Wie antijüdisch ist der Koran?

 

Ein Gastbeitrag von Dr. Rudolf Kutschera.

 

 

 

1. Kapitel

 

In den 2019 erschienenen Erinnerungen an ihre Kindheit („Unveiled“) im arabisch-muslimischen Milieu Kanadas beschreibt die Publizistin Yasmine Mohammed den „durchdringenden Hass auf das jüdische Volk – man lernt das von klein auf. In muslimischen Gemeinschaften wird das Wort für Jude nicht nur als Schimpfwort gebraucht, sondern als regelrechter Fluch. Es ist ein Hass, der so durchdringend ist, dass man ihn nicht erkennen kann: Er ist einfach allgegenwärtig. Als Muslimin habe ich niemals innegehalten, um darüber nachzudenken, warum wir das jüdische Volk so sehr hassen sollten … Es ist, wie wenn man ein Kind fragen würde, warum es keine Monster mag. Es ist einfach ein angelerntes Verhalten, das kaum infrage gestellt wird, und der Hass auf Israel ist seine Fortsetzung.“ (1)

 

Einer der zahlreichen Versuche, auch Christen dafür zu gewinnen, fand während des Besuches von Papst Benedikt XVI. am 11. Mai 2009 in Jerusalem statt. Der oberste islamische Richter der Palästinensischen Autonomiebehörde, Scheich Taysir Rajab, rief damals in Anwesenheit des Papstes die Christen dazu auf, sich mit den Muslimen gegen die, wie er sagte, „mörderischen“ Juden zusammenzuschließen. (2)

 

Sind das Einzelfälle, die gar nicht erwähnt werden sollten, weil es zahlreiche Momente friedlicher Koexistenz in Vergangenheit und Gegenwart durchaus gegeben hat? Wer wagt einen unverstellten Blick? Dieser muss danach fragen, in welcher Weise der real existierende muslimische Antijudaismus (3) auch mit dem zentralen Text des Islam, dem Koran, zu tun hat. Der reflexartig gebrachte Verweis auf den Nahostkonflikt greift eindeutig zu kurz.

 

 

„Und deshalb schrieben Wir den Kindern Israel dies vor“

 

Der häufig als Beweis für die Friedensliebe des Islam angeführte (4) Vers 32 aus der 5. Sure des Koran verweist exemplarisch auf das Problem, denn es heißt dort: „Wenn jemand einen Menschen tötet […], so ist’s, als töte er die Menschen allesamt. Wenn aber jemand einem Menschen das Leben bewahrt, so ist’s, als würde er das Leben aller Menschen bewahren.“ (5) Der Koran legt dieses fast wörtliche Zitat aus dem Talmud (6) Allah in den Mund, der diesen Surenvers in „Wir“-Form folgendermaßen einleitet: „Und deshalb schrieben Wir den Kindern Israel dies vor“.

 

Dieses Zitat, das in der Tat ein hohes ethisches Niveau widerspiegelt, ist also weder eine Aufforderung an die Muslime zum Gewaltverzicht noch eine Reverenz an Israel. Ganz im Gegenteil: Der Koranvers 5,32 steht im Kontext einer der zahlreichen Mahnreden an die „Kinder Israel“, also die Juden. Deswegen folgt unmittelbar danach in Vers 5,33 eine grimmige Ankündigung: „Doch die Vergeltung derer, die gegen Allah und seinen Gesandten kämpfen […] ist, dass sie getötet oder gekreuzigt werden oder ihnen ihre Hände und Füße abgehauen werden, wechselweise rechts und links.“

 

Wie kommt es zu derartigen Aussagen? Die arabische Halbinsel war zum Zeitpunkt der Koranentstehung (7), also im 7./8. Jahrhundert, von unterschiedlichsten Kulturen und Religionen geprägt. Muhammad selbst sowie die von ihm gesammelte Gemeinschaft hatten davon Kenntnis. Sie kannten auch die zahlreichen Verwerfungen innerhalb dieser religiös-kulturellen Gemengelage. Der Korantext spiegelt all das wider, denn er ist keineswegs das Ergebnis einsamer Visionen eines Sehers, sondern dokumentiert die etwa 20 Jahre dauernde Entstehung der ersten muslimischen Gemeinschaft samt deren sie umgebenden Auseinandersetzungen.

 

Historisch ist damit an den Zeitraum zwischen 610 – nach muslimischer Tradition der Beginn von Muhammads religiöser Tätigkeit – bis zu seinem Tod als Herrscher über Mekka im Jahr 632 zu denken. Die heutige Koranforschung gibt dabei den Diskussionen sowohl innerhalb der entstehenden muslimischen Gemeinschaft als auch mit ihren Kontrahenten ein viel stärkeres Gewicht als früher, wo nur auf die persönliche Entwicklung des Muhammad geblickt wurde.

 

 

Mit biblischer Autorität ausgestattet

 

Der Koran ist also ein Konglomerat, das von unterschiedlichsten Texten, mündlichen Traditionen und Diskussionen geprägt ist. Darunter gibt es besonders viele biblische Erzählungen und Motive. Den Koranautoren lagen die biblischen Texte aber normalerweise nicht schriftlich vor. Sie hielten das fest, was sie zumeist mündlich, häufig akzentuiert durch jüdische oder christliche Interpretationen, in Erfahrung gebracht hatten. Diese vorgefundenen biblischen Inhalte samt deren Interpretationen wurden von Muhammad und den Koranautoren mit einer bestimmten Intention transformiert: Der „Prophet“ und die ursprüngliche muslimische Gemeinde sollte mit biblischer Autorität ausgestattet werden. Dementsprechend tragen alle biblischen Figuren im Koran Züge des Muhammad und spiegeln gleichzeitig den Diskussionsstand der frühen muslimischen Gemeinschaft wider.

 

Biblische Figuren im Koran wurden dabei häufig in bewusster Absetzung von den theologischen Vorstellungen von Juden und Christen gezeichnet. Dabei ist immer genau zu prüfen, ob das, was Muhammad und die Koranautoren als typisch jüdisch oder christlich wahrgenommen haben, tatsächlich jüdisch oder christlich ist! Gerade biblische Figuren treten im Koran häufig innerhalb von polemischen Argumentationen auf, was deren Bild und Aussagen verzerrt. Das lässt sich exemplarisch an den Surenversen 9,30ff. zeigen, wo den Juden vorgeworfen wird, sie hielten Uzair, das ist der biblische Esra, für den Sohn Gottes. Dieser Vorwurf enthält gravierende Missverständnisse.

 

Muhammad lehnte ja generell jede Vorstellung von einem „Sohn Gottes“ ab, wobei er beim Wort „Sohn“ an ein real von „Gott“ mit einer Frau gezeugtes Wesen denkt. Das ist freilich weder das, was nach christlicher Vorstellung mit Jesus als „Sohn Gottes“ gemeint ist – und schon gar nicht eine reale theologische Kategorie im Judentum. Dieser auf Missverständnissen gründende Vorwurf bezichtigt die Juden also eines ähnlichen Irrtums wie derjenige, dem nach koranischer Optik die Christen angeblich gegenüber Jesus verfallen sind.

 

Der historische Hintergrund für diesen Vorwurf ist vielleicht eine jüdische oder jüdisch-christliche Sekte, die Esra in besonderer Weise verehrt hat und von der Muhammad Kenntnis erlangt hat. Wahrscheinlicher aber ist, so der Koranforscher Heribert Busse, „Muhammad habe in der Hitze des Gefechts die Juden einer Irrlehre bezichtigen wollen, die an Schwere der christlichen Irrlehre von der göttlichen Natur Jesu gleichkommt; dabei konnte er an die hohe Wertschätzung, deren Esra sich im Judentum erfreute, anknüpfen.“ (8) Die Frage nach dem Antijudaismus steht im größeren Kontext der Einstellung des Koran zu den Anhängern anderer Religionen, auf die im Folgenden kurz einzugehen ist

 

 

Kernaussagen im Koran zur Pluralität der Religionen

 

Die Religionen und deren Anhänger erfahren im Koran unterschiedliche Bewertungen. In den Suren 2 und 5 wird etwa Juden und Christen bescheinigt, „dass ihr Glaubensbekenntnis mit dem Islam identisch ist und sie, wie die Muslime, eine Anwartschaft auf das Heil haben. Anders verhält es sich bei der Liste in Sure 22. Der Tenor ist insgesamt negativ; über die Differenzen, die zwischen ihnen [d.h. zwischen Muslimen und den Anhängern aller anderen Religionen, also auch Juden und Christen] bestehen, ‚wird Gott am Tag der Auferstehung entscheiden‘.“ (9) Die koranische Beurteilung anderer Religionen richtet sich dabei vor allem danach, wie deren Vertreter während der jeweiligen Suren-Entstehung zu Muhammad und seiner Gemeinschaft und damit zu deren Aufruf eingestellt waren, sich ihnen anzuschließen.

 

Den Idealzustand für die Menschheit, den es wiederherzustellen gilt, repräsentiert Adam. Er wird im Koran zu einem der Bibel entlehnten Protagonisten einer angeblich einheitlichen Ur-Religion. Dabei repräsentiert er nicht wie im biblischen Original den vom Ackerboden, auf Hebräisch adamah, genommenen Menschen. Er ist also nicht der Mensch an sich mit seinen Möglichkeiten und Gefährdungen. Im Koran wird er zum Gründer einer Gemeinschaft (umma – ein aus dem Hebräischen entlehntes Wort), die im Glauben eins war. Da diese anschließend zerbrach, sandte Gott immer wieder Propheten (unter anderem Noah, Mose, Jesus, Muhammad selbst), die diese Einheit wiederherstellen sollten.

 

Die Spaltung der ursprünglichen Einheitsreligion Adams, ja der Einheit des Menschengeschlechts (10) ist aus koranischer Perspektive sündhaft. Sie wird erst im islamisch dominierten „Haus des Friedens“ aufgehoben. Darunter ist eine Welt zu verstehen, die sich im Sinne Muhammads Allah unterworfen hat.

 

Eine weitere Erklärung für die religiöse Vielfalt liefert der Surenvers 5,48: „Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht, doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch gab. Wetteifert darum um das Gute! Euer aller Rückkehr ist zu Allah, er wird euch dann kundtun, worin ihr immer wieder uneins wart.“ Gelegentlich begründet der Koran den religiösen Pluralismus auch schlicht mit der ethnischen Vielfalt: den vielen Völkern entsprechen viele Religionen. Allerdings war diese Sicht innerislamisch offenbar umstritten. Freilich können im Koran gegensätzliche Aussagen unvermittelt nebeneinander stehen bleiben, indem auf die Allmacht Allahs verwiesen wird, so etwa im Surenvers 25,54: „Dein Herr ist voller Macht.“

 

 

Kinder Israels und Juden

 

Juden und Christen betrachtet der Koran als die „Leute der Schrift“, sie haben Teil an den Offenbarungen aus der himmlischen Urschrift, der „wohlbewahrten Tafel“ (Surenvers 85,22), andernorts auch „Mutter des Buches“ (Surenverse 13,39 und 43,4) genannt.

 

Die Anhänger der mosaischen Religion erscheinen im Koran – vor allem ab der medinischen Phase, also nach der Flucht Muhammads nach Medina – unter zwei Namen: Kinder Israels und Juden. Diese Unterscheidung wird vor allem an der Einstellung zu Jesus festgemacht. Die Spaltung zwischen Judentum und Christentum hat also die koranische Einstellung zu den Juden mitgeprägt. Somit ist auch christlicher Antijudaismus in den Koran eingeflossen. „Nach koranischer Auffassung waren die Juden nichts anderes als ungläubige Israeliten: Jesus wandte sich mit seiner Botschaft an die Kinder Israels; diese teilten sich daraufhin in zwei Gruppen, die Christen (naārā), die an Jesus glaubten, und andere, die nicht glaubten. Letztere hießen fortan Juden.“ (11)

 

Innerhalb der Lebenszeit Muhammads gab es eine Entwicklung bezüglich der Art und Weise, wie mit den Anhängern anderer Religionen zu verfahren ist. Wie im Blick auf die Phasen im Verhältnis zu den Juden noch genauer zu zeigen sein wird, werden gegen Ende seines Lebens Juden und Christen unter bestimmten Bedingungen toleriert. Polytheisten hingegen, häufig „Beigeseller“ genannt – wobei sich diese Bezeichnung auch gegen Christen und deren Trinitätslehre richten kann –, haben sich grundsätzlich zum Islam zu bekehren, denn „der rechte Weg ist klar geworden gegenüber dem Trug“ (Surenvers 2,256). Dazu ist ihnen eine Frist zu gewähren, an deren Ende der Koran die Muslime auffordert: „Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie, und lauert ihnen auf aus jedem Hinterhalt! Doch wenn sie sich bekehren, das Gebet verrichten und die Armensteuer geben, dann lasst sie laufen! Siehe, Allah ist bereit zu vergeben, barmherzig“ (Surenvers 9,5).

 

Die theologischen Motive für die Einstellung des Koran zu den Juden zeigen sich besonders deutlich an zwei zentralen Figuren der biblischen Heilsgeschichte: Abraham und Mose.

 

 

 

2. Kapitel

 

 

Anders, als es der suggestive Ausdruck „abrahamitische Religionen“ nahelegt, hat der koranische Ibrahim – Berichte über ihn sind auf mehrere Suren verteilt – außer dem Namen kaum etwas mit dem biblisch bezeugten Stammvater Israels zu tun. Diese Differenz zeigt sich zuallererst darin, was der Koran gegenüber dem biblischen Bericht weglässt. Im Koran begegnet nämlich „Abraham nirgends als Stammvater der Israeliten“ (12) im Sinne einer Verheißung und deren Weitergabe. Genau darin besteht aber die durchgängig biblische Sicht bis in das Neue Testament hinein.

 

Der Surenvers 2,124 geht noch einen Schritt weiter. In einem Gespräch mit Ibrahim enterbt Allah das angeblich ungerechte Israel: „Damals als sein Herr [= Allah] Ibrahim auf die Probe stellte durch Worte, die er [= Allah] dann erfüllte. Da sprach er: ‚Siehe, ich mach dich zu einem Führer für die Menschen.' Er [= Ibrahim] sprach: ‚Und auch aus meiner Nachkommenschaft?' Er [= Allah] sprach: ‚Mein Bund erstreckt sich nicht auf die Ungerechten [= damit ist Israel gemeint].'“

 

Die biblische Verheißung an die Israeliten, also die Nachkommen Abrahams, lautet hingegen: „Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen“ (Gen 12,3). Man muss die Tragweite dieses Vorgangs verstehen: Unter Berufung auf Abraham schließt der Koran Israel aus der Heilskontinuität aus. Das erinnert an antijudaistische Einstellungen, wie sie sich auch im Laufe der Kirchengeschichte gezeigt haben. In welcher Weise diese dem Koran historisch vorausliegenden christlich-antijudaistischen Einstellungen auf den Korantext Einfluss genommen haben, ist im Detail oft nicht mehr genau auszumachen. Faktum ist aber, dass ausgeprägte Formen des Antijudaismus in den Koran eingeflossen sind – hier unter dem Vorzeichen eines entstellten Abraham.

 

 

Abraham wird zum Vorläufer Muhammads

 

Die Selbstdeutung der entstehenden muslimischen Gemeinschaft unter den Vorzeichen des Abraham bei gleichzeitiger Entwertung jüdischer Traditionen spiegelt sich auch im Antagonismus zwischen Isaak und Ismael wider. Die biblische Erzählung von der „Bindung Isaaks“ (Gen 22, 1-19) offenbart das bedingungslose Gottvertrauen Abrahams. Dadurch kann Gott seine Segensverheißung zum Ziel führen, und genau daran lernt Isaak den Glauben. Der Koran hingegen macht aus dieser Erzählung eine bloße Vater-Sohn-Kulthandlung und ersetzt den biblischen Verheißungsträger Isaak mit Ismael (vgl. Surenverse 37,99-109). Die entsprechende koranische Darstellung bildet die Grundlage einer bis heute fortbestehenden Opferpraxis. (13)

 

Ohne jeden biblischen Anhalt hingegen gibt es im Koran auch die Schilderung von einer Erbauung des Heiligtums in Mekka durch Ismael, gemeinsam mit seinem Vater Abraham. Die Funktion dieser Schilderung besteht darin, Mekka – in Absetzung von Jerusalem – mit biblischer Autorität auszustatten, wie in den Surenversen 3,96–97 festgehalten ist: „Wahrlich, das erste Haus, das für die Menschheit gegründet wurde, ist das zu Bakka [= Mekka] – überreich an Segen und zur Richtschnur für alle Völker. In ihm sind deutliche Zeichen. Die Stätte Abrahams – und wer sie betritt, hat Frieden.“ (14)

 

Damit wird Abraham der – historisch selbstverständlich vorausliegenden – jüdischen und christlichen Tradition gewissermaßen entrissen. Er wird zum Vorläufer Muhammads, wie sich in den Surenversen 3,65–68 zeigt. Dort präsentiert Muhammad seinen eigenen Anspruch als eine Überwindung des jüdisch-christlichen Spalts: „O Volk der Schrift, warum streitet ihr über Abraham, wo die Thora und das Evangelium erst nach ihm herabgesandt wurden? Wollt ihr denn nicht begreifen? Seht doch! Ihr seid es ja, die über das stritten, wovon ihr Kenntnis hattet. Warum streitet ihr denn über das, wovon ihr durchaus keine Kenntnis habt? Allah weiß, ihr aber wisset nicht. Abraham war weder Jude noch Christ; doch er war immer (Gott) zugeneigt (anīf) und (Ihm) gehorsam, und er war nicht der Götzendiener einer. Sicherlich sind die Abraham Nächststehenden unter den Menschen jene, die ihm folgten, und dieser Prophet und die Gläubigen. Und Allah ist der Freund der Gläubigen.“

 

 

Verschmelzen von Abraham und Muhammad

 

Die hier verwendete arabische Bezeichnung für Abraham, anīf, charakterisiert ihn als einen „vorkonfessionellen Monotheisten“ (15), also einen exemplarisch Frommen vorgängig und jenseits von Judentum oder Christentum. In manchen Koranübersetzungen wird dieses arabische Wort denn auch schlicht mit „Muslim“ (16) wiedergegeben. Abraham-Ibrahim wird damit sowohl zum Prototypen der Muslime, al-muslimūn (vgl. Surenverse 2,135f.) als auch zum Spiegelbild des Muhammad. Eine Zusammenschau von Judentum, Christentum und Islam unter dem Stichwort „abrahamitische Religionen“ ist damit vom Koran selbst her ausgeschlossen.

 

Das Verschmelzen von Abraham und Muhammad – unter Ausschluss Israels – reicht bis ins Innere der muslimischen Frömmigkeit hinein. Im täglichen Gebet der Muslime ist eine Formel enthalten, die Abraham und Muhammad zusammenschließt:

 

„Gott, segne Muhammad und das Haus Muhammad,

 

wie du Abraham und das Haus Abraham gesegnet hast.

 

Und gib Heil Muhammad und dem Haus Muhammad,

 

wie du Abraham und dem Haus Abraham Heil gegeben hast.“ (17)

 

 

Mose – vom Gesetzgeber zum Ankläger der Juden

 

Bei der koranischen Mose/Musa-Geschichte fällt besonders auf, wie hier verschiedene biblische Erzählungen ineinandergeschoben wurden. Im Surenvers 28,38 heißt es zunächst vom Pharao – wie im biblischen Bericht –, dass er Mose und sein Volk nicht aus Ägypten ziehen lassen will. Sodann befiehlt der Pharao seinem Minister, so weiter im gleichen Surenvers: „Brenne mir, Haman, Ziegelsteine, und mache mir ein hochgebautes Schloss, dass ich vielleicht aufsteigen kann zum Gott von Mose! Doch siehe, ich halte ihn wahrhaftig für einen Lügner!“ Haman, der antijüdische Regierungsbeamte des Perserkönigs Xerxes aus der biblischen Esther-Geschichte wird also mit dem Pharao sowie dem Turmbau zu Babel (aus dem Buch Genesis) wie in einem Konglomerat zu einer einzigen Geschichte verschmolzen.

 

Die koranisierte Mose-Figur, auf Arabisch Musa, spiegelt noch deutlicher als Abraham-Ibrahim die verschiedenen Phasen Muhammads wieder. Der Koran illustriert anhand der Mose-Figur, wie jemand zu einem großen Propheten wird. Die entsprechenden Entwicklungslinien lassen sich in folgenden Stichworten zusammenfassen: „Die spirituelle Begegnung mit dem transzendenten Gott, das Gefühl unzureichender Kraft angesichts des Auftrags, das Gespalten Sein zwischen der Verpflichtung gegenüber der familiären Herkunft und der Notwendigkeit des Bruches mit ihr, die Erfahrung von Angst und ihrer Überwindung und der Kraft zum geduldigen Ausharren in der Situation der Demütigung.“ (18)

 

Wie bereits bei Abraham-Ibrahim, so sprechen bei Mose-Musa gerade auch die Auslassungen gegenüber dem biblischen Original eine deutliche Sprache. In Sure 20, die dem Leben des Mose gewidmet ist, fehlt gegenüber dem biblischen Original die Schilderung der Übergabe der Tora, der „Tafel-Übergabe“. An sie wird nur an marginaler Stelle summarisch erinnert (19). Dieses Ereignis ist allerdings das Gründungsereignis des Judentums, ihre Marginalisierung kommt also einer Auslassung der jüdischen Erwählungsgeschichte gleich. Diese mutiert zu einer Mahnrede an die „Söhne Israels“, die in dem Hinweis gipfelt: „Denn der, über den mein Zorn kommt, ist verloren“ (Surenvers 20,81c).

 

 

„Wir hören und widersetzen uns!“

 

So werden die „Söhne Israels“ also ausgerechnet vom koranisierten Mose verstoßen und verdammt. Abgesehen von theologischen Gründen wird historisch mitgespielt haben, dass die Juden nicht für den von Muhammad in Medina ersehnten Krieg gegen seine Heimatstadt Mekka zu gewinnen waren.

 

Das zentrale Ereignis des koranischen Musa ist sein Versuch, den Pharao zum Einlenken zu bewegen. In Anlehnung an die biblische Erzählung scheitert das, und der ungläubige Pharao wird sowohl in der diesseitigen Welt als auch im Jenseits bestraft, obwohl er sich kurz vor seinem Ertrinken sogar „bekehrt“. Der ergebene Koranleser versteht: Der Pharao ist ein warnendes Beispiel für alle, die sich der Botschaft des Muhammad widersetzen. Diese Erzählung gehört damit zur literarischen Textsorte „Straflegende“, die sich häufig im Koran findet.

 

Im biblischen Original signalisieren die Israeliten eindeutig ihre Bereitschaft, die Tora Gottes anzunehmen, die Mose ihnen überbringt. Dies ist in zwei Versionen einer Antwort überliefert, nämlich „Wir werden tun und hören“ (Ex 24,7) und „wir hören es und werden es tun“ (Dtn 5,24). Im Koran hingegen wird die Antwort der Israeliten auf die Toragabe in das genaue Gegenteil verkehrt. Der Surenvers 2,93 gibt diesem biblischen Vorbild nämlich eine bösartige Wendung, denn die Israeliten sagen dort auf das Angebot Gottes:

 

„Wir hören und widersetzen uns!“ Diese den Juden in den Mund gelegte Ablehnung der Tora wird im Surenvers 4,46 zu einem – später gerade „klassisch“ gewordenen – Vorwurf erweitert: „Einige von denen, welche Juden sind, die rücken Wörter weg von ihrem Platz (…), indem sie ihre Zungen verdrehen und den Glauben schmähen. Doch hätten sie gesagt: ‚Wir hören und gehorchen!' (…), so wäre das für sie wahrlich gut und angemessen. Doch Gott verfluchte sie ihres Unglaubens wegen!“ Diese koranische Darstellung der angeblichen Antwort der Israeliten auf die Tora ist also ein krasses Missverständnis, das etwas als biblisch ausgibt, was dem biblischen Wortlaut selbst widerspricht. So wird das Zentralereignis Israels, der mosaische Bundesschluss mit der Toragabe, zu einem zentralen Anklagepunkt gegen die Juden.

 

Diese Vereinnahmung biblischer Figuren im Koran steht in einem historischen Kontext, der Entwicklung des Verhältnisses von Muhammad zu den Juden. Deren Phasen spiegeln sich im Koran deutlich wider.

 

 

 

3. Kapitel

 

Dem Koran kann man drei unterscheidbare Phasen in der Beziehung Muhammads und damit der entstehenden islamischen Gemeinschaft zu den Juden entnehmen. Das Spektrum an Einstellungen und Handlungen reicht von der Zustimmung bis zur Vernichtung.

 

Phase 1 dauert von den ersten Visionen in Mekka im Jahr 610 bis zur Hidschra, also der Flucht Muhammads von Mekka nach Medina im Jahr 622. Juden und Christen werden unter dem Namen „Leute der Schrift“ zusammengefasst. Muhammad ist anfangs der Meinung, dass alles, was er in seinem Prophetenamt verkündet, mit „seinen Vorgängern“ – gemeint sind vor allem Mose und Jesus – identisch sei. Die Surenverse 30,2–5 dokumentieren sogar seine Sympathie für Byzanz angesichts der Niederlage gegen die persischen Sassaniden.

 

Die Surenverse 28,52–53 zeigen, dass offensichtlich einige Christen und Juden in der Verkündigung Muhammads Ähnlichkeiten mit der biblischen Botschaft erkannt haben und ihm folglich Zustimmung gaben. Der Koran macht aus diesen Personen dann auch gleich „Muslime“, wie diesen beiden Surenversen zu entnehmen ist: „Diejenigen, denen wir [= Allah] die Schrift gegeben haben, noch ehe er [= der Koran] da war, glauben an ihn. Und wenn er [= der Koran] ihnen verlesen wird, sagen sie: ‚Wir glauben an ihn. Es ist die Wahrheit (die) von unserem Herrn kommt. Wir waren schon Muslime, noch ehe er [= der Koran] da war.'“ Am Ende dieser ersten Phase gibt es allerdings eine Differenzierung, denn nach Muhammad ist ein Teil der Leute der Schrift „ungläubig“. (20)

 

Phase 2 beginnt mit der Hidschra 622, der Flucht Muhammads von Mekka nach Medina, was den Beginn der muslimischen Zeitrechnung markiert. In Medina, einer wohlhabenden Handelsstadt, sieht sich Muhammad zahlreichen gelehrten Juden gegenüber. Für manche gilt er geradezu als jüdischer Prophet. In diese Zeit fällt – höchstwahrscheinlich – die Einführung der Gebetsrichtung, der qibla, nach Jerusalem. Knapp zwei Jahre später wird diese dann, wie bis heute üblich, nach Mekka ausgerichtet.

 

 

Beanspruchung des zerstörten jüdischen Tempels

 

In dieser Phase nähert sich Muhammad einigen jüdischen Traditionen an und beansprucht sie zugleich für sich. Ein sinnenfälliger Ausdruck für diesen Vorgang ist die sogenannte „Nachtreise“. In einer Art von Vision unternimmt der Prophet dabei eine „nächtliche Reise“ (so auch der Titel der diese schildernden Sure 17) „von der heiligen Kultstätte [also Mekka] nach der fernen Kultstätte“ [andernorts auch „fernste Anbetungsstätte“ genannt], so nachzulesen im Surenvers 17,1. Diese Formulierung lässt offen, was genau damit gemeint ist, denn in erster Linie ist hier eine religionspolitische Festlegung getroffen: Mekka ist das Zentrum – alles andere ist Peripherie. Die islamische Tradition beansprucht als Ziel dieser legendären Reise Jerusalem und dort wiederum das Gelände des zerstörten jüdischen Tempels. Das legt den Grund für den konfliktgeladenen islamischen Anspruch auf diesen Ort bis heute.

 

Diese Vision demonstriert sinnenfällig einen theologischen Vorgang, nämlich die Einverleibung der biblisch-jüdischen Tradition und deren Indienstnahme für das eigene Glaubenssystem. Ausgangspunkt für den Weg nach Jerusalem ist das biblische Motiv der Wallfahrt zum Zion (21). Allerdings geht es nicht, wie im biblischen Vorbild, darum, die „Weisung aus Zion“ zu lernen, sondern darum, sich selbst zum Erben Israels zu erklären. Aus dieser Zeit stammt auch die Übernahme jüdischer Gebräuche, vor allem der Speisegesetze (Surenverse 5,3.5), wobei Muhammad gleichzeitig den Juden erlaubt (!), alles zu essen, was Muslime essen. Muhammad entreißt den Juden somit ihre eigene Tradition und erklärt sich selbst zum Erben, der über die Enterbten befinden kann.

 

In diese zweite Phase fällt auch die Schlacht von Badr (22) im Jahr 624. Darin hatte Muhammad im Rahmen einer seiner zahlreichen Karawanen-Raubzüge einen unerwarteten Sieg gegen die Mekkaner errungen. Das verlieh seinem Drang, seine Heimatstadt Mekka zu erobern, einen enormen Auftrieb. Die örtlichen jüdischen Stämme waren aber für diesen Krieg nicht zu gewinnen. „Muhammad entledigte sich der Juden in mehreren Schüben; zwei Stämme wurden aus der Stadt [= Medina] vertrieben, der dritte fiel einem Massaker zum Opfer.“ (23)

 

 

Mohammeds Heer kommt bald wieder“

 

Diese Vertreibungs- und Vernichtungsfeldzüge verdichten sich im Namen der Oase Khaybar. Dieser symbolträchtige Name war etwa im Jahr 2017 wieder zu hören, als aufgebrachte Sprechchöre in mehreren europäischen Städten im Anschluss an die US-amerikanische Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels skandierten:

 

„Khaybar, Khaybar, ya yahud,

 

dschaisch Mohammed saya’ud.“

 

Für nicht Arabisch Sprechende ist dieser Reim unverständlich, und mediale Berichte darüber haben normalerweise nicht für Aufklärung gesorgt. Dieser Sprechchor bedeutet nämlich: „Khaybar, Khaybar, oh ihr Juden! Mohammeds Heer kommt bald wieder.“ Es handelt sich also um eine offene Vernichtungsandrohung unter Anspielung auf tatsächlich erfolgte Vertreibungen und Tötungen von Juden. In Israel war man vor allem schockiert, dass dieser Vernichtungsruf wieder einmal unwidersprochen in Deutschland erklang. Der Name „Khaybar“ selbst ist in Israel hinlänglich bekannt, unter anderem, weil ein Raketentyp der Hisbollah „Khaybar-1“ heißt.

 

Phase 3 in der Beziehung zu den Juden ergab sich aufgrund neuer politisch-militärischer Konstellationen im Rahmen der erfolgreichen Eroberungen Muhammads. In dieser Phase wurden Juden unter gewissen Bedingungen toleriert. Wie ist es zu dieser Art von „Mäßigung“ gekommen? Aufgrund der Erweiterung des Machtbereichs der muslimischen Kampfgemeinschaft zeigte sich, dass ein Vertrag mit Juden oder mit Christen profitabler war als der Besitz einer von Menschen leergefegten Oase.

 

 

Grundsätzlicher Kriegszustand

 

Ein entsprechend aufoktroyierter Pachtvertrag ging dann mit Kultfreiheit einher, denn Muhammad hatte verstanden, dass er die Juden nicht einfach zum Beitritt zum Islam verpflichten konnte. Diese Entwicklung stellte „die Weichen für die zukünftige Politik gegenüber den Leuten der Schrift, gleich welcher Denomination […]. Sie bestand darin, dass ihnen Kultfreiheit gewährt wurde und sie gegenüber den Muslimen zur Zahlung von Abgaben, meist einer Kopfsteuer (gizya) (9,29) verpflichtet waren.“ (24) Juden und Christen unter muslimischer Herrschaft wurden somit zu „Schutzbefohlenen“ (dhimmis), man kann auch sagen: zu Bürgern zweiter Klasse – ein Status in muslimischen Ländern bis heute.

 

Der Zugriff auf den Besitz der Nicht-Muslime, ebenso wie die Einrichtung der Kopfsteuer, die als Zeichen der Demütigung „eigenhändig“ zu entrichten ist (25), erscheint zwar als eine Form der Toleranz. Zuinnerst drückt sie aber den latenten Kriegszustand aus, der grundsätzlich zwischen dem „Haus des Islam“ und dem nicht-muslimisch dominierten „Haus des Krieges“ herrscht. Unschwer lässt sich diese Praxis bis heute in zahlreichen muslimischen Ländern beobachten. Besonders augenfällig wird dieser grundsätzliche Kriegszustand bei der selbstverständlich legitimierten und praktizierten Todesstrafe bei einem Austritt aus dem Islam. Diese wird etwa auch vom derzeitigen Präsidenten der Kairoer Al-Azhar Universität, Ahmed al-Tayyeb, einem gesuchten und als moderat geltenden Gesprächspartner im Westen, gerechtfertigt. (26)

 

In dieser dritten Phase beginnt sich auch das islamische Recht, die Scharia, zu formieren. Diese dritte Phase im Verhältnis zu den Juden bedeutet kein wie auch immer geartetes Einverständnis mit dem Judentum als solchem oder einzelnen Juden. Den Phasen von Koexistenz stehen nämlich harte Aussprüche in den Hadithen, den Spruchsammlungen Muhammads, entgegen, die Jahrhunderte nach ihm zusammengefasst wurden. In einem dieser Hadithe ist sogar das Kommen des Jüngsten Gerichts an die Judenvernichtung geknüpft. In diesem Hadith, der bis heute in einschlägigen Medien zitiert und in Schulen gelehrt wird und sogar in die Charta der Hamas aufgenommen wurde, heißt es: „Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, bis die Muslime die Juden bekämpfen und umbringen; bis der Jude sich hinter den Steinen und Bäumen versteckt, und der Stein und der Baum werden sagen: O, du Muslim, o, du Diener Allahs, dies ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt, komm und bring ihn um!“ (27)

 

 

 

 4. Kapitel

 

Parallel zur Radikalisierung breiter muslimischer Kreise gibt es unter manchen Muslimen den Versuch, sich von antijüdischen Aussagen im Koran zu distanzieren. Ein Weg dazu ist das Prinzip der „Abrogation“, dass also früher zu datierende Koranverse von späteren aufgehoben werden. (28) Manche Muslime fassen den Koran auch als ein zeitgebundenes Dokument auf, das eine bestimmte historische Konstellation widerspiegelt und von daher nicht für Fragen bestimmend ist, die über die persönliche Frömmigkeit hinausgehen. Überdies gibt es Versuche, die „Barmherzigkeit Gottes“ zu einem koranischen Leitmotiv zu erklären. Wenn das wahr ist, dann müssten daran auch alle Einzelaussagen des Koran gemessen und gegebenenfalls verworfen werden – gerade auch alle mit Antijudaismus verbundenen Aussagen.

 

Solche Ansätze brechen allerdings mit islamischen Prinzipien wie der Autorenschaft Allahs als Schöpfer des Koran sowie dem Grundauftrag, dem „fortdauernden Schöpfungshandeln Allahs“ (29) die ganze Welt zu unterwerfen. Es ist also zu bezweifeln, dass derartige relativierende Interpretationen eine realistische Chance auf Verbreitung haben, denn sie müssen immer gegen das Schwergewicht des koranischen Wortlauts argumentieren.

 

Deswegen ist es wichtig, sich über das Ausmaß des koranisch begründeten Judenhasses innerhalb der islamischen Gemeinschaft keinen Illusionen hinzugeben. Er ist eine logische Folge der entsprechenden Koranaussagen und ist zuinnerst mit der islamischen Tradition verbunden. Diese bittere Einsicht wird nur wenig von der Tatsache abgemildert, dass es lange Phasen in der Geschichte gab, in denen es den Juden unter muslimischer Herrschaft deutlich besser ging als unter ihren christlichen Zeitgenossen.

 

 

„Das judenfeindlichste Buch“

 

Wie das Ausmaß antijüdischer Polemik im Koran einen unvoreingenommenen Zeitgenossen nachdenklich machen kann, zeigte sich bei dem bekannten deutschen Publizisten Ralph Giordano (1923–2014). Nach seinen traumatischen Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung war er zu einer prominenten Figur linker Publizistik im Westdeutschland der Nachkriegszeit geworden. Auf Anregung seines Freundes Chaim Noll, eines scharfsichtigen deutsch-israelischen Schriftstellers (und Achgut.com-Autors, Anm. d. Red.), hat Giordano es unternommen, einmal den Koran als ganzen zu lesen.

 

Noll zitierte einmal aus einem Brief, in dem Giordano beschreibt, wie ihn, Giordano, diese Lektüre verändert hat: „Ich habe es mir angetan und habe den Koran gelesen. Von der ersten bis zur letzten, bis zur 114. Sure. Es ist eine Lektüre des Schreckens und des Wahnsinns. Es wird fortwährend dazu aufgerufen, die Ungläubigen zu töten, vor allem aber die Juden, die Juden, die Juden [...]. Ich sage euch, nachdem ich den Koran gelesen habe: der Koran ist das judenfeindlichste Buch, das mir in meinem langen Leben jemals vor die Augen gekommen ist.'“ (30)

 

Die Erkenntnis der Abgründigkeit des koranischen Antijudaismus darf nicht beim Erschrecken stehen bleiben. Besonders in einem christlichen Kontext ergibt sich daraus ein Auftrag. Bereits das Zweite Vatikanische Konzil hat festgehalten, dass die Juden „von Gott geliebt [sind] um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich.“ (31) Diese Erkenntnis ist noch kaum in das allgemeine christliche Bewusstsein vorgedrungen. Von dem im Koran als Prophet geehrten Jesus – dort Isa genannt – ist im Johannesevangelium der Satz überliefert: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22b). Die Flut an antijüdischen Einstellungen in der Geschichte des Christentums hat die darin enthaltene Wertschätzung für die alttestamentlich-jüdische Heilsgeschichte verdunkelt.

 

 

„Nur mit Israel“

 

Die Entdeckung einer Dankbarkeit für diese „Geschichte des Heils“, von der auch Christen und Muslime zehren, wäre der Schlüssel, um zu einem positiven Verhältnis den Juden heute gegenüber zu finden. Anders als der koranische Ibrahim hat Paulus die Abrahams-Nachkommenschaft der Juden für die Christen erweitert (vgl. Gal 2, 6-10) – und nicht ersetzt. Er hat den Boden des Judentums nie verlassen, sondern sich leidenschaftlich für die Einholung der Abraham-Segensverheißung – für alle Völker – eingesetzt. Der fruchtbare Ölbaum bleibt immer Israel selbst, in den die Heiden eingepfropft wurden, wie es im 11. Kapitel des Römerbriefs beschrieben ist. „Volk Gottes“ zu sein, kann für Christen also immer nur im Verbund mit Israel gedacht werden, wie es katholischerseits seit der Erklärung Nostra aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils geboten ist. (32)

 

Papst Johannes Paul II. hat der Katholischen Kirche dabei einen wichtigen Interpretationsmaßstab mit auf den Weg gegeben. Im Jahr 1980 sagte er in Mainz, dass das Gespräch mit Israel zuerst ein Dialog „innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel“ (33) ist. Das Erbe Israels ist folglich nicht etwas Äußerliches, weswegen die Kirche schon um ihrer selbst und ihrer eigenen Identität willen beständig auf dieses Erbe verpflichtet ist. Jüdische Stimmen sind dabei immer mit einzubeziehen.

 

Daraus folgt, dass es keine Verständigung von Muslimen und Christen geben darf, die den koranischen und muslimischen Antijudaismus ignoriert oder verharmlost. Die christliche Substitutionstheologie hat eine fatale Spur hinterlassen, mit Auswirkungen bis in die koranische Auslöschungsdynamik gegenüber der jüdischen Heilsgeschichte und dem jüdischen Volk. Die heutige christliche Antwort muss darin bestehen, angesichts dieser antijüdischen Polemik beständig auf Richtigstellungen zu drängen.

 

Die Konsequenzen dieser Einsicht reichen von der großen Politik – man denke etwa an das europäische Festhalten am Atomvertrag mit dem Iran, der keine Gelegenheit auslässt, die Vernichtung des Staates Israel heraufzubeschwören – über muslimisch-christliche Dialogforen bis hin zu alltäglichen Kontakten mit Muslimen. Das „Nie wieder“ als Erkenntnis aus dem Holocaust muss im Gespräch mit Muslimen zu einem „Nur mit Israel“ werden.

 

 

Dr. Rudolf Kutschera (*1960), Promotion im Fach Dogmatik an der Universität Innsbruck, Tutor des Fernstudiums am Lehrstuhl für die Theologie des Volkes Gottes an der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom, Dozent an der Loyola University Chicago – Rome Center, Oberer der Gemeinschaft der Priester im Dienst an Katholischen Integrierten Gemeinden.

 

 

Quellen

 

(1) Aus der Online-Ausgabe der Jerusalem Post vom 18.08.2018: https://www.jpost.com/Middle-East/Ex-Muslim-to-Post-Trying-to-teach-naive-West-about-true-nature-of-Islam-598946 (Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor, letzter Zugriff am 20.08.2019).

 

(2) Mehr zu dieser Rede, deren Augenzeuge der Autor selbst war, unter: https://www.catholic.org/lent/story.php?id=33531 (letzter Zugriff am 20.8.2019)

 

(3) Es geht also um die Frage nach Antijudaismus. „Antisemitisch“ wäre als Bezeichnung unpassend, da Noachs Sohn Sem nach biblischer Genealogie Stammvater auch der Araber ist.

 

(4) So etwa in Erklärungen islamischer Verbände nach den Anschlägen von Paris im Jahr 2015.

 

(5) Da selbst in der muslimischen Welt – und in zahlreichen Online-Versionen – die unterschiedlichsten Koranübersetzungen Verwendung finden, wird auch im Folgenden aus unterschiedlichen Übersetzungen zitiert, zumeist jedoch aus den deutschen Übersetzungen von Rudi Paret oder Hartmut Bobzin.

 

(6) Vgl. Synhedrin 37a-37b, in: Der babylonische Talmud. Übersetzung durch Lazarus Goldsmidt (Berlin: 1903), 149f.

 

(7) Diverse kontrovers diskutierte Fragen zur Entstehungsgeschichte, literarischen Eigenart oder Autorenschaft des Korans können hier übergangen werden. Relevant als Quelle sunnitisch-muslimischen Glaubens – also für etwa 90 Prozent aller Muslime – ist der Endtext mit seinen 114 Suren (= Kapiteln). Das arabische Wort „Koran“ heißt übersetzt „Verlesung“ und verweist auf einen liturgischen, also gottesdienstlichen Entstehungskontext. Der Einfachheit halber wird im Folgenden zumeist Muhammad als Autor des Korans genannt, obwohl bis zur Herstellung des Endtextes eine Reihe weiterer Autoren und Redaktoren aus dem Kreis der entstehenden muslimischen Gemeinschaft beteiligt waren. Auch die zahlreichen kontroversen Fragen rund um die Biographie Muhammads können hier übergangen werden. Eine alles umstürzende Biographie Muhammads oder der Koranentstehung, wie sie in den letzten Jahrzehnten gelegentlich versucht wurde, kann nicht als gesichert gelten. Sie ist für die Frage nach dem Antijudaismus im Koran letztlich irrelevant. Eine anschauliche Einführung in die Geschichte Muhammads und die Frühgeschichte des Islam findet sich hier (letzter Zugriff am 28.7.2018).

 

(8) Heribert Busse, Die theologischen Beziehungen des Islams zu Judentum und Christentum (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991), 61.

 

(9) Busse (in: Die theologischen Beziehungen, 31f.) bezieht sich hier auf den Surenvers 22,17, in dem „diejenigen, die glauben“ den Juden, Sabiern, Christen, Zoroastriern und Polytheisten gegenübergestellt werden.

 

(10) Vgl. Surenvers 2,213: „Die Menschen waren eine einzige Gemeinde“.

 

(11) Busse, Die theologischen Beziehungen, 33.

 

(12) Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2017), 637.

 

(13) Ein zentraler Teil der Pilgerfahrt nach Mekka ist als Nachahmung dieser Abrahamsdarstellung festgelegt: „Die Pilger vollziehen, dem Beispiel Abrahams folgend, dessen (intendierte) Opferhandlung nach. Das Abrahamsopfer, das ja das islamische Festopfer, aḍḥā, die für jeden Mekkapilger obligate Schlachtung eines Opfertieres, gewissermaßen präfiguriert, ist ein allgegenwärtiger Gegenstand volkstümlicher bildlicher Darstellungen geworden.“ (Angelika Neuwirth, Koranforschung – eine politische Philologie? [Berlin: Walter de Gruyter 2014], 103). Abraham wird damit zum Stifter mekkanischer Riten (vgl. Surenverse 22,26f.).

 

(14) Es gibt Indizien dafür, dass Mekka bereits vorislamisch mit Abraham-Erzählungen verbunden war. Durch den Koran wurden diese legendenhaften Traditionen gewissermaßen zum Glaubensinhalt.

 

(15) Neuwirth, Koranforschung, 106.

 

(16) Z.B. in der Reclam-Übersetzung des Surenverses 3,67 durch Max Henning: „…vielmehr war er lauteren Glaubens, ein Muslim…“

 

(17) Zitiert aus: Neuwirth, Spätantike, 652.

 

(18) Neuwirth, Spätantike, 653.

 

(19) So etwa im Surenvers 7,145: „Und wir [= Allah] schrieben ihm [= Mose] auf den Gesetzestafeln allerlei auf, dass es zur Ermahnung diene...“ oder im Surenvers 20,80: „Ihr Kinder Israels! Wir haben euch (seinerzeit) von eurem Feind errettet und uns mit euch auf der rechten Seite des Berges verabredet...“

 

(20) So etwa im Surenvers 3,100.

 

(21) Vgl. Psalm 122,1f.: „Ich freute mich, als man mir sagte: Zum Haus des Herrn wollen wir pilgern. Schon stehen wir in deinen Toren, Jerusalem.“

 

(22) „Dem Zeugnis der frühislamischen Überlieferung zufolge hatten sich Muhammad mit ungefähr 300 seiner Anhänger nach Badr begeben, um dort eine reiche mekkanische Karawane abzufangen… [Dabei] stießen die Muslime bei Badr unversehens auf eine zahlenmäßig überlegene mekkanische Streitmacht, die zum Schutz der Karawane ausgerückt war, und bereiteten ihr eine vernichtende Niederlage.“ (Maier, Koran-Lexikon [Stuttgart: Kröner, 2001], 21).

 

(23) Busse, Die theologischen Beziehungen, 20.

 

(24) Busse, Die theologischen Beziehungen, 51.

 

(25) Dazu Nagel, Was ist der Islam? Grundzüge einer Weltreligion (Berlin: Duncker & Humblot, 2018) 565: „Durch die mit einer Demutsgeste verbundene Einhändigung einer Kopfsteuer, einer Art Bußabgabe zur Sühnung der Weigerung, in den Islam einzutreten, können sie [= die Dhimmis] immerhin ihr Leben sichern.“

 

(26) So gab Ahmed al-Tayyeb am 16.6.2016 präzise Auskunft zur Frage, was mit jemandem zu geschehen hat, der den Islam verlässt: „Die vier Schulen des Rechts sind sich einig, dass Apostasie [also Austritt aus dem Islam] ein Verbrechen ist und dass ein Apostat aufgefordert werden sollte, Buße zu tun, und wenn er das nicht tut, sollte er getötet werden.“ Diese Aussage ist einem sehenswerten Interview entnommen: https://www.mena-watch.com/mena-analysen-beitraege/der-papst-der-grossscheich-und-die-toleranz/ (letzter Zugriff am 1.7.2019). Darin begründet al-Tayyeb die Tötung des Apostaten mit der Gefahr für die islamische Gesellschaft, gewissermaßen eine Analogie zum Hochverrat.

 

(27) Aus der Hadith-Sammlung des Sahih al-Bukhari Buch 4:6985 (abrufbar unter: https://web.archive.org/web/20171005173210/http://cmje.usc.edu/religious-texts/hadith/muslim/041-smt.php#041.6985 – letzter Zugriff am 26.10.2019).

 

(28) Vgl. dazu und zum Argument von der Historisierung des Korans: Karl Prenner, Legitimiert das Gottesbild des Korans Gewaltanwendung? in: Wolfgang Palaver et al. (Hrsg.), Westliche Moderne, Christentum und Islam. Gewalt als Anfrage an monotheistische Religionen (Innsbruck: University Press 2008), 231-252.

 

(29) Vgl. dazu etwa den Surenvers 2,255: „Allah ist einer allein. Es gibt keinen Gott außer ihm. Er ist der Lebendige und Beständige. Ihn überkommt weder Ermüdung noch Schlaf. Ihm gehört alles, was im Himmel und auf der Erde ist…“

 

(30) Abrufbar unter www.achgut.com vom 28.6.2018 (letzter Zugriff am 16.12.2018).

 

(31) Aus dem 4. Abschnitt der Erklärung Nostra aetate: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html (letzter Zugriff am 26.10.2019).

 

(32) Vgl. dazu aus der Konzilserklärung Nostra aetate Nr. 4: „Deshalb kann die Kirche auch nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schösslinge eingepfropft sind.“ (Quelle vgl. Fußnote 31).

 

(33) Aus der Ansprache an die Vertreter der Juden im Dommuseum in Mainz am 17. November 1980, abrufbar unter:

https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/verlautbarungen/VE_025A.pdf (dort Seite 104; letzter Zugriff am 6.9.2019).

 

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