwiegend religiös, spricht man von Antijudaismus. Sind sie nationalistisch, sozialdarwinistisch oder rassistisch, nennt man dies im Anschluss an die Antisemiten selbst seit etwa 1870 Antisemitismus. Dieser Begriff wird heute oft als Oberbegriff und Synonym für alle Formen pauschaler Judenfeindlichkeit gebraucht. Dabei unterscheidet die Antisemitismusforschung im Antisemitismus (bis 1945) oft einen Frühantisemitismus (von etwa 1800 bis 1879) und einen „modernen“, rassistischen Antisemitismus (1879–1945). Beide unterscheidet sie vom „sekundären“ Antisemitismus (nach 1945). Wo Charaktermerkmale, Ideen und gesellschaftliche Tendenzen als „jüdisch“ abgelehnt werden, obwohl es dort kaum oder keine Juden gibt, spricht man vom „Antisemitismus ohne Juden“. Die Ablehnung des Zionismus und des Staates Israel nennt man Antizionismus. Dieser kann antisemitische Motive enthalten oder verdecken. In Bezug auf die islamische und arabische Welt spricht man dann von einem islamischen oder arabischen Antisemitismus.

 

Im Unterschied zu allgemeiner Fremdenfeindlichkeit wird Judenfeindlichkeit mit angeblich unveränderlichen Eigenschaften von Juden begründet, die oft auch gleichbleibend bezeichnet und dargestellt werden. Juden sollten als „Feinde der Menschheit“ (Antike), „Gottesmörder“, „Brunnenvergifter“, „Ritualmörder“, „Wucherer“ (Mittelalter und frühe Neuzeit), „Parasiten“, „Ausbeuter“, „Verschwörer“ und heimliche „Weltherrscher“ (etwa ab 1789) immer die angeblichen Verursacher aller möglichen negativen Fehlentwicklungen und menschengemachten Katastrophen sein. So ähneln sich antijüdische Karikaturen durch die Jahrhunderte stark. Diese Stereotype wirken bis in die Gegenwart fort und haben sich als außergewöhnlich stabil und anpassungsfähig erwiesen. Solche Judenbilder gelten daher auch als besonders typisches und wirkungsmächtiges Beispiel „für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder“.

 

Pauschale Judenfeindlichkeit tendierte bei all ihren verschiedenen Begründungen letztlich zur Auslöschung des Judentums, indem man es zur überholten und „verworfenen“ Religion erklärte (christliches Mittelalter), einem allgemeinen humanen „Fortschritt“ zum Opfer bringen wollte (Aufklärung) und schließlich zum Untergang im „Rassenkampf“ bestimmte (NS-Zeit).

 

Antike Judenfeindschaft

 

Die Großreiche des Alten Orients Altägypten, Assur, Babylonien, Persien, Medien, das Großreich Alexanders und das Römische Reich versuchten oft, den Völkern eroberter Gebiete ihre Götter und Kultur aufzuzwingen. Ihre Religionspolitik war meist mit einem Staatskult verbunden, der ein Gottkönigtum beinhaltete, um die unterworfenen Völker ihrer Zentralgewalt zu unterwerfen und zu vereinheitlichen. Dabei gestattete ihnen der verbreitete Polytheismus, andere Götter in das eigene Pantheon aufzunehmen. So konnten die eroberten Völker ihre Götter unter neuen Namen weiter verehren.

 

Die Israeliten glaubten seit ihrer vorstaatlichen Zeit (um 1200 bis 1000 v. Chr.) nur an einen Gott (Monotheismus), der sich ihnen im Auszug aus Ägypten als ihr Befreier JHWH bekannt gemacht habe und als Schöpfer der ganzen Welt nicht mit Geschaffenem verwechselbar sei (Ex 3,14 EU, 20,2ff. EU). Sie verweigerten sich zunehmend der polytheistischen Umwelt, lehnten Synkretismus und Gottkönigskulte ab und stellten damit die Wertorientierung und politische Einheit der jeweils herrschenden Großreiche in Frage. In der antiken Geschichte Israels wurde die Existenz des Judentums mehrfach akut bedroht. Die Assyrer zerstörten das Nordreich Israel (722 v. Chr.), die Babylonier zerstörten den ersten Jerusalemer Tempel, exilierten die Oberschicht des Reiches Judas und beendeten seine Königsdynastie (586 v. Chr.). Der Seleukide Antiochus IV. versuchte um 170 v. Chr. zuerst, den Zeuskult im Jerusalemer Tempel zu etablieren, verbot dann den Sabbat und die Beschneidung und verfolgte so die thoratreuen Anhänger der aufständischen Makkabäer unter den Juden, um deren Religion zu vernichten.

 

Das Römische Reich tolerierte nach seiner Eroberung Israels (65 v. Chr.) das Judentum mit seinem erneuerten zentralen Tempelkult zunächst. Durch hohe Steuerlasten, Missachtung wichtiger jüdischer Identitätsmerkmale, etwa des Bilderverbots im Tempelbezirk, und den Kaiserkult der römischen Kaiserzeit entstanden zunehmende Spannungen, die zum Jüdischen Krieg eskalierten. Die Römer beendeten diesen 70 n. Chr., indem sie Jerusalem und den zweiten Jerusalemer Tempel zerstörten. Damit verlor das Judentum sein religiöses und staatliches Zentrum. Nach ihrem Sieg über Simon Bar Kochba (135) verboten die Römer Juden die Ansiedlung in Jerusalem und vereinten Judäa mit seinen Nachbarprovinzen zur Provinz Syria Palaestina, in der nur noch wenige Juden leben durften. Damit hatten die Juden auch ihr Land, die bisherige religiöse Teilautonomie und die Aussicht auf einen eigenen Staat verloren. In der Folgezeit verfestigten sich die seit etwa 200 v. Chr. im Orient verbreiteten antijüdischen Stereotype bei gebildeten Römern: Ihnen galten Juden als „Feinde des Menschengeschlechts“ (Tacitus).

 

Antijudaismus

 

„Antijudaismus“ nennt man eine religiöse Judenfeindschaft, die im Christentum mit spezifisch theologischen Motiven begründet wurde:

 

  • Die Anklage des „Gottesmords“ gibt den Juden eine Kollektivschuld am Tod Jesu Christi. Daraus abgeleitet oder damit verwandt waren christliche Ritualmordlegenden und Stereotype wie der „Hostienfrevel“.
  • Die Substitutionstheologie behauptet, die Juden hätten durch die Ablehnung Jesu Christi ihre Erwählung zum Volk Gottes verloren und stünden unter einem fortwirkenden Fluch Gottes, während die Kirche ihre Erwählung „geerbt“ habe, so dass nur noch zu Christen getaufte Juden das Heil erlangen könnten.

Dazu wurden antijüdisch ausgelegte Textstellen des Neuen Testaments herangezogen. Dies diente anfangs der Selbstbehauptung einer judenchristlichen Minderheit in Judäa, wurde seit etwa 130 von der inzwischen heidenchristlichen Mehrheit übernommen und bis 380 in eine Staatsreligion mit universalem Herrschaftsanspruch integriert. Im Hochmittelalter nahm die antijüdische Kirchenpolitik Züge einer systematischen Verfolgung an. Juden wurden zwangsgetauft, ghettoisiert, kriminalisiert und dämonisiert.

 

Um 1450, gegen Ende der Reconquista, führte die spanische Inquisition unter Torquemada und seinen Nachfolgern den Begriff der limpieza de sangre (spanisch für „Reinheit des Blutes“) ein: Nur Christen, die nicht von zwangsgetauften Juden (Marranen) oder Muslimen (Morisken) abstammten, galten als unverdächtig. 1492 vertrieben die katholischen Könige Spaniens die dort lebenden Juden.

 

Christen grenzten Juden seit dem 9. Jahrhundert aus den meisten Berufsbereichen aus und überließen ihnen verachtete Berufe wie den Trödelhandel, das Pfand- und Kreditwesen. Später begründeten sie ihre Judenfeindschaft oft auch ökonomisch und politisch: Juden galten als Wucherer und arbeitsscheu, die zudem heimlich nach Herrschaft über alle Christen oder sogar nach ihrer Vernichtung strebten. Mit solchen Verschwörungstheorien wurden Pogrome an Juden gerechtfertigt, so besonders bei den Kreuzzügen im 12. und 13. Jahrhundert und bei der Pestpandemie im 14. Jahrhundert. Martin Luther riet in seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen 1543 den Fürsten zur Zerstörung der Synagogen und jüdischen Wohnungen, Internierung, Zwangsarbeit und schließlich Vertreibung der Juden.

 

Im 19. Jahrhundert gingen christliche und rassistische Judenfeindschaft ineinander über; so belebten Antijudaisten und Antisemiten gemeinsam die Ritualmordlegende neu. Seit 1900 waren nationalistische Christen oft auch Antisemiten, so in der NS-Zeit die evangelische Kirchenpartei „Deutsche Christen“.

 

Seit 1945 begann unter dem Eindruck des Holocaust eine allmähliche Abkehr der Kirchen von der theologisch begründeten Judenfeindlichkeit, wobei besonders die Judenmission weiter Streitthema blieb.

 

Der Begriff Antisemitismus

 

Entstehung und Bedeutung

 

Der Begriff „Antisemitismus“ ist ein Antonym zu „Semitismus“. „Semit“ bedeutet „Nachfahre des Sem“, des ersten der drei Söhne Noahs neben Ham und Jafet in der Bibel (Gen 9,18 EU). Auf diese Ahnherren führt die „Völkertafel“ in Gen 10 EU alle aufgezählten Völker der Erde zurück. Sie teilt sie nur nach väterlicher Stammeslinie, Generationenfolge und Siedlungsgebieten ein, nicht nach sprachlichen oder sonstigen Merkmalen. Da Gen 11,9 EU eine ursprünglich einheitliche Weltsprache andeutet, lag es aber nahe, den Stammeslinien verwandte Sprachen zuzuschreiben und auf gemeinsame ethnische Abstammung zu folgern. Die biblische Exegese des Mittelalters ordnete die Semiten Asien, die Jafetiten Europa und Hamiten Afrika zu.

 

Im 18. Jahrhundert wichen manche Historiker und Orientalisten davon ab und bezogen die Stammlinien-Namen auf kontinentübergreifende Sprachfamilien. Im Gefolge von August Ludwig von Schlözer, der Hebräer, Araber und afrikanische Abessinier 1771 als „Semiten“ bezeichnete, ordnet die Sprachwissenschaft Hebräisch, Arabisch, Aramäisch und das in Äthiopien gesprochene Amharisch als semitische Sprachen ein. 1816 stellte Franz Bopp diesen die indogermanischen Sprachen gegenüber, deren Verwandtschaft er bewies. Um 1860 kam auch das Abstraktum „Semitismus“ für Fremdworte aus der Sprachfamilie der „Semiten“ auf. Diesen wurden auch europäische Juden zugeordnet, die in der Diaspora längst nicht mehr nur Hebräisch sprachen.

 

Die Französische Revolution von 1789 hatte die Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte und die Bildung von Nationalstaaten europaweit begünstigt. Damit begannen auch andere Staaten ihre Staatsbürger rechtlich allmählich gleichzustellen und leiteten eine Jüdische Emanzipation ein. Nationalistische Einigungsbewegungen bekämpften diese und suchten der veränderten historischen Lage angepasste Gründe für den tradierten Judenhass des vom Christentum geprägten Mittelalters. Arthur de Gobineau (1853) und andere begründeten den Rassismus als pseudowissenschaftliche Theorie, in der sie auch Juden als eigene, von den übrigen Europäern unterschiedene „Rasse“ definierten. Um 1860 schlossen manche Ethnologen von Sprachfamilien auf ethnisch und genetisch verwandte bzw. verschiedene Völker und Rassen. Obwohl sie „Indogermanen“ und „Semiten“ als gemeinsame kaukasische Rasse zusammengefasst hatten, schrieb der Orientalist Christian Lassen „Ariern“ (Indogermanen) und „Semiten“ in seiner Indischen Altertumskunde (1844–1865) verschiedene Eigenschaften zu:

 

„Die Geschichte beweist, dass Semiten nicht die Harmonie seelischer Kräfte besitzen, die die Arier unterscheidet. Der Semit ist selbstsüchtig und ausschließend. Er besitzt einen scharfen Verstand, der ihn befähigt, Gebrauch von den Gelegenheiten zu machen, die andere schaffen, wie wir es in der Geschichte der Phönizier und später der Araber sehen.“

 

Der französische Historiker und Philologe Ernest Renan kategorisierte Judentum, Christentum und Islam 1862 als „semitische Religion“ und behauptete, „Semiten“ sei jeder militärische, politische, wissenschaftliche und geistige Fortschritt fremd. Intoleranz sei die natürliche Folge ihres Monotheismus, den sie den vom Polytheismus geprägten Ariern kulturell übergestülpt hätten. Ihr „arrogantes Erwählungsbewusstsein“ sei seit 1800 Jahren verantwortlich für den Hass auf sie. Zugleich warnte Renan davor, die heutigen Juden als „Semiten“ zu bezeichnen.

 

Der jüdische Bibliograph und Orientalist Moritz Steinschneider nannte Renans Thesen 1860 „antisemitische Vorurteile“. Für das preußische Staatslexikon von 1865 bedeutete „anti-semitisch“ eine dem „typisch Jüdischen“ entgegengesetzte Haltung. Als „semitisch“ galten also damals schon nur noch angeblich „jüdische“ Eigenschaften. Das Substantiv „Antisemitismus“ tauchte erstmals 1865 im „Rotteck-Welckeschen Staatslexikon“ auf. Seine Erfindung wurde später irrtümlich dem deutschen Journalisten Wilhelm Marr zugeschrieben. Weil der Gegenbegriff „Semitismus“ von „Semiten“ abgeleitet ist und eine Sprachfamilie bezeichnet, kein ethnisches Kollektiv, ist das Antonym eine etymologische Fehlprägung.

 

Marr rief 1879 zur Gründung einer „Antisemiten-Liga“ auf und gab einige „Antisemitische Hefte“ heraus. 1880 initiierte die „Berliner Bewegung“ zudem eine „Antisemitenpetition“. Von da an bezeichnete „Antisemitismus“ allgemein die Haltung von deren Unterzeichnern und Marrs Anhängern. In seiner populären Schrift Der Sieg des Judentums über das Germanenthum (1879) definierte Marr Juden als „orientalische Fremdlinge“ einer „semitischen Race“. Wegen angeblich biologisch determinierter Eigenschaften seien sie moralisch minderwertig und weder durch die christliche Taufe noch erzieherische „Verbesserung“ in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Dieser Versuch gefährde vielmehr die Rasseeigenschaften der Deutschen, die sich nur durch Ausgrenzung der Juden hätten behaupten können, diesen aber gleiche Rechte verschafft und damit ihren Untergang besiegelt hätten. Weil die Juden von Natur aus unfähig zur Assimilation seien, hätten sie einen „Staat im Staate“ gebildet und dann in einem unbemerkten rassistischen Kulturkrieg dessen Presse, Staatsfinanzen und Wirtschaft erobert. „Der Jude“ sei mit der „Geldmacht“ identisch und beherrsche die „Germanen“, die ihren „Kampf ums Dasein“ gegen „Verjudung“ und „Zersetzung“ seit 1848 praktisch verloren hätten. Diesen „aufgeklärten“ politischen Antisemitismus grenzte Marr scharf vom bloß emotionalen christlich-religiösen Judenhass ab, um ihn als rationalen Diskurs erscheinen zu lassen und auch religionsferne Bürger von der angeblich notwendigen Ausgrenzung der Juden zu überzeugen.

 

Da die jüdische Minderheit keine einheitliche Ideologie und Partei vertrat, die die Antisemiten hätten bekämpfen können, konstruierten sie einen völkisch-rassischen Gegensatz und machten das tradierte Schimpfwort „der Jude“ zum Inbegriff aller negativ erlebten und gedeuteten Zeiterscheinungen seit der Aufklärung. Er besitze und lenke die kritische Presse, infiltriere die Nation mit egoistischem Gewinnstreben, kalter Zweckrationalität, fremden Ideen und Tendenzen: Rationalismus, Materialismus, Internationalismus, Individualismus, Pluralismus, Kapitalismus (Manchesterliberalismus), Demokratie, Sozialismus und Kommunismus. Er sei schuld am Zerfall („Zersetzung“) traditioneller Gesellschaftsstrukturen, an Ausbeutung, Wirtschaftskrisen, Kapitalkonzentration und Inflation, Uneinigkeit und Schwäche der Nation. Als Zusammenfassung solcher anti-jüdischen und rassistischen Stereotype wurde der Begriff „Antisemitismus“ im Kaiserreich rasch Allgemeingut. Er blieb etwa 75 Jahre lang die Eigenbezeichnung „prinzipieller“ Judenfeinde, die die Bekämpfung des „Semitismus“ zu ihrem Programm machten und damit die Isolierung, Vertreibung und schließlich die Vernichtung der Juden meinten.

 

Auch im Zarenreich Russland, Kaisertum Österreich und nachrevolutionären Frankreich verbreitete sich Antisemitismus bei verschiedenen antiliberalen und nationalistischen Gruppen.

 

Diskussion

 

Seit 1880 wurde der Ausdruck „Antisemitismus“ als zu weiter, unscharfer „Sammelbegriff für negative Stereotypen über Juden, für Ressentiments und Handlungen, die gegen einzelne Juden als Juden oder gegen das Judentum insgesamt sowie gegen Phänomene, weil sie jüdisch sind, gerichtet sind“, kritisiert. Er bedeute „viele Dinge für viele Leute“ und entziehe sich damit einer einfachen Definition. Das Meyers Konversationslexikon von 1881 vermerkte wie der heutige Brockhaus: Der Begriff sei falsch, weil „Semiten“ neben Juden auch Araber umfasse, die die Antisemiten aber nie meinten.

 

Auch der Antisemit Karl Eugen Dühring sah den Ausdruck als „zu allgemeinen Fehlgriff“: „Die Juden sind ein bestimmtes Volksstämmchen aus der semitischen Rasse und nicht diese Rasse selbst […] Die Juden sind überhaupt die übelste Ausprägung der ganzen semitischen Race zu einer besonders völkergefährlichen Nationalität. Der Ausdruck ‚semitisch‘ wird bei den Juden leicht zur Beschönigung; […] und der Ausdruck Antisemitismus, den man von Europa aus den arabischen Regungen untergeschoben hat, wird, wo man ihn versteht, zu einer offenbaren Lächerlichkeit. Verschiedene semitische Stämme haben einen weit besseren Charakter als die Juden. […] Man sage also eben auch dann, wenn man die Race meint, kurzweg Jude und nicht etwa Semit.“ In dieser Tradition lehnten auch Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels den Begriff später ab, um die Beziehungen zur arabischen Welt nicht zu belasten: „Die deutsche Politik richtet sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Semiten schlechthin. Es soll stattdessen das Wort anti-jüdisch gebraucht werden.“

 

Der von den Nationalsozialisten verfolgte jüdische Schriftsteller Jakob Wassermann kritisierte: „Zum ersten Mal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Hass, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt.“ Der Historiker Eberhard Jäckel (2002) nannte den Begriff eine „sprachlich unzutreffende Bezeichnung für Judenhass“. Georg Berger-Waldenegg (2003) kritisierte, dass der Begriff indirekt den Glauben an „allgemein und historisch durchgehende jüdisch-semitische Eigenschaften induziere und verstärke“.

 

Seit dem Holocaust wurde „Antisemitismus“ zur Fremdbezeichnung. Während Antisemitismusforscher in Israel, Großbritannien und den USA das Wort meist als Oberbegriff für pauschale, auch nichtrassistische Judenfeindlichkeit mit „eliminatorischen“ Zügen verwenden, beziehen deutschsprachige Forscher es meist weiterhin auf jene Strömung, die ab etwa 1789 in Mitteleuropa entstand und deren Vertreter das Wort ab 1879 für ihre Ziele benutzten.

 

Weil die so bezeichnete Judenfeindlichkeit kaum vom Rassismus zu trennen war, beschrieben Reinhard Rürup und Thomas Nipperdey (1972) das damalige Phänomen als „grundsätzlich neue judenfeindliche Bewegung“ und lehnten die Übertragung des Antisemitismusbegriffs auf ältere, nichtrassistische Judenfeindlichkeit ab. Auch die jüdischen Historiker Alex Bein (1980) und Jakob Katz (1988) lehnten die Verwendung von „Antisemitismus“ als Oberbegriff ab. Beide beschrieben den „modernen“ Antisemitismus sowohl als Kontinuum zur früheren Judenfeindlichkeit als auch als Anfang einer neuen Epoche. Hermann Greive (1995) und Helmut Berding (1999) betonten den qualitativen Unterschied des „modernen“ Antisemitismus zu früheren Formen des Judenhasses. Greive hielt jedoch die Betrachtung der Kontinuität oder Diskontinuität zwischen beiden für gleichermaßen legitim.

 

Andere Forscher betonten die Kontinuität. Yehuda Bauer (1992) zufolge kann der Antisemitismus „sein christliches Erbe nicht leugnen“. Ernst Simmel (1993) urteilte: „Der Antisemitismus ist sich über Jahrhunderte hin im wesentlichen gleich geblieben, auch wenn sich seit der Aufklärung seine Ausdrucksformen verändert haben, so wie die ethischen Maßstäbe und die Sozialstrukturen jeder Epoche.“ Rita Botwinick (1996) sah Antisemitismus als „modernes Wort für eine althergebrachte Bösartigkeit“. Shulamit Volkow (1997) zufolge ist es „mit der Neuheit des modernen Antisemitismus nicht weit her“. Olaf Blaschke (2000) stellte die „Unterscheidung zwischen überkommenen religiösen und dabei antijüdisch orientierten Vorstellungen und modernen rassisch motiviertem Denken“ in Frage.

 

Diese Betrachtungsunterschiede spiegeln sich auch in den verschiedenen Bezeichnungen des Phänomens. Alphons Silbermann (1981) unterschied „klassischen“ und „modernen“ Antisemitismus. Winfried Frey (1989) ordnete Beispiele für Judenfeindlichkeit der frühen Neuzeit als „Frühantisemitismus“, „vormodernen“ oder „Proto-Antisemitismus“ ein. Léon Poliakov (1991) plädierte für „Antijudaismus“ als Oberbegriff für religiösen und rassistischen Judenhass. Paul L. Rose (1990 ff.) nannte auch Judenfeindlichkeit vor 1870 „Antisemitismus“, um Kontinuitäten herauszustellen. Wolfgang Altgeld (1992) sprach von „aufgeklärter Judenfeindschaft“ des 18. Jahrhunderts und „frühnationalistischem Antijudaismus“ von 1800 bis zur Märzrevolution 1848. Steven T. Katz (1994) und Victor Karady (1999) verwendeten die Begriffe „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ austauschbar.

 

Weder „Antisemitismus“ noch andere Begriffe setzten sich in der Forschung als Oberbegriffe für alle Arten von Judenfeindlichkeit durch, weil sie ebenfalls unscharf definiert und auf bestimmte Aspekte oder Zeitepochen begrenzt waren. In der Umgangssprache dagegen wurde „Antisemitismus“ seit 1945 laut Nipperdey und Rürup (1975) praktisch gleichbedeutend mit „Judenfeindlichkeit“:

 

„Das Wort Antisemitismus ist nach 1945 in Deutschland zweifellos häufiger gebraucht worden als in den zwölf Jahren vorher. Wissenschaft, Publizistik und Pädagogik haben den Antisemitismus als ein Schlüsselphänomen analysiert. Dabei ist die Bedeutung des Begriffs 'Antisemitismus' außerordentlich erweitert worden: er meint nicht mehr nur die antijüdische Bewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert — die man nun meist als '`modernen Antisemitismus' bezeichnet —, sondern alle judenfeindlichen Äußerungen, Strömungen und Bewegungen in der Geschichte. Antisemitismus ist zu einem 'Synonym für eine unfreundliche oder feindselige Haltung den Juden gegenüber' geworden. Versuche, die ältere, nicht rassisch bestimmte Judenfeindschaft als 'Antijudaismus' oder 'Antimosaismus' vom modernen Antisemitismus abzusetzen, sind praktisch erfolglos geblieben: im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich der Begriff Antisemitismus in seinem weitesten Sinne im wesentlichen durchgesetzt. Auch die Wissenschaft wird diesen Sprachgebrauch berücksichtigen müssen; für ein angemessenes historisches Verständnis des Phänomens 'Antisemitismus' kann sie jedoch auf den älteren, engeren Begriff nicht verzichten.“

 

Sekundärer Antisemitismus

 

siehe Antisemitismus (nach 1945)

 

Nach dem Holocaust trat Antisemitismus als Staatsdoktrin zurück; seit den 1960er Jahren dominieren andere Ausdrucksformen. Manche Antisemitismusforscher, darunter Detlev Claussen und Wolfgang Benz, bezeichnen diese jüngeren antijüdischen Stereotype als „sekundären“ Antisemitismus. Dessen Hauptfunktion sei vor allem in Deutschland eine psychologisch-moralische Schuldabwehr.

 

Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) verzeichnet seit den Terroranschlägen am 11. September 2001 eine Zunahme antisemitischer Tendenzen. Sie veröffentlichte 2005 eine Arbeitsdefinition von Antisemitismus, um den Staaten der EU eine strafrechtliche Beurteilung solcher Tendenzen zu ermöglichen oder zu erleichtern. Besonderes Augenmerk widmete sie als antisemitisch eingestuften Formen der Kritik an Israel.

 

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