ein Gastbeitrag von Josef Joffe
Auf die Wortwahl kommt es an: Wenn Deutsche Israel kritisieren, schwingt oft Entlastungswille mit. Ein Auszug aus dem neuen Buch "Der gute Deutsche"
Im Sommer 1948, in einer Waffenpause im israelischen Unabhängigkeitskrieg, entsandten die UN den Vermittler Folke Graf Bernadotte in die Region, damit der einen Frieden zwischen Israelis und Arabern aushandle. Die rechtsnationalen Lechi (die Gruppe "Kämpfer für die Freiheit Israels") beschlossen, den Gesandten umzubringen, um das Projekt im Keim zu ersticken. Bernadottes Entwurf sollte den Arabern Haifa, Jerusalem und weite Teile des Negev zuschlagen. Mit dem Vermittler, so das Mordkalkül, würde auch der Plan sterben.
Die Lechi bekämpften freilich nicht nur Araber, sondern auch die sozialdemokratische Regierung Ben-Gurion. Die hatte die Truppe gleich nach Kriegsbeginn im Mai 1948 aufgelöst; der harte Kern verschwand im Untergrund. Am 17. September wurde Bernadotte in Jerusalem auf offener Straße ermordet. Das Attentat der Lechi "erzürnte und beschämte die jüdische Führung zutiefst", notiert ein neuer, insgesamt israelkritischer Rückblick. Lechi-Anführer und etwa 200 Mitglieder wurden nach dem Attentat verhaftet.
Im fernen Deutschland schrieb die linksliberale Kommentatorin der ZEIT, Marion Gräfin Dönhoff, einen Leitartikel unter dem Titel "Völkischer Ordensstaat Israel", in dem sie die Lechi mit Adolf Hitler verglich. Man dürfe nicht "vergessen", dass die "jüdischen Terrororganisationen (...) gewissermaßen am offiziellen Staatsleben teilnehmen". Zu diesem Zeitpunkt hatte die Regierung die Lechi als "Terrororganisation" klassifiziert, die Verhaftungswelle lief. Der Kommentar schloss mit einer dunklen Warnung: Die "verantwortlichen Männer der Regierung" mögen erkennen, "wie weit sie auf jenem Weg bereits gelangt sind, der erst vor Kurzem ein anderes Volk ins Verhängnis geführt hat".
Es muss das erste Mal gewesen sein, dass kein "Unbelehrbarer", sondern eine geachtete Repräsentantin des neuen Deutschlands den Israelis Nazimethoden nachsagt. Derweil das offizielle Deutschland alsbald die Wiedergutmachung vorantrieb, großzügig die jüdischen Gemeinden alimentierte und stetig das Antisemitismus-Tabu stärkte, begann die veröffentlichte Meinung fast unmerklich zu kippen. Die Wasserscheide war der Sechstagekrieg von 1967, als die Israelis im Dreifrontenkrieg gegen Ägypten, Syrien und Jordanien siegten.
Schneller noch als Israels "Blitzkrieg", ein Wort aus der Nazizeit, das die unterschwellige Bewunderung für die einstigen Opfer transportierte, entfaltete sich der Stimmungswandel im linken Spektrum. 1969 sollte der israelische Botschafter Ascher Ben-Natan an der Universität Hamburg sprechen. Der Asta kündigte an: Dieser "Herrenmensch wird in Hamburg nicht reden". In Frankfurt sprach der SDS von der "Scheinlegitimierung eines Judenstaates". Israel sei ein "rassistischer Staat", mithin ein Wiedergänger des "Dritten Reiches".
"Nachtigall, ick hör dir trapsen", sagt der Berliner. Die 68er waren angetreten, die Elterngeneration als Nazis, Mitläufer oder Vergangenheitsverdränger zu entlarven, um sie zu diskreditieren, dann zu entmachten. Warum hat sich ihre Wut dann gegen Israel gekehrt, warum sind die Ultras in die Ausbildungslager palästinensischer Terrorgruppen gegangen? Hier lernten Mitglieder der linksterroristischen "Tupamaros West-Berlin", wie man die Bombe baute, die 1969 am Gedenktag für die "Kristallnacht" das jüdische Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße zerfetzen sollte (aber nicht zündete) – und zwar im Namen des "bewaffneten Kampfes" gegen den "Zionismus" und "US-Imperialismus". Warum haben zwei Mitglieder der "Roten Zellen" den palästinensischen Genossen geholfen, 1976 einen Airbus der Air France nach Entebbe (Uganda) zu entführen, wo die beiden jungen Deutschen die israelischen und jüdischen Passagiere "selektierten"?
Als amateurpsychologische Antwort drängt sich die Schuldabwehr durch Schuldübertragung auf. Plötzlich waren die sündigen Väter aus dem Spiel und die Israelis die "Herrenmenschen". Israel war kein Kind der Weltgemeinschaft, sondern ein "rassistischer Staat", der mit der Manipulation weltweiter Schuldgefühle den Palästinensern das Land geraubt habe. Es war nicht die Abrechnung mit der deutschen Geschichte, sondern die Flucht aus ihr – und zwar auf dem Rücken der Israelis.
Israel war aber nicht wegzukriegen. Es wuchs im Gegenteil zu einer regionalen Supermacht heran, die der Bundeswehr nicht nur wie am Anfang Low-Tech-Uzi-Maschinenpistolen, sondern später den neuesten Stand der Waffentechnik verkaufte. Der Jud’ blieb da – in Frankfurt wie in Tel Aviv, und er macht uns schuldig, weil er uns durch sein Da-Sein ständig an unsere Untaten erinnert, genauer: an die unserer Väter und Großväter, die uns die Schuld vererbt haben. Das Opfer von gestern muss zum Täter von heute umgedeutet werden, flüstert die Psyche.
Die Gewalt hat viele Väter
Die Projektion war nicht nur ein linkes, im Anti-Imperialismus eingebettetes Projekt. Im April 2002 schrieb der CDU-Abgeordnete und frühere Arbeitsminister Norbert Blüm an den israelischen Botschafter: "Israelische Panzer beschießen die Weihnachtskirche und töten unschuldige Menschen. Das ist ein hemmungsloser Vernichtungskrieg." Ein interessanter Begriff, hatte doch Hitler 1941 den "Vernichtungskampf" gegen die Sowjets ausgerufen. Subkutan schwang bei Blüm die Gleichsetzung Israelis = Nazis mit. Später legte er in einem Interview nach, um zum Kern vorzustoßen: "Wenn die deutsche Vergangenheit dazu benutzt wird, uns jede Kritik [an Israel] zu verbieten, dann wäre die deutsche Schuld mit einer Form von Denkverbot verbunden."
Die direktere Form dieser Einlassung sind Floskeln wie "Kritik an Israel ist doch kein Antisemitismus", "Das wird man doch wohl noch sagen dürfen" oder "Wir lassen uns nicht das Maul verbieten". Von wem? Von den Juden, den Israelis, dem Ausland ... Blüm, stellvertretend für unzählige andere, ließ wissen: "Der Vorwurf des Antisemitismus wird auch als Knüppel benutzt", um Kritik an Israel zu verhindern. Hier trapst abermals die Nachtigall. Selbstverständlich ist Kritik nicht Judäophobie, das ist so wahr wie trivial. Wer einen Menschen oder einen Staat kritisiert, hasst ihn nicht; allerdings tadelt man heftig, häufig und selektiv, wen man nicht ausstehen kann. Mit Blick auf Israel gibt es kein Kritikverbot, im Gegenteil. Die deutschen Medien liefern seit Jahrzehnten keine Berichte mehr, welche die "tapferen Israelis" feiern, die sich gegen eine arabische Übermacht wehren, dabei die Wüste urbar machen und den demokratischen Sozialismus im Kibbuz verwirklicht haben, wo sie noch wie einst in Berliner Salons Hausmusik machen. Es regiert die Kritik, die von belehrend über bitter bis feindselig reicht.
Auf die Wortwahl kommt es an, genauer: auf die emotionalen Ladungen der Begriffe. Sätze wie "Israel setzt unverhältnismäßig Gewalt ein" oder "Die Siedlungspolitik gefährdet den Friedensprozess" mögen richtig oder falsch sein; sie transportieren keine Judenfeindschaft. "Vernichtungskrieg" zieht eine Nazi-Parallele und ist ein anderes Genre. Es diffamiert und dämonisiert, um das eigene Kollektiv zu entlasten und moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Etwa so: Die Israelis tun genau das, was wir getan, aber aufrichtig bereut haben. Blüm fragte, ob ein Deutscher nach Auschwitz so reden dürfe, und antwortete: "Gerade deshalb." Die Wiedergutgewordenen dürfen und müssen den Wiederholungstätern Besserung abfordern. So erhebt sich, wer den anderen niedermacht.
Tatsächlich hat die Gewalt in dieser Region viele Väter: Hegemonial- und Glaubenskonflikte von Beirut bis Kabul, Bürgerkriege von Jemen bis Libyen, Terror und Unterdrückung unter dem gesamten Fruchtbaren Halbmond. Der "Clash" tobt nicht zwischen den Zivilisationen, sondern innerhalb der islamischen Welt; er hat hundertfach mehr Opfer gefordert als der israelisch-palästinensische Konflikt. Selbst wenn Israel von der Landkarte verschwände, bliebe der Frieden dort ein Waisenkind.
Es mag sein, dass hier eine David-gegen-Goliath-Optik am Werk ist, die den Starken immer im Unrecht sieht. Andererseits hält sich die Sympathie für die Schwachen in Grenzen, wo andere Völker oder Bekenntnisse Selbstbestimmung fordern: Kurden in der Türkei, in Syrien und im Irak, Tschetschenen in Russland, Tibeter in China, Nubier in Kenia, Christen und Jesiden in Arabien, Rohingya in Myanmar, Kopten in Ägypten, die Sahrawis in Marokko/Mauretanien, die so lange für einen eigenen Staat kämpfen wie die Palästinenser. Der moralische Impetus, der die Berichte und Kommentare färbt, ist nicht universell.
Die Staatsräson, zu der laut Angela Merkel die "Sicherheit Israels" gehört, ist aber vielleicht entscheidender für das Gesamtbild. Das treffende Beispiel sind die U-Boote, welche die Regierungen Schröder und Merkel zum Discountpreis an Israel geliefert haben. Dass Israel sie mit atomaren Geschossen bestücken kann, ist ein offenes Geheimnis und, im kalten Licht der Abschreckungspolitik betrachtet, der Sinn der Sache. Gegenüber dieser handfesten Lebensversicherung made in Germany verblassen die Angst- und Feindbilder im deutschen Diskurs. Wer hätte sich 1948 vorstellen können, dass Deutschland zu Israels zweitbestem Freund nach Amerika avancieren würde?
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