Antisemitismus in Deutschland: Was tut ihr dagegen?

 

Ein Gastbeitrag von Ronald S. Lauder

 

Eine neue Studie belegt, dass Juden in Deutschland aufs Neue wachsendem Antisemitismus ausgesetzt sind. Was treibt diesen gefährlichen Trend an?

 

Das deutsch-jüdische Verhältnis wird immer kompliziert sein. Dies wird niemals verschwinden. Aber seit dem Zweiten Weltkrieg wurden viele wichtige Schritte unternommen, um unsere Beziehungen zu verbessern. Der Terroranschlag an Jom Kippur auf die Synagoge von Halle verdeutlicht jedoch ein massives Versäumnis: Die Führungseliten in Deutschland haben das Ausmaß des neuen und besorgniserregenden Antisemitismus unterschätzt. Am kommenden Montag werde ich in München Bundeskanzlerin Angela Merkel die höchste Auszeichnung des Jüdischen Weltkongresses – die Theodor-Herzl-Medaille – für ihre Bemühungen verleihen, das Nachkriegsversprechen Deutschlands „Nie wieder!“ zu erfüllen.

 

Doch eine vom World Jewish Congress in Auftrag gegebene Studie zum deutschen Antisemitismus legt konkrete Zahlen dafür vor, dass Antisemitismus in Deutschland wieder auf dem Vormarsch ist – nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch unter den Eliten. Diese Studie wurde von Schoen Consulting durchgeführt und hat 1300 Personen aus ganz Deutschland interviewt.

 

Das alarmierende Ergebnis ist, dass siebenundzwanzig Prozent aller Deutschen und achtzehn Prozent der deutschen Eliten antisemitisch sind. Eine Vielzahl von Deutschen ist der Meinung, dass Juden zu viel über den Holocaust sprechen (41 Prozent), beinahe die Hälfte der deutschen Eliten gibt an, Juden seien Israel gegenüber loyaler als gegenüber Deutschland (48 Prozent), und mehr als ein Viertel der deutschen Eliten vertritt die antisemitische Überzeugung, dass Juden im Geschäftsleben (28 Prozent) und in globalen Angelegenheiten (26 Prozent) zu viel Macht haben.

  

 

Nur zwei Generationen nach dem Holocaust

 

Auf der anderen Seite erkennt eine überwiegende Mehrheit der deutschen Eliten an, dass Juden heute in Deutschland von rassistischer Gewalt (60 Prozent) und Hassreden (58 Prozent) bedroht sind. Und sowohl eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung (65 Prozent) als auch der deutschen Eliten (76 Prozent) ist der Ansicht, dass Überzeugungen aus der NS-Ära mit dem Anwachsen rechtsextremer Parteien zunehmen.

 

Die alarmierenden Ergebnisse der Umfrage geben allen Anlass, sich zu fragen, ob Deutschland sich wirklich von seiner schwierigen Vergangenheit gelöst hat. Offensichtlich waren manche erzielten Fortschritte nicht so nachhaltig, wie viele dachten. Um es ganz deutlich zu sagen: Nur zwei Generationen nach dem Holocaust sind Juden in Deutschland und in der Welt wieder Ziele von Übergriffen.

 

 

Was treibt diesen gefährlichen Trend an?

 

  Ich sage dies nicht, um die Lage künstlich zu dramatisieren. Doch die Studie muss uns Anlass zum Innehalten geben, und jeder sollte erkennen, dass dies nicht nur eine „jüdische Angelegenheit“ ist. Vielmehr geht es doch um die entscheidende Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir zukünftig eigentlich leben?

 

Seit meinem Studium in Deutschland begeistern mich die deutsche Kultur und Kunst. Doch diese Form des heutigen Antisemitismus ist mir damals nicht begegnet. Daher bereiten mir die Umfrageergebnisse große Angst, denn Juden in Deutschland befinden sich heutzutage wieder im Fadenkreuz unterschiedlicher antisemitischer Kräfte. Ich frage mich, was diesen gefährlichen Trend antreibt.

 

 

Eine skandalöse Entscheidung

 

Auf der einen Seite gibt es in der politischen Rechten den traditionellen neonazistischen Antisemitismus, der „den Juden“ für alles verantwortlich macht. Dies ist der Hass, der Stephan Balliet dazu inspirierte, betende Menschen am heiligsten jüdischen Feiertag in Halle zu ermorden. In seinem rassistischen Bekenntnis gab Balliet „den Juden“ die Schuld an allen Problemen der Gesellschaft und bestritt die Existenz des Holocaust. Dies ist ein Standardmuster für Antisemitismus.

 

Auf der anderen Seite steht ein radikaler muslimischer Antizionismus, der sich in vielen Bereichen mit dem traditionellen Antizionismus einer extremen Fraktion der deutschen Linken deckt. Diese neue Dynamik fördert einen Hass gegen Israel und alle Juden, mit dem Antisemitismus im Gewand des Antizionismus normalisiert werden soll. Diese Antizionisten dürften auch die skandalöse Entscheidung eines deutschen Gerichtes zustimmend zur Kenntnis genommen haben, dass es Kuwait Airlines gestattet ist, israelischen – und jüdischen – Passagieren die Mitreise zu verweigern.

 

 

Der Schlüssel in diesem Kampf

 

Dabei blenden sie das Offensichtliche vollkommen aus: Genau diese Art des Ausschlusses vom öffentlichen Leben war eine zentrale Taktik der Nationalsozialisten vor dem Holocaust. Wenn uns die Geschichte etwas gelehrt hat, dann dass, als jüdische Bürger erst einmal gesellschaftlich marginalisiert waren, es viel einfacher war, ihnen schreckliche Dinge anzutun.

 

Es gibt einen weiteren Aspekt, der zu diesem alarmierenden Anstieg von Antisemitismus beiträgt: der Mangel an Bildung. Zu wenige junge Menschen wissen heute noch von den Greueltaten, die vor siebzig Jahren stattgefunden haben, und diese Unwissenheit führt zu einem Anstieg des Hasses. Bildung muss ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Antisemitismus sein. Die Schüler über die Abgründe der Vergangenheit und die Bedeutung von Toleranz zu unterrichten ist der Schlüssel in diesem Kampf.

 

 

Wie konnte das sein?

 

Wenn es ein Land auf der Erde gibt, das extrem empfindsam sein sollte, wenn es um Antisemitismus geht, dann ist es Deutschland. Die Parteien und gesellschaftlichen Eliten in diesem Land haben es jedoch versäumt, alle Formen des Antisemitismus von ganz rechts und ganz links konsequent zu bekämpfen. Und anscheinend hat dies dazu beigetragen, dass viele Menschen in Deutschland nie aufgehört – oder jüngst wieder begonnen – haben, diesem Hass zu glauben.

 

Die einzigen Gründe, warum es an Jom Kippur neben den beiden tragischen Morden zu keinem weiteren Gemetzel in Halle gekommen ist, waren die Sicherheitsmaßnahmen der jüdischen Gemeinde und das unerwartete Versagen der Mordwaffe. Es wurde nicht aufgrund staatlich verordneter Maßnahmen verhindert. Vor dem Eingang der Synagoge befanden sich keine Polizeibeamten. Wie konnte das sein?

 

 

Sechs Millionen Gründe für besondere Sensibilität

 

Dabei durchbrach wenige Tage vor dem Angriff in Halle ein Syrer die Sicherheitsbarriere einer anderen Synagoge, schrie Schimpfwörter gegen Israel sowie „Allahu Akbar“ und zog ein Kampfmesser. Er wurde nur wegen Hausfriedensbruchs festgenommen und später wieder freigelassen. Ist seine Tat nicht eine massive Störung des gesellschaftlichen Friedens? Wie kann das sein?

 

Deutschland hat sechs Millionen Gründe, besonders sensibel gegenüber Neonazi-Bewegungen und linkem Judenhass zu sein, aber es ist dem Land auf erschreckende Weise nicht gelungen, das jüngste Wiederaufleben des Antisemitismus wirksam zu bekämpfen – vor allem im Bereich Polizei und Justiz gibt es nach wie vor deutliche Rückstände.

 

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte sind dieses mangelnde Bewusstsein und das Versäumnis, jüdische Mitbürger effektiv zu schützen, inakzeptabel und dürfen sich nicht fortsetzen. Deutschland hat die einzigartige Verantwortung übernommen, dafür zu sorgen, dass etwas Vergleichbares wie der Holocaust nie wieder passiert. Der jüngste Anstieg des Antisemitismus quer durch ganz Europa unterstreicht die Notwendigkeit einer verstärkten Wachsamkeit und Aufklärung.

 

Aus diesem Grund drängt der World Jewish Congress auf eine engagierte Kampagne zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland. Diese sollte sich insbesondere auf das Thema Bildung sowie die stärkere Vernetzung zwischen den Repräsentanten jüdischer Organisationen, den in Deutschland lebenden jüdischen Bürgern sowie der deutschen Gesellschaft als Ganzes konzentrieren – jenseits aller Ideologien und Religionen.

 

 

Das Hass hat nicht bei ihnen aufgehört

 

Am vergangenen Freitag hat die Bundesregierung unter der Leitung von Bundesinnenminister Horst Seehofer ein wichtiges Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland vorgestellt. Ich schätze die Initiative von Herrn Seehofer sehr und freue mich darauf, zusammen mit ihm und anderen die vorgeschlagenen Maßnahmen sowie weitere umzusetzen. Dazu gehören meiner Ansicht nach: Die Verbesserung der Sicherheit von Synagogen und jüdischen Einrichtungen; die Erweiterung der rechtlichen Definition von Antisemitismus; die Erhöhung des Strafmaßes für Täter antisemitischer Angriffe und Erhöhung des Strafmaßes gegenüber anderen Hassverbrechen; die Erhöhung des Strafmaßes für die Online-Veröffentlichung von antisemitischen Hass-Beiträgen (hate speech); die Umsetzung des gesamten Empfehlungskatalogs des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus; der Aufruf an alle Parteien, Antisemiten konsequent aus ihren Reihen zu entfernen; das Verbot mehrerer rechtsextremistischer Gruppen.

 

Lassen Sie mich zum Abschluss an eine wichtige Tatsache erinnern: Der Hass, dem jüdische Bürgerinnen und Bürger als Erstes ausgesetzt waren, hat nicht bei ihnen aufgehört. Vor 75 Jahren, als alles vorbei war, waren sechs Millionen Juden dem Nazi-Terror zum Opfer gefallen. Wir sollten aber nie vergessen, dass auch Deutschland in Trümmern lag und der Krieg weltweit sechzig Millionen Tote hinterlassen hatte. Der Hass auf Juden wird uns genau dorthin zurückführen, doch ich bete für Sie und mich, dass dies nie wieder geschieht!

 

 

Der 1944 in New York geborene Unternehmer und Diplomat Ronald S. Lauder ist seit 2007 Präsident des World Jewish Congress (WJC).

 

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