Polens Judenhass nach 1945

 

Die Deutschen waren kaum besiegt, da suchten die Polen nach dem Zahngold der Juden. Jan Gross enthüllt diese Missetaten. Er will, dass sich seine Landleute mit der Vergangenheit auseinandersetzen.

 

Ein Pole, der für eine deutsche Zeitung über Jan Tomasz Gross’ „Angst“ schreibt, riskiert einen Spießrutenlauf. Auf der einen Seite warten die polnischen Nationalkatholiken, die Gross 2008 wegen eben dieses Buches einen „Vampir der Geschichtsschreibung“ schimpften und ihn wegen Verletzung der nationalen Ehre vor den Kadi zitieren wollten. Auf der anderen Seite wohl jene deutschen Nazi-Enkel, die im Verweis auf den polnischen Antisemitismus ein probates Lösemittel für das eigene Schamgefühl sehen.

 

Gross wird immer wieder mit Daniel Jonah Goldhagen verglichen. Gross’ Buch „Die Nachbarn“ über den Massenmord in Jedwabne, wo Polen im Juli 1941 – im Zuge einer von den deutschen Besatzern in den von den Sowjets geräumten Gebieten von Kaunas bis Lemberg angestachelten Pogromwelle – ihre jüdischen Nachbarn jagten und ermordeten, hatte 2000 in Polen eine vergleichbare Wirkung wie 1997 Goldhagens Buch über „Hitlers willige Vollstrecker“.

 

 

Ein polnischer Goldhagen

 

Gross rüttelt die polnische Öffentlichkeit mit seinen Büchern immer wieder auf. 2006 mit dem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch „Angst“ über die Nachkriegspogrome in Krakau, Kielce oder Tarnów. Und 2011 mit „Goldene Ernte“ – über die Gier, mit der sich der polnische Mob über die Wohnungen und Habseligkeiten der ermordeten Juden hermachte und nach dem Krieg in Treblinka und anderen deutschen Todesfabriken nach „jüdischem Gold“ suchte.

 

Gross ist in Polen mittlerweile eine Institution. Er transportiert seine unerbittliche Abrechnung mit dem „Gespenstischen Jahrzehnt“ 1939-1949 (so der Titel eines seiner früheren Bücher) nicht als amerikanischer Ausländer ins Land, sondern – wie er bekennt – als Pole, als Sohn einer polnischen Landadligen und eines polnischen Sozialisten jüdischer Abstammung, der in den innerpolnischen Streit um den hausgemachten Antisemitismus eingreift.

 

 

Polens Sicht auf Auschwitz

 

Den Impuls für „Angst“ gab Gross die erschütternde Entdeckung während seiner Archiv-Studien, dass viele Polen, die während des Holocaust Juden versteckten, sich fürchteten, das auch offen zuzugeben. Wie war „nach Auschwitz“ Antisemitismus möglich? Warum wurden Juden, die aus dem Versteck, den Arbeitslagern bzw. der Sowjetunion zurückkehrten, immer wieder mit offener Feindschaft konfrontiert? Warum kam es 1946 in Kielce zu einem Pogrom und andernorts zu gewalttätigen Übergriffen, so dass die Gesamtzahl der jüdischen Opfer zwischen 500 und 1500 lag? Die Antworten auf diese Fragen spitzt Gross in „Angst“ zu messerscharfen Thesen zu:

 

1. Die Polen waren – im Unterschied zu den Westeuropäern – Augenzeugen des deutschen Judenmordes. Sie hätten ihm nicht gleichgültig zugesehen, sondern seien dabei behilflich gewesen. Jedwabne sei kein Einzelfall. In vielen Regionen des besetzten Polen hätten polnische Bauern und Kleinstädter ihre jüdischen Nachbarn gejagt, bei der Gestapo denunziert oder sie erschlagen.

 

 

Die polnische Mitschuld

 

2. Der Holocaust habe bei den Polen kein Trauma hervorgerufen. Hätte es während des Krieges mehr Empathie für die jüdischen Opfer gegeben, wäre es danach nicht zu antisemitischen Ausbrüchen gekommen. Dies sei ein Beleg dafür, dass der Antisemitismus so etwas wie ein Teil des allgemein verständlichen polnischen Kulturcodes war, der der innergesellschaftlichen Kommunikation diente, denn am Pogrom in Kielce habe jeder vierte Bewohner der Stadt, wenn schon nicht direkt mitgemacht, dann zumindest Verständnis für den Mob gezeigt.

 

3. Eine Mitschuld am ausgeprägten Antisemitismus in Polen trage die nationalkatholische „katoendecja“, eine Verquickung der alten antijudaistischen Denkmuster der katholischen Kirche mit der modernen Ideologie der polnischen Nationaldemokraten, die um die Jahrhundertwende nationalen Egoismus predigten und Juden zu gefährlichen „inneren“ Feinden erklärten, die Polen den Weg zum Aufbau eines eigenen Mittelstandes verstellt hätten.

 

 

Verrohung des Krieges

 

4. Eine aggressive Verstärkung habe diese Ideologie in der Wortprägung der „Judäokommune“ erhalten, der Vorstellung, der Bolschewismus sei eine jüdische Erfindung, 1939 hätten „die“ Juden im sowjetisch besetzten Ostpolen die Sowjets begrüßt und Polen denunziert sowie 1944 als Kommunisten und willige Handlanger Stalins das durch die deutsche Besatzung geschundene Polen erneut geknechtet.

 

Entgegen diesem Stereotyp weist Gross in „Angst“ nach, dass die Mehrheit der 200.000 1945 nach Polen zurückgekehrten Juden keineswegs Kommunisten waren; nach ihrer Auswanderung nach Palästina führten sie auch keinen Kommunismus in Israel ein. Zwar gab es in Führungspositionen, auch im Sicherheitsapparat, etliche Funktionäre jüdischer Herkunft, doch auch dort stellten die „ethnischen“ Polen die Mehrheit. Dennoch war und blieb die „Judäokommune“ ein Kampfbegriff der „wahren Polen“.

 

 

Angst vor der Rückkehr der Juden

 

Gross’ letzte These wird bereits im Buchtitel signalisiert: Danach entsprangen die Judenmorde nach dem Krieg der Angst vor den Rückkehrern und dem verdrängten Schuldbewusstsein derjenigen, die an der Vernichtung der Juden mitbeteiligt waren oder sich an der Übernahme jüdischen Eigentums bereichert hatten.

 

„Angst“ ließ in Polen zweimal die Wellen hochschlagen. 2006, nach der amerikanischen Erstveröffentlichung, und 2008 - nach der polnischen Ausgabe. Die nationalkatholischen Medien waren empört über die „Hundert Lügen“, so der Titel eines Anti-Gross-Buches. Man warf dem Autor vor, er räche sich für die Verdrängung der Juden aus den Führungspositionen 1968, er reite auf der antipolnischen Welle, außerdem liefere er Argumente für die Forderungen nach Rückerstattung des namenlosen Eigentums. Und – ein moderaterer Vorwurf – er erschwere den polnisch-jüdischen Dialog und wecke die Dämonen des Antisemitismus.

 

 

Polnischer Antisemitismus

 

Die müssten nicht erst geweckt werden, antwortete im ehrwürdigen liberal-katholischen „Tygodnik Powszechny“ der Historiker Jerzy Jedlicki, weil sie in Mitteleuropa gar nicht schliefen; es genüge, sich die Graffiti in vielen Städten anzuschauen und manche Zeitungen zu lesen, die das Wort „Unser“ im Titel führen: „Wenn man jemanden wecken muss, dann vielleicht die Menschen guten Willens und klarer Vernunft, die oft – psychologisch verständliche – Abwehrmechanismen entwickeln, um die Lage nicht in ihrer krassen Nacktheit und ihrem Ernst zu sehen.“

 

Gross ist keineswegs ein einsamer Rufer in der Wüste. In polnischen Buchhandlungen stapeln sich Bücher zur Geschichte der polnischen Juden und zum polnischen Antisemitismus. Die meisten Fakten, auch die grauenvollsten – wie das Aufspüren von Juden unter Reisenden im Zug durch Pfadfinder – sind aus in Polen schon veröffentlichten Quellen bekannt.

 

 

Gross, der Hieronymus Bosch

 

Sie wurden bereits in großen Debatten erörtert und angeprangert. Das kann man einer dreibändigen Anthologie polnischer Texte aus dem 20. Jahrhundert, die sich mit dem heimischen Antisemitismus, seinen Ideologen und Handlangern auseinandersetzten, entnehmen, die Adam Michnik 2011 herausgegeben hat.

 

Der deutsche Leser wird in „Angst“ auch Spuren dieser Auseinandersetzungen (auch innerhalb der katholischen Kirche!) finden, allerdings nur Spuren, überwiegt bei Gross doch die niederdrückende, den polnischen Leser beschämende Darstellung des Grauenvollen. Marcin Zaremba, der selbst ein Buch über „Die Große Angst 1944-47“ verfasst hat, weist der „Angst“ in einem „Polityka“-Essay eine kathartische Rolle zu.

 

 

Die großen Leider der Polen

 

Er bemängelt allerdings, dass sein Kollege – quasi wie Hieronymus Bosch – ein Panorama des „Jüngsten Gerichts“ habe zeichnen wollen, dabei jedoch an Details haften geblieben sei, weswegen er das ganze Bild gar nicht erfasst habe.

 

Kein anderes Volk, außer den Deutschen, betont Zaremba in einer Polemik, sei durch den Krieg psychisch so zerrieben worden, wie das polnische: „Nirgendwo sonst wurden die Eliten so dezimiert, war die Not so unerträglich. In keinem anderen Land gingen die Prozesse der Atomisierung und der Atrophie der moralischen Bindungen so weit.

 

 

Brutalisierung der Gesellschaft

 

Die Polen waren damals eine ihrer Eliten und Institutionen beraubte, gebrochene Gesellschaft, die aus den Fugen geriet. Sie ähnelten eher einem „Gesellschaftsbrei“ – einer Masse von Familienverbänden mit Sippencharakter – als einer Gesellschaft. Rhetorisch gefragt, hat all das keinen Einfluss auf den moralischen Kollaps nach dem Krieg gehabt? Erinnern wir uns, was nach einigen Tagen des Hurrican in New Orleans geschah. In Polen dauerte der „Hurrican“ über fünf Jahre und sogar länger.“

 

Er endete keineswegs mit der Teilnahme polnisch-kommunistischer Verbände an der Eroberung Berlins im Mai 1945. Der Bürgerkrieg mit aktiver Beteiligung der sowjetischen Geheimdienste dauerte bis 1948 an. Im Osten massakrierte die ukrainische Untergrundarmee polnische Dörfer, während polnische Truppen wiederum die Ukrainer gewaltsam umsiedelten.

 

 

Polens Angst vor den Juden

 

Die Verwilderung und Brutalisierung erhielt auch eine offizielle Note. Am Tag des Pogroms in Kielce, dem 4. Juli 1946, wurden in Danzig verurteilte Nazis in einem Sportstadion gehenkt. Die Presse war entsetzt: Wir sind heute ein wenig barbarischer geworden, schrieb ein bekannter Reporter.

 

Diese „Situation der Zeit“ fehlt bei Gross. Die Fokussierung auf die jüdische Angst vor den Polen und die polnische vor den zurückkehrenden Juden verwischt die Tatsache, dass nur ein Teil der Opfer des „Bandenkrieges“, der Selbstjustiz, der Rachefeldzüge und gewöhnlichen Überfälle Juden waren.

 

 

Massenmord an Juden, Ukrainern und Polen

 

Gelyncht wurden Juden und Polen, Ukrainer und Deutsche, auch vereinzelte Sowjetsoldaten, sofern man ihrer habhaft werden konnte. 1945 wurden 26.471 Raubüberfälle gemeldet, 1946 – 23.987, 1947 nur noch 10.231. Ein „flaches Grab am Waldrand“, schreibt Zaremba, war ein wichtiges Element der damaligen Landschaft.

 

Das alles entschuldigt nichts und mindert nicht das Schamgefühl bei der Lektüre seines Buches. Es erklärt aber die Lebensumstände einer verstörten Bevölkerung, die nach dem „Sieg“ erneut besetzt wurde und mit dem nächsten Weltkrieg rechnete.

 

Äxte, Forken, Eisenstangen

 

Der entstehende Staat war ihr fremd, er hatte unsichere Grenzen, alle seine Regionen waren planmäßig ausgeraubt, überall gab es Marodeure, und Untergrundverbände wie Miliz rutschten nur zu oft in gewöhnliches Banditentum ab.

 

Bei Nowy Sącz griffen die Einwohner zu Äxten, Forken und Eisenstangen, um sich und ihre Habe gegen die wiederholten Überfälle durch die Insassen eines sowjetischen Militärlazaretts zur Wehr zu setzen, wie es im Bericht der Miliz heißt: „Es kommt zu Angst vor vermehrten Diebstählen und einer verzweifelten Selbstverteidigung der aufgebrachten Bürger“. In dieser allgemeinen Verstörung, Verunsicherung, Demoralisisierung und der bodenlosen Armut war es nicht schwer, die Aggression auf den klassischen „Anderen“ zu übertragen.

 

 

Das Bekennen der Sünden

 

Solche Kritik sei nur bedingt zutreffend, erklärte Jan Tomasz Gross in der „Polityka“: „Mich interessiert der Antisemitismus nach dem Krieg und in Polen. Das ist im Vergleich zu anderen Ländern ein Phänomen von größtem Ausmaß, aus einem sehr einfachen Grund.

 

In Polen gab es erheblich mehr Juden als irgendwo sonst. Aber mich interessiert das auch deshalb, weil ich Pole bin. Das ist meine Gesellschaft, ich bin hier aufgewachsen. In jeder Kleinstadt, aus der die polnischen Juden abgeholt wurden, gab es einen konkreten Tag, an dem eine solche Aktion begann. Soll man dort doch irgendeine Stele aufstellen, aus einem Herzensbedürfnis, damit die Menschen es betrauern. Keine Entschuldigungen, keine Entschädigungen. Es geht hier um nichts sonst, nur darum, dass die Sünde beim Namen genannt wird. Dann werden wir Polen endlich aufhören, uns umzusehen, ob hier auch niemand eine Nummer mit uns abzieht…“

 

 

Spießrutenlauf in den Familien

 

Dieser Spießrutenlauf betrifft jede Familie: Wie haben sich meine Eltern, Großeltern damals verhalten? Was haben sie gedacht? Nur in Polen wurde für das Verstecken von Juden nicht nur der Helfer, sondern auch seine Familie erschossen, und dennoch sind in Yad Vashem die meisten Bäume für die „Gerechten unter den Völkern“ polnische.

 

 

Dass sich heute hinter diesen Bäumen im innerpolnischen Diskurs auch ausgesprochene Antisemiten verstecken, gehört genau so zu diesem Spießrutenlauf wie – in den deutsch-polnischen Debatten – der gönnerhaft erhobene Zeigefinger: Wann werdet ihr endlich die Nase in eigenen Dreck stecken? Das geschieht längst, aber nicht jedem steht es zu, von außen ahnungslos darüber zu richten.

 

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