Zündstoff

 

 

Ein Gastbeitrag von Annabel Wahba, Jörg Burger und Tereza Mundilova

 

 

Im Frühjahr ging das Video eines jungen Mannes um die Welt, der in Berlin von einem anderen mit einem Gürtel geschlagen wurde, weil er eine Kippa trug. Es kam zum Prozess. Der Täter wurde verurteilt. Aber die Geschichte ist komplizierter.

 

Das kleine Stück Stoff, das Adam Armoushs Leben umkrempelte, liegt unter einer Glashaube im Foyer des Jüdischen Museums von Berlin. Menschen gehen ehrfürchtig darum herum wie um einen Schrein, betrachten es von allen Seiten und unterhalten sich leise auf Englisch, Spanisch oder Französisch. "Kippa des Anstoßes" steht auf der Tafel neben der Vitrine. Der 21-jährige Adam Armoush trug sie, als ihn am 17. April in Berlin ein anderer junger Mann auf der Straße angriff und mit seinem Gürtel schlug. Das Video, das Armoush dabei mit seinem Handy aufnahm, hat das Land aufgewühlt. Nun hat seine jeansfarbene Kippa ein Denkmal bekommen, noch bevor ihre Geschichte zu Ende erzählt ist. "Rapid Response" nennt die Kuratorin dieses neue Museumskonzept. Schnelle Antwort.

 

Der Mann, dem sie gehört, ist sich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr sicher, ob das alles so eine gute Idee war. Als das Jüdische Museum ihn kurz nach der Attacke um die Leihgabe der Kippa bat, hatte Adam Armoush noch nicht begriffen, was es bedeutet, zur Galionsfigur zu werden. Dass er von nun an nicht nur Tausende Unterstützer haben würde, sondern auch viele Feinde. Dass er vereinnahmt werden würde, auch von den Falschen.

 

Adam Armoush sitzt an einem Junitag in einem Café in Prenzlauer Berg, er wohnt in der Nähe in einer kleinen Wohnung. Hier, in diesem bürgerlichen Stadtteil von Berlin, wurde er angegriffen. Er trägt ein ärmelloses Shirt, aus dem schmale Arme hervorschauen. Seine braunen Haare trägt er an den Seiten kurz geschnitten und oben lockig, sein Ohr ziert ein kleiner schwarzer Stecker. Beim Reden macht er lange Pausen. Die letzten zwei Monate seit dem Angriff haben ihn mitgenommen, so sehr, dass er auch in seinem Tiermedizinstudium ein Pausensemester eingelegt hat. Er selbst wird nicht ins Museum gehen, wo seine Kippa zwei Monate lang ausgestellt ist. "Das ist mir zu viel Aufmerksamkeit."

 

Die Geschichte seiner Kippa beginnt am Abend des 17. April. Armoush ist mit einem Freund unterwegs, Salah Mehdi*, beide tragen Kippa. Was dann geschieht, hat Armoush teilweise mit seinem Smartphone gefilmt. Auf dem knapp einminütigen Video sieht man, wie ein junger Mann, die Augen vor Wut weit aufgerissen, mit seinem Gürtel auf den filmenden Armoush einschlägt und auf Arabisch "dreckiger Jude" schreit. Mehdi, der zuvor zurückgewichen war, ist nicht zu sehen auf dem Video. Schließlich zerrt ein Begleiter des Angreifers diesen weg.

 

Nachdem Armoush bei der Polizei Anzeige gegen unbekannt erstattet hat, lädt er das Video in einer geschlossenen Facebook-Gruppe hoch, er hofft, dass jemand den Täter erkennt. Bald geht es durchs Netz, wird millionenfach angeklickt und beherrscht die deutschen Schlagzeilen. Es geht dabei um die Frage, ob arabische Zuwanderer einen neuen Antisemitismus nach Deutschland importieren. Auch Journalisten aus Japan, den USA und der arabischen Welt berichten über die Attacke mit dem Gürtel. Angela Merkel meldet sich zu Wort und verurteilt im Fernsehen den "schrecklichen Vorfall". In den Tagen danach gehen in Deutschland Tausende auf die Straße und tragen aus Solidarität mit Armoush eine Kippa. Nur er ist bei keiner der Veranstaltungen dabei.

 

Auch als Anfang November der Pogromnacht von 1938 gedacht wurde, waren die Bilder von dem Angriff ständig in den Fernsehdokumentationen zu sehen. Als Beleg dafür, wie gefährlich es heute wieder sein kann, als Jude in Deutschland auf die Straße zu gehen. Sie haben sich ins Gedächtnis eingebrannt. Ähnlich den Bildern aus Chemnitz, die die Jagd Rechtsradikaler auf Ausländer zeigen. 2018 ist das Jahr, in dem verwackelte Handyvideos Politik machen. Die Debatte um das Video aus Chemnitz hat sogar dazu geführt, dass der Verfassungsschutzpräsident gehen musste.

 

Welche Macht Bilder haben können, war Armoush nicht bewusst. Dass sie benutzt werden von allen Seiten und jeder seine eigene Wahrheit daraus zieht. Sein Video hat ihn zu einer Symbolfigur wider Willen gemacht, er steht stellvertretend für alle Opfer von Antisemitismus. Nur: Er ist gar kein Jude. Er wurde in den ersten Meldungen nur fälschlich als einer bezeichnet. Armoush kommt aus einer christlich-arabischen Familie in Israel. Dass er mit einer Kippa auf die Straße ging, hat viel mit der schizophrenen Situation zu tun, in der Jugendliche wie er im Nahen Osten aufwachsen.

 

Adam Armoushs Muttersprache ist Arabisch, dieselbe wie die des 19 Jahre alten Angreifers Kanaan S. Ihre Biografien sind sich ähnlicher, als sie selbst ahnten: Beide waren im Spätsommer 2015 nach Deutschland gekommen, beide stammen aus ursprünglich palästinensischen Familien. Nur kam Armoush als Student mit israelischem Pass hierher und Kanaan S. als staatenloser Flüchtling aus Syrien. Armoush zog zunächst in eine Wohngemeinschaft nach Hannover, Kanaan S. in ein Jugendwohnheim außerhalb von Berlin. Kanaan S., der eigentlich ein "Engelsgesicht" hat, wie es eine Beteiligte im späteren Prozess ausdrückt, trägt die Heimat seiner Vorfahren im Namen: Kanaan ist die biblische Bezeichnung des Gebietes, das seine Großeltern nach der Staatsgründung Israels 1948 verließen. Sie stammen aus der Hafenstadt Akko – der Stadt, in der Armoush geboren wurde.

 

Dass diese beiden Männer 2018 auf einer Straße in Berlin aneinandergerieten, ist ein Zufall, aber einer, der viel mit dem Konflikt im Nahen Osten zu tun hat, einem über drei Generationen vererbten Konflikt, der bis heute Lebensläufe prägt. Und in dem religiöse Symbole mittlerweile derart mit Bedeutung aufgeladen sind, dass das Individuum dahinter verschwindet. Deshalb ist die "Gürtelattacke", wie sie in den Zeitungen genannt wurde, nicht nur ein besonderer Fall von Antisemitismus, sie sagt nebenbei auch eine Menge über die Identitätssuche zweier junger Männer aus und viel über unsere Mediengesellschaft.

 

Im Mai lag in Adam Armoushs Briefkasten die Ladung, dass er vor Gericht als Zeuge gegen Kanaan S. aussagen soll, der hatte sich zwei Tage nach der Tat gestellt und kam in Untersuchungshaft. "Was passiert da genau? Wird Kanaan auch im Saal sein?", fragt Armoush an diesem warmen Junitag, zwei Wochen vor Prozessbeginn. Er war noch nie vor Gericht und hat keine Ahnung, wie so etwas abläuft. Von denen, die in den Tagen nach dem Vorfall mit ihm sprachen und ihn teilweise intensiv begleiteten – Journalisten, Ermittler, Vertreter der Jüdischen Gemeinde, Mitarbeiter des Jüdischen Museums –, kam offenbar keiner auf die Idee, ihm zu erklären, was da auf ihn zukommt. Armoush weiß nur, dass er Kanaan S. am liebsten nie mehr wiedersehen will. Gedankenverloren spielt er mit seiner Halskette, an der ein kleiner silberner Marienanhänger befestigt ist. Sie ist ein Geschenk eines engen Freundes und hat keinen religiösen Wert für ihn, er trägt sie als Schmuckstück, weil sie ihm gefällt. Armoush ist katholisch getauft, aber er fühle sich keiner Religion zugehörig, sagt er. "Ich bin Atheist."

 

Die ersten drei Nächte nach der Tat habe er kaum geschlafen. Von den Schlägen hatte er schmerzende Striemen am Oberkörper und eine aufgeplatzte Lippe. Schlimmer sei aber gewesen, dass er sich plötzlich unsicher gefühlt habe in Berlin. "An dem Abend saßen so viele Leute draußen in den Restaurants, aber bis auf zwei Frauen hat sich niemand eingemischt."

 

Seit dem Angriff steht sein Name im Internet, auch sein ungefährer Wohnort wurde bekannt. Im Netz las er Hasskommentare und Drohungen. "Wartet nur, ihr dreckigen Juden" war noch einer der harmloseren. "Ich war überrascht, dass einer wie Kanaan so viele Sympathisanten hat", sagt er. Für sie ist Armoush der Feind, ob er nun selbst Jude ist oder sich mit Juden solidarisiert. Seither hat Adam Armoush Angst, dass jemand die Drohungen in die Tat umsetzen könnte. "Ich versuche, nachts nicht mehr allein von der U-Bahn nach Hause zu gehen, und wenn doch, dann renne ich ganz schnell." Er sucht nach einer neuen Wohnung, aber findet bislang keine. Dabei war Berlin seine Traumstadt, als er Anfang des Jahres von Hannover hierher zog. Hier fand er schnell gute Freunde, hier will er bleiben.

 

Mittlerweile fragt sich Armoush, ob er nicht doch zu einem Anwalt hätte gehen sollen. Aber er habe nicht gewusst, wovon er den bezahlen solle. "Einen Anwalt brauchst du nur, wenn du willst, dass der andere eine besonders hohe Strafe bekommt", hatte ein Freund ihm gesagt. Das will Armoush nicht, er will einfach nur, dass Kanaan S. überhaupt eine Strafe bekommt. "Es geht mir ums Prinzip", sagt er. Er will, dass die Regeln eingehalten werden.

 

Wenn man den Beginn jenes Abends in einem Satz zusammenfasst, klingt er wie der Anfang eines Witzes: Gehen ein Christ und ein Muslim über die Straße, eine jüdische Kippa auf dem Kopf. Was Armoush, den Atheisten, antrieb, mit einer Kippa auf die Straße zu gehen, mag zunächst schwer zu verstehen sein. Seine Muttersprache ist Arabisch, sein Nachname ebenso – der Rest ist kompliziert. "Meine Großeltern habe ich nie kennengelernt", sagt er. Mütterlicherseits stammt er von palästinensischen Christen ab. Die Mutter seines Vaters, eines Arztes, war palästinensische Muslimin und deren Mann marokkanischer Jude.

 

Als Kind verbringt Adam Armoush viel Zeit in der arabisch besiedelten Region um Haifa, wo sein Vater ein Stück Land hat, auf dem sie Pferde, Kaninchen und Hühner halten. Aber mit dem Erwachsenwerden entfernt er sich von der arabischen Community. Heute identifiziert er sich mit dem jüdischen Staat Israel. Er käme anders als viele arabische Israelis gar nicht auf die Idee, zu sagen: Ich bin Palästinenser.

 

"Ich hatte immer viele jüdische Freunde, weil ich auf eine gemischte Schule ging", sagt er. Schon während seiner Schulzeit träumt er von Tel Aviv, der liberalen Metropole, wo viele junge Leute leben, die denken wie er. Armoush ist Veganer, die Beiträge, die er auf seinem Facebook-Profil postet, handeln fast alle von Tierschutz und Menschenrechten. Die Familie eines jüdischen Freundes in Tel Aviv wird ein zweites Zuhause für ihn. "Ich besuche sie heute noch", sagt Armoush.

 

Dennoch verlässt er Israel, sobald er mit der Schule fertig ist. Der andauernde Konflikt zwischen Juden und Arabern, der ständige Druck mache das Leben dort sehr anstrengend. Er geht nach Hannover, wo es eine der besten Hochschulen für Tiermedizin gibt, sein Wunschfach, wie er sagt. Aber in der Stadt findet er nicht die Weltoffenheit, die er sucht. "Da bin ich fast eingegangen." Nach zweieinhalb Jahren, Anfang 2018, zieht er nach Berlin, für die anstehenden Uni-Klausuren kann er auch von hier aus lernen. Zum Wintersemester plant er, die Uni zu wechseln.

 

"In Berlin habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich frei gefühlt", sagt er. Es gibt ein Foto, das ihn mit Salah Mehdi, zwei weiteren Freunden und einer Freundin auf der Party zum Christopher Street Day zeigt. Eine lachende Gruppe mit Sonnenbrillen, einer hat die Regenbogenfahne dabei, im Hintergrund blitzt die Berliner Siegessäule. Rassismus oder Intoleranz hat Armoush in Berlin nie erlebt. Bis zu dem Übergriff am 17. April.

 

Ein paar Tage zuvor ist Armoush noch zu Besuch in Israel. Er trifft Freunde in Tel Aviv, und weil gerade das Pessach-Fest gefeiert wird und alle Kippa tragen, schenkt ihm sein jüdischer Freund Schlomi Dan die Kippa. "Sie ist etwas Heiliges und sollte ihn schützen", erzählt Dan am Telefon. Die jeansfarbene Kippa, auf die mit rotem Garn der Kopf eines gläubigen Juden mit Bart, Hut und Sonnenbrille gestickt ist, hat Dan in New York gekauft und selbst ein paarmal getragen

 

Kurz nach Pessach begeht Israel den Holocaustgedenktag, morgens um 10 Uhr heulen im ganzen Land die Sirenen auf. Alle, egal wo sie sich befinden, halten für zwei Minuten inne, um der Opfer zu gedenken. Die Kippa hat an diesem Tag eine besondere Bedeutung. Auch Adam Armoush trägt seine, wird Teil der Masse um ihn herum. "Ich fühlte mich total wohl damit", erzählt er.

 

Er sehe im Judentum nicht so sehr eine Religion: "Jude zu sein bedeutet, zu einem Volk zu gehören. Wenn ich eine Kippa trage, dann aus Solidarität mit der Geschichte der Juden." Und er nennt noch einen profanen, aber für einen 21-Jährigen recht plausiblen Grund: Er findet, dass die Kappe auf seinem Kopf gut aussieht.

 

Armoush steht noch unter dem Eindruck jener Tage, als er am 16. April nach Berlin zurückkommt. Am Abend des 17. April will er zusammen mit Salah Mehdi einen Freund besuchen. "Weil der Freund Jude ist, hatten wir die Idee, ihn mit der Kippa auf dem Kopf zu überraschen", sagt Adam Armoush. Mehdi ist ebenfalls kein Jude, er entstammt einer muslimischen Familie und ist Deutsch-Marokkaner. Auch er hat eine Kippa, er hat sie im Jahr zuvor in Jerusalem gekauft, während einer Reise, die er mit Freunden durch Israel, Jordanien und Ägypten gemacht hat. Auf Instagram postet er damals schon unter dem Hashtag #no_hate ein Foto von sich mit der gehäkelten Kippa.

 

In Berlin machen sie um 20.11 Uhr, kurz vor dem Übergriff, noch ein Selfie für Armoushs Freund in Tel Aviv, der ihm die Kippa geschenkt hat – Uhrzeit und Ort sind auf dem Smartphone gespeichert. Das Selfie ist das letzte Bild aus Armoushs altem Leben und das Gegenstück zum Video, das danach um die Welt gehen wird. Armoush trägt nicht nur Kippa, sondern auch seinen Marienanhänger. Aber der ist so klein, dass man ihn übersieht. Es ist eine Laune zweier Jungs, die ihre Freundschaft damit unterstreichen, dass sie mit der gleichen Kopfbedeckung aus dem Haus gehen. Sie sind Teil einer globalen Jugendkultur, in der Herkunft, Religion und sexuelle Orientierung zweitrangig sind. Es ist ihr Pech, dass sie auf einen fast Gleichaltrigen treffen, der von einer entgegengesetzten globalen Strömung beeinflusst ist, einer, in der religiöse Symbole wieder so wichtig sind, dass sie darüber bestimmen, wer Freund ist und wer Feind.

 

Ende Juni, als der Prozess gegen Kanaan S. vor dem Amtsgericht Tiergarten beginnt, ist der Andrang von Journalisten und Zuschauern groß. Auch wenn der Jugendrichter warnt, das Verfahren sei "überfrachtet", geht es bei diesem Prozess nicht um eine gewöhnliche Körperverletzung mit Beleidigung. Eine drängende Frage wird in Saal 700 mitverhandelt: Wie geht Deutschland im Jahr 2018 mit Antisemitismus um?

 

Im Gerichtssaal treffen Adam Armoush und Kanaan S. zwei Monate nach dem Angriff zum ersten Mal wieder aufeinander. Armoush hat sich doch noch eine Anwältin genommen, die Strafverteidigerin Ulrike Zecher. Kanaan S. sitzt auf der Anklagebank Armoush frontal gegenüber. Während der in der Verhandlung den Zuschauern seinen Rücken zuwendet und aufrecht dasitzt wie eine Statue, blickt Kanaan S. zu Beginn des Prozesses mit großen Augen in die vollen Reihen, als könnte er selbst nicht fassen, wie viele Leute gekommen sind. Als er am zweiten Verhandlungstag im Publikum seine Schwägerin und ihre Tochter im Kindergartenalter entdeckt, schneidet er Grimassen, um das Kind zum Lachen zu bringen. Auch Armoush fällt das auf. "Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass er noch wahnsinnig jung ist", sagt er später.

 

Im Gerichtssaal erzählt Kanaan S. einiges über sein bisheriges Leben, meist sitzt er mit nach vorn gebeugten Schultern da, erst spricht er auf Deutsch, dann wechselt er ins Arabische. Seine Eltern betrieben einen Computerhandel in der syrischen Großstadt Hama, er sei als letztes von sechs Kindern zur Welt gekommen, mit großem Abstand zu den Geschwistern. Ein "verwöhntes Nesthäkchen", wie der Richter später kommentiert. In den Schulbüchern, aus denen Kanaan S. in Syrien lernt, taucht Israel auf der Landkarte nicht auf. Dort ist nur von Palästina die Rede. Als er 16 ist, beschließt die Familie, dass er wegen des Bürgerkrieges Syrien verlassen soll.

 

Die Voraussetzungen, die Kanaan S. mitbringt, sind denkbar anders als die von Armoush, aber genau wie dieser bricht auch Kanaan nach Deutschland auf, um sich hier eine Zukunft aufzubauen. Seine Eltern hätten sich gewünscht, dass er in Deutschland Lehrer wird, sagt er vor Gericht. Während er ohne Schulabschluss kommt, hat der zwei Jahre ältere Armoush bereits ein gutes Abitur gemacht und bekommt in Hannover einen Studienplatz. Kanaan S. flieht über die Türkei und Ungarn nach Deutschland und kommt am 28. August 2015 hier an. Armoush landet ein paar Tage später mit dem Flugzeug.

 

Knapp 70 Jahre zuvor hatte ein historisches Ereignis, die Staatsgründung Israels, das Schicksal ihrer beider Familien in ungeahnte Bahnen gelenkt. Und so hat der eine Nachfahre das Pech, dass er eine lange, gefährliche Reise auf sich nehmen muss, um nach Deutschland zu kommen, während den anderen ein vierstündiger Flug ganz legal hierherbringt.

 

Armoush besucht in Hannover einen Deutsch-Intensivkurs. Kanaan S. kommt in einer Kleinstadt in Brandenburg in eine Willkommensklasse und später in die 9. Klasse der örtlichen Oberschule. Er träumt von einer Karriere als Fußballer, sein Betreuer im Jugendwohnheim trainiert eine Berliner Mannschaft, dort spielt er kurze Zeit, bis der Trainer den Verein verlässt. In die Schule geht er bald nur noch selten. "Ich war der einzige Asylbewerber, die haben mich gemobbt", erzählt er vor Gericht. Er bricht die Schule ab und fährt immer öfter nach Berlin, wo mittlerweile sein Bruder mit Familie wohnt. Als Kanaan S. im Januar 2017 volljährig wird, meldet er sich im Wohnheim ab und kommt in Berlin bei Freunden unter. Geld vom Jobcenter erhält er nicht, weil er "ein paarmal Termine verpasst" habe, wie er sagt. Er beginnt, zu kiffen und härtere Drogen zu nehmen. In der unter Palästinensern beliebten Shisha-Bar Infiniti an der Sonnenallee ist er Stammgast. Wovon er seinen Drogenkonsum finanziert hat, wird nicht klar im Verfahren.

 

Es gibt einen Ort, an dem sich die Wege der beiden Männer schon einmal gekreuzt haben könnten.

 

Nachdem das Video mit den Gürtelschlägen über Nacht im Internet die Runde gemacht hat, melden sich am Morgen zwei Personen bei der Polizei, die Kanaan S. sofort erkannt haben: als Stammgast aus dem seit Jahrzehnten stadtbekannten Club SchwuZ, dem Schwulen-Zentrum in Berlin-Neukölln. Für eine Werbung des Clubs ließ sich Kanaan S. sogar fotografieren. Im späteren Prozess bestätigt er, dass er regelmäßig ins SchwuZ gegangen sei. Auch Armoush war ein paarmal dort, ohne dass ihm Kanaan aufgefallen wäre.

 

Er habe ihn zunächst nicht mal am Tag der Tat bemerkt, sagt Armoush, erst kurz bevor Kanaan S. auf ihn zugerannt kam. Kanaan S. bestreitet im Prozess, dass er aus Antisemitismus gehandelt habe. "Ich habe nichts gegen Juden", sagt er. In seiner Berliner Fußballmannschaft habe er früher auch mit Juden gespielt.

 

Seine Version der Ereignisse geht so: Er, sein Cousin und ein Freund hätten für seine Tante einen Umzug gemacht und waren mit Rollkoffern und Taschen auf dem Weg zur neuen Wohnung, er habe vorher gekifft, etwas Ecstasy genommen und sei müde gewesen. "Ich fragte meinen Cousin, wann wir da sind, und beschimpfte ihn im Spaß. Ich sagte Hurensohn zu ihm und ›ich verfluche deine Juden‹, das ist ein gängiger Fluch bei uns." Armoush und sein Freund Mehdi hätten das offenbar auf sich bezogen und wiederum ihn, Kanaan S., beleidigt. Erst daraufhin sei er auf die andere Straßenseite gelaufen und habe zugeschlagen. Erst da habe er die Kippa auf Armoushs Kopf gesehen und ihn beschimpft. "Ich wollte damit aber nur seine Person beschimpfen, nicht alle Juden", sagt Kanaan S.

 

Später schiebt er noch etwas nach. Es gilt Armoush, aber er spricht ihn nicht direkt an, obwohl er in seiner Nähe sitzt: "Ich möchte mich entschuldigen, dafür, dass ich ihn geschlagen habe."

 

Kanaan S.’ Version deckt sich nicht mit den Zeugenaussagen, zwei Passantinnen hatten den Vorfall teilweise beobachtet. Auch sein Cousin Mohammed, der sich in einem abgetrennten Verfahren wegen Beleidigung verantworten muss, erinnert sich nicht, Beschimpfungen von Armoush oder Mehdi gehört zu haben.

 

Nach deren Darstellung haben Kanaan S. und die beiden anderen Männer sie auf Arabisch als "Hurensöhne" und "dreckige Juden" beschimpft. Mehdi habe auf Deutsch etwas wie "Haut ab" entgegnet. "Möglicherweise hat er das als Beleidigung aufgefasst", sagt Mehdi im Prozess. Daraufhin sei Kanaan S. auf sie zugerannt. Weil er sein Handy ohnehin gerade in der Hand gehabt habe, sagt Adam Armoush, habe er es hochgenommen und Kanaan S. gefilmt. Mit der freien Hand habe er versucht, sich zu verteidigen. "Ich filme dich", hört man Armoush auf dem Video immer wieder auf Deutsch sagen. Er habe gedacht, Kanaan S. würde von ihm ablassen, wenn der Angriff zum Beweis auf seinem Handy gespeichert ist. Es ist der Glaube an die Macht sozialer Medien. Das Smartphone als magisches Schutzschild.

 

Dann kommt eine der Zeuginnen angelaufen und schreit auf Englisch: "Ich rufe die Polizei! Wir sind hier in Deutschland!" Schließlich zieht Kanaan S.’ Cousin ihn auf die andere Straßenseite. "Jude oder nicht Jude, du musst damit klarkommen", schreit Armoush ihm hinterher. Dann geht er, während Mehdi die Polizei anruft, über die Straße auf Kanaan S. zu, um ihn aufzuhalten, wie er sagt. Da hebt Kanaan S. eine leere Flasche vom Boden auf und droht ihm damit. Als eine andere Zeugin herbeieilt und Kanaan S.’ Arm festhält, lässt er die Flasche fallen. Er läuft seinem Cousin und dem anderen Freund hinterher. "Scheißjuden, zeigt mich doch an", soll er noch gerufen haben.

 

Für den Prozess haben die Ermittler das Facebook-Profil von Kanaan S. ausgewertet. Dort hat er im Dezember 2014 in Verehrung eines weiteren Cousins, der im Bürgerkrieg gefallen ist, mehrere Bilder gepostet. Man sieht den Cousin unter den Schwingen eines Adlers, in Kämpfermontur und mit einem Gewehr posieren. "Märtyrer" wird er im Schriftzug auf dem Bild genannt. Er hat in der "Jerusalem Brigade/Hama Kompanie" gekämpft, einer von Palästinensern gegründeten Brigade, die im syrischen Bürgerkrieg aufseiten Assads kämpft. Im Prozess sagt Kanaan S.’ Cousin Mohammed, dass dieses Bataillon in der Nachbarschaft der Familie gegründet wurde und sie damit sympathisieren.

 

Adam Armoush hat die Fotos aus dem Profil in den Prozessakten gesehen. "Wie soll ich da zur Ruhe kommen?", sagt er. "Wenn du siehst, dass jemand, der dich schon mal angegriffen hat, Waffen verherrlicht, bekommst du doch Angst."

 

Am Vorabend des zweiten Prozesstages sitzen Adam Armoush und Salah Mehdi zusammen in einem Restaurant. Der erste Tag im Gerichtssaal habe ihn sehr mitgenommen, sagt Armoush. "Während meiner Aussage hat Kanaan mich die ganze Zeit angestarrt. Es war gruselig." Armoush nimmt Kanaan S. seine Entschuldigung nicht ab. "Er hat sich nur fürs Schlagen entschuldigt", sagt Armoush. Nicht für die Beleidigungen und nicht für die ganze judenfeindliche Haltung, die dahinterstecke.

 

Sein Freund Salah Mehdi ist nervös, weil er am nächsten Tag auch aussagen wird. Der 25-Jährige macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger, nach dem Abitur in Marokko ging er nach Deutschland, sein Vater lebte hier. Mehdi ist ein schmaler Mann mit filigranen Gesichtszügen. Er hat, ohne dass ihm die Folgen bewusst waren, dafür gesorgt, dass sich das Video im Internet verbreitete. Armoush hatte es ihm gleich nach dem Vorfall über WhatsApp kommentarlos geschickt. Er sagt, sein Akku sei fast leer gewesen, und er habe das Video als Beweis gebraucht für die Polizei, die gerade eingetroffen war. Kurz darauf hat Armoush es auch in der geschlossenen Gruppe "Israelis in Berlin" auf Facebook gepostet, einer Gruppe mit mehr als 17.000 Mitgliedern. Mike Delberg, Repräsentant der Jüdischen Gemeinde in Berlin, wird darauf aufmerksam, er schreibt Armoush sofort eine Nachricht, in der er seine Hilfe anbietet. Mehdi nimmt von sich aus Kontakt zu Delberg auf und schickt ihm das Video. "Bitte helfen Sie uns, das Video weiter zu teilen", schreibt Mehdi dazu. Delberg postet es öffentlich auf seinem Facebook-Profil, über Twitter und erteilt auch Journalisten die Genehmigung, es zu verwenden. Als Armoush das bemerkt, habe er Delberg noch gebeten, es wieder zu löschen, sagt er, aber da sei es schon zu oft geteilt worden. Delberg hingegen sagt, so eine Bitte habe Armoush nicht ausgesprochen.

 

Mike Delberg kommt auch als Beobachter zum Prozess. Mit einer Kippa auf dem Kopf gibt er vor dem Saal Interviews. Als Repräsentant der Jüdischen Gemeinde betrachtet er es als seine Aufgabe, auf Antisemitismus hinzuweisen. Durch ihn waren im Dezember 2017 die antisemitischen Hasstiraden eines 60-jährigen Deutschen auf den Besitzer des israelischen Restaurants Feinberg’s in Berlin-Schöneberg viral gegangen. Er weiß auch nach der Attacke auf Armoush, was zu tun ist, damit möglichst viele sein Video sehen. Früher war Delberg freier Journalist bei der Bild-Zeitung, heute ist er Politik- und Medienberater.

 

"Ich wusste, was auf Adam zukommt", sagt Mike Delberg bei einem Telefonat nach dem Prozess. Deshalb habe er sich mit ihm gleich am Morgen nach dem Übergriff verabredet. Er schlägt einen symbolträchtigen Ort vor, jenes Feinberg’s in Schöneberg. Und Delberg bringt außerdem zwei befreundete Journalisten mit, um sie Armoush vorzustellen, weil der ihm gesagt habe, dass er mit dem Vorfall in die Öffentlichkeit gehen wolle.

 

"Ich wusste nicht, dass Journalisten dort sein würden", sagt Armoush, "ich dachte einfach, ich treffe mich mit Delberg." Armoush sagt, er sei zwiegespalten gewesen. Einerseits findet er, die Welt solle erfahren, dass man mit einer Kippa auf dem Kopf in Berlin angegriffen werden kann. Andererseits ist der 21-Jährige da noch unerfahren im Umgang mit Pressevertretern, er ahnt nicht, wie viele Interviewanfragen nun auf ihn zukommen. Warum hat er nicht Nein gesagt, wenn ihm doch alles zu viel war? "Ich habe es einfach nicht geschafft. Die Journalisten waren sehr hartnäckig, ich habe mich nicht getraut, sie vor den Kopf zu stoßen."

 

In einigen der schnell geschriebenen Berichte kommt es zu der falschen Darstellung, Armoush und sein Freund hätten sich die Kippa als Experiment aufgesetzt. Die Nachrichtenagentur dpa hatte aus einem englischsprachigen Interview mit Armoush falsch übersetzt: Er hatte gesagt, das Tragen der Kippa sei "an experience" gewesen, daraus wird im deutschen Text "ein Experiment" statt "eine Erfahrung". Die Nachricht verbreitet sich.

 

Am Tag nach dem Interview-Marathon sei er vollkommen fertig gewesen, sagt Armoush, er habe sich krank gefühlt. Als wäre ein Sturm über ihn hinweggefegt, der ihn lädiert zurückließ. Ihm war nicht klar, was es bedeutet, dass sein Gesicht nun genau wie das des Täters überall zu sehen ist. Im Gegensatz zu dem des Täters wurde auch sein voller Name bekannt. Als er dann die Hasskommentare las, wurde ihm klar, dass sich der Angriff von der Straße nun aufs Netz verlagert hat. Zumindest eine Kommentatorin wird durch einen aufmerksamen Internetnutzer später ausfindig gemacht. Sie muss eine Geldstrafe von 1000 Euro zahlen.

 

Salah Mehdi sagt, für ihn seien nicht nur die Beschimpfungen, sondern auch der Beifall "von der falschen Seite" schlimm gewesen. "Vor allem das Video, das die AfD-Chefin Alice Weidel auf Twitter gestellt hat." Weidel sagt darin fälschlich, ein "jüdischer Mitbürger" sei angegriffen worden. Obwohl noch keiner weiß, woher der Täter kommt, schimpft sie auf "asoziale Marokkaner", die in Deutschland Antisemitismus schürten. Mehdi, der Deutsch-Marokkaner, war innerhalb eines Tages nicht nur zum Opfer einer antisemitischen Attacke geworden, sondern gleichzeitig qua seiner Herkunft auch zu einem potenziellen Täter.

 

Die letzten Wochen haben einiges fast unmerklich verschoben im Verhältnis zwischen Mehdi und Armoush. Im Restaurant kommt es vor dem zweiten Prozesstag zu einem kleinen Streit.

 

"Ich finde alle Religionen problematisch", sagt Armoush da. "Aber der Islam kommt mir aggressiver vor als das Christen- und das Judentum."

  "Das ist Unsinn", empört sich Mehdi, "in allen Religionen gibt es Extremismus."

  "Als Schüler hatte ich in der Mittelstufe Islamunterricht bei einem Imam, und der hat Selbstmordattentäter als Märtyrer verherrlicht", sagt Armoush.

 Mehdi sieht seinen Freund betreten an, als hätte er so eine Auseinandersetzung nicht erwartet. "Der Islam ist nicht besser oder schlechter als andere Religionen!"

 Dann wird es kurz still zwischen den beiden.

 

Armoush erzählt, dass er auch mit seiner Mutter in Israel Diskussionen hatte, wie er mit dem Vorfall umgehen sollte. Sie riet ihm, die Anklage fallen zu lassen, schließlich sei Kanaan S. ohne seine Eltern nach Deutschland gekommen, er sei womöglich traumatisiert vom Krieg in Syrien. Adam Armoush und seine Mutter hätten sich dann gestritten. "Ich habe darüber nachgedacht, ob Kanaan mir leidtun soll", sagt er. Aber mit 19 Jahren wisse man doch genau, was man tue. "Es darf nicht sein, dass jemand glaubt, er kann Menschen mit Kippa verprügeln, und dann passiert nichts."

 

Am Ende passiert etwas. Wenn auch zu wenig, wie manche Prozessbeobachter finden. Der Jugendrichter verurteilt Kanaan S. Ende Juni wegen gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung zu vier Wochen Arrest. Seine Erklärungen, Armoush und Mehdi hätten ihn beleidigt, bevor er zuschlug, bezeichnet er als "Ausflüchte", die nicht glaubhaft seien. Auch dass Kanaan S. nicht aus Judenfeindlichkeit gehandelt habe, lässt er nicht gelten.

 

Kanaan S. wird vom Gericht außerdem einem Betreuungshelfer unterstellt, und er muss eine Führung im Haus der Wannseekonferenz machen, um zu begreifen, warum man in Deutschland so sensibel sei gegenüber Straftaten wie seiner. Der Richter will das Urteil als Chance verstehen für Kanaan S. Er sei "zu früh aus dem Nest gefallen, und das Fliegen klappt noch nicht so recht". Warum der Richter so versöhnlich klingt, sagt er am Ende selbst: "Meine Familie hatte mal einen Austauschschüler aus Palästina. Er hatte seine eigenen Erfahrungen gemacht mit Israel, zum Teil schreckliche. Das prägte seine Sichtweise."

 

Kann man wirklich unterscheiden zwischen einer anerzogenen Feindschaft gegen Israel und dem Antisemitismus, wie man ihn von Rechtsradikalen in Deutschland kennt und wie er kürzlich beim Angriff auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz wieder offen zutage trat? Wo verläuft da die Grenze? Wenn es in syrischen Schulbüchern aufgrund einer jahrzehntelangen Feindschaft zum Nachbarstaat heißt: "Verrat und Betrug gehören zu den Attributen der Juden", ist das etwa kein Antisemitismus?

 

Die Gürtelattacke taugt allerdings nicht als Antwort auf die große Frage, ob arabische Zuwanderer einen neuen Antisemitismus nach Deutschland importieren. Weil dieser Vorfall gleichzeitig für das Gegenteil steht: Zwei junge Araber, Adam Armoush und Salah Mehdi, haben den Fall publik gemacht, weil sie entrüstet waren über den Hass, der Juden entgegenschlagen kann. Sie wollten dem Angreifer eine Lektion in Toleranz erteilen – und haben damit gleichzeitig den Deutschen eine in Zivilcourage erteilt.

 

Hat Armoush nicht für eine Sekunde darüber nachgedacht, zu Kanaan S. auf Arabisch zu sagen: Ich bin gar kein Jude? "Niemals. Er hat mich angegriffen, weil er dachte, dass ich Jude bin, und er muss wissen, dass das nicht geht." Fast genauso schockiert wie der Angriff hat Armoush, dass in Deutschland kaum jemand eingreift, wenn ein Kippa-Träger verprügelt wird.

 

Was beim Prozess unbeachtet blieb, weil es nicht Aufgabe des Amtsgerichts ist: ob überhaupt zwei junge Syrer, die sich selbst als Anhänger Assads bezeichnen, in Deutschland Flüchtlingsstatus haben sollten. Aber im Moment sind es nicht sie, die sich um ihre Zukunft in Deutschland sorgen müssen, sondern Armoush.

 

Es ist Ende Oktober, in Pittsburgh hat ein Antisemit elf Juden in einer Synagoge erschossen. Der Angriff überschattet ein Charity-Dinner, bei dem auch eine der beiden Zeuginnen der Attacke auf Armoush einen Preis für Zivilcourage bekommt. Er wird vom "Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas" vergeben, die Festrede zur Veranstaltung im Hotel Adlon hält Außenminister Heiko Maas, im Publikum sitzen Moderatorinnen und Schauspieler. Maas dankt der Frau für ihren Mut, weil sie sich dem Angreifer entgegengestellt habe.

 

Armoush erfährt am Tag darauf nur zufällig von der Verleihung, er sei nicht eingeladen gewesen. Er, der dem Angreifer noch hinterhergerannt war, um ihn der Polizei zu übergeben und eine Religion zu verteidigen, die nicht seine ist, hat gerade ganz andere Sorgen: Das Land, dessen Außenminister ein Loblied auf die Zivilcourage angestimmt hat, verlängert ihm den Aufenthalt nicht. Die Frist läuft in wenigen Tagen aus. Ausgerechnet am 9. November, diesem symbolträchtigen Datum.

 

Schuld daran ist ein Problem beim Uni-Wechsel: Armoush wollte sich in Berlin einschreiben. Weil er Ausländer ist, schickte er dazu seine Unterlagen Anfang Juli an die Servicestelle für internationale Studienbewerbungen, uni-assist. Als er außer einer Eingangsbestätigung keine Rückmeldung bekam, habe er im Oktober bei uni-assist angerufen und erfahren, dass seine Unterlagen wegen eines Computerfehlers leider nicht an die Uni Berlin weitergeleitet worden seien. Nun war die Einschreibefrist verstrichen und er in Hannover exmatrikuliert. Ohne Studienplatz kein Aufenthalt.

 

Anfang November unternimmt Armoush einen letzten Versuch, um doch noch bleiben zu dürfen. Er hat alle wichtigen Unterlagen für die Ausländerbehörde in einer Klarsichthülle dabei. Auf dem Weg zu dem Betonkomplex mit verwirrend vielen Aufgängen zittert er in der Morgenluft. Als er kurz darauf dem Beamten gegenübersitzt, ist er so aufgeregt, dass er kaum erzählen kann, was sein Problem ist. Der Mitarbeiter sieht sich seine Akte im Computer an, dann sagt er: "Da kann man nichts machen."

 

Ob es Abkommen mit Israel gebe, sodass er doch bleiben dürfe, wenn er eine Arbeit vorweise, fragt Armoush. Ein Kollege, der das Zimmer betreten hat, schaltet sich ein. So einfach sei das nicht. Er wird unfreundlich, als Armoush fragt, was er jetzt tun solle. Er sei schrecklich nervös. "Ich bin auch nervös, jeden Morgen, wenn ich aufstehe, bin ich nervös", sagt der Kollege. Armoush wird still.

 

Am Ende wird er an eine Zweigstelle für Studierende verwiesen. Dort hört Armoush den gleichen Satz wie eben: Er müsse ausreisen. Der Beamte, ein junger Mann, der Armoushs resignierten Gesichtsausdruck sieht und weiß, dass eine Journalistin ihn begleitet, lässt sich dann doch noch mal seinen Pass geben, setzt sich an den Computer und sagt schließlich: "Ich habe da noch eine Idee." Fünf Minuten später ist Armoush gerettet: Es gibt zwischen Israel und Deutschland doch ein gegenseitiges Abkommen für junge Leute, das "Working-Holiday-Programm" – arbeiten und Urlaub machen, ein Jahr lang. Das war zwar nicht Armoushs Ziel. Aber er darf bleiben.

 

Nachdem er zwei Monate auf seine Kippa gewartet hat, bekam er auch sie nun wieder vom Jüdischen Museum zurück. Obwohl sie überhaupt nur ein paar Tage in seinem Besitz war, hat er sie vermisst. Auf die Straße wird er vorerst nicht mehr mit ihr gehen. Sie wanderte von der Vitrine in seinen Kleiderschrank. Dort liegt sie jetzt die meiste Zeit im Dunkeln, und Armoush ist sehr froh darüber. Er hat schon genug mit ihr erlebt.

 

*Nachname geändert

 

 

Hinter der Geschichte:

 ZEITmagazin-Redakteurin Annabel Wahba hat Adam Armoush zwischen Ende Mai und Mitte November mehrmals getroffen und den Prozess am Amtsgericht Tiergarten besucht. Weil sein Name öffentlich bekannt wurde, war er einverstanden, dass er hier genannt wird. Das ZEITmagazin bat auch den Angeklagten Kanaan S. um ein Gespräch, aber er wolle keine zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit, sagt seine Anwältin.

 

 

 

Antisemitische Angriffe wie der gegen Adam Armoush gehören zum deutschen Alltag. Hier dokumentieren wir weitere Fälle, die sich in diesem Jahr (2018) zugetragen haben.

 

27. Januar 

Beleidigung am KZ-Gedenkstein, Bayreuth

 Am Gedenktag für die Opfer des Holocaust beschimpft ein 32-Jähriger am Nachmittag mehrere Passanten, die sich an einem Gedenkstein für die Häftlinge im ehemaligen Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg aufhalten.

 

24. März 

Mobbing an der Paul-Simmel-Grundschule, Berlin

 Die Berliner Zeitung berichtet über antisemitische Vorfälle an der Paul-Simmel-Grundschule in Berlin-Tempelhof. Der Vater einer jüdischen Schülerin sagt der Zeitung, seine Tochter werde von muslimischen Mitschülern bedroht, weil sie nicht an Allah glaube. Ein Mitschüler habe der Zweitklässlerin gedroht, sie solle geschlagen und umgebracht werden. Die Bildungsverwaltung bestätigt, dass es "Fälle religiösen Mobbings" in drei aufeinanderfolgenden Schuljahren gegeben hat. Das Mädchen besucht heute ein Gymnasium.

 

18. April  Autofahrer beschimpft, Münster

 Ein 41-jähriger Autofahrer, der eine Kippa trägt, wird am frühen Nachmittag auf der Steinfurter Straße aus einem anderen Auto heraus als "Scheißjude" beschimpft. Als die beiden Männer in dem anderen Auto, ein 20-Jähriger und ein 19-Jähriger, von der Polizei vernommen werden, streiten sie alles ab. Die Polizei regt an, die drei sollten sich einmal "ausführlich unterhalten". Nach dem Gespräch sagt der 41-Jährige, die Sache sei für ihn erledigt.

 

25. April  Prügel im Imbiss, Berlin

 An der Goltzstraße im Stadtteil Schöneberg geraten mehrere Männer in Streit, weil ein 37-Jähriger dort sein Auto in zweiter Reihe abgestellt, ein anderes Auto zugeparkt hat und in einen Imbiss gegangen ist. Bei der Auseinandersetzung beleidigt der 37-Jährige einen 22-Jährigen antisemitisch, der junge Mann trägt eine Kippa. Es kommt zu Tätlichkeiten, verletzt wird aber niemand.

 

28. Mai  Männer beleidigt und bedroht, Berlin

 Ein Mann beleidigt in der Selchower Straße im Stadtteil Neukölln einen 31-Jährigen und einen 33-Jährigen antisemitisch und zieht einen messerähnlichen Gegenstand hervor. Die Bedrohten fliehen.

 

2. Juni  Schläge wegen eines Israel-Lieds, Berlin

 Am Bahnhof Zoo greifen drei Männer mehrere Jugendliche an. Es ist kurz nach ein Uhr morgens, als die Jugendlichen – ein 16-Jähriger und drei 17-Jährige – am Bahnhof laut Musik hören, unter anderem das Stück Tel Aviv des amerikanisch-israelischen Sängers Omer Adam. Die Angreifer sagen, sie fühlten sich durch die Musik beleidigt, schlagen und treten die Jugendlichen. Dann flüchten sie. Die Angreifer, Deutsche mit Migrationshintergrund, erwartet ein Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung.

 

4. Juni  Frauen beschimpft, Berlin

 Als eine 48-jährige amerikanische Touristin gegen 14 Uhr in der Nähe des Roten Rathauses Fotos macht, wird sie von einem 63-Jährigen antisemitisch beleidigt. Der Mann hatte bereits von der Polizei einen Platzverweis erhalten, weil er vorher schon herumgepöbelt hatte. Einen Tag später fällt der 63-Jährige wieder auf, ganz in der Nähe beschimpft er erneut eine Frau.

 

14. Juni  Mann aus Auto heraus beleidigt, Berlin

 Gegen 14.45 Uhr wird ein 39-Jähriger, der eine Kippa trägt und die Rudolstädter Straße im Stadtteil Wilmersdorf entlangläuft, aus einem fahrenden Auto heraus antisemitisch beschimpft.

 

18. Juni  Vorfall in der Waschstraße, München

 Am Vormittag fährt ein 64-jähriger Berliner mit seinem Auto in eine Waschstraße in München-Freimann, er und sein Sohn tragen eine Kippa. Weil der Vater findet, dass sein Auto nicht sauber geworden ist, beschwert er sich bei einem 39-jährigen Angestellten der Waschanlage. Der beschimpft ihn und seinen Sohn antisemitisch.

 

24. Juni  Rechtsextreme schlagen jungen Mann, Dortmund

 An der Martener Straße gehen am frühen Nachmittag mehrere junge Männer, die in der rechtsextremistischen Szene bekannt sind, einen 26-Jährigen an und beleidigen ihn. Die Männer kennen sich schon länger, sie wohnen im selben Viertel. Bereits im Mai hat es einen ähnlichen Vorfall gegeben, bei dem der 26-Jährige Prügel davontrug. Der Mann sagt der Polizei, er sei jüdischer Abstammung, hänge dem jüdischen Glauben allerdings nicht an. Er gehe öfter zu Veranstaltungen der rechtsextremen Szene, um dort Vorfälle zu provozieren. So wolle er auf Antisemitismus aufmerksam machen. Drei Dortmunder Rechtsextremen im Alter von 24, 28 und 31 Jahren wird demnächst wegen Körperverletzung und Beleidigung der Prozess gemacht.

 

27. Juni  Mobbing an der John-F.-Kennedy-Schule, Berlin

Die Berliner Zeitung berichtet, dass ein jüdischer Neuntklässler an der deutsch-amerikanischen John-F.-Kennedy-Schule im Stadtteil Zehlendorf antisemitisch gemobbt werde. Die Mitschüler hätten ihn beschimpft und ihm einen Zettel mit einem Hakenkreuz zugesteckt. Die Bildungsverwaltung bestätigt die Vorfälle. Der Junge hat mittlerweile die Schule verlassen, ebenso gegangen sind zwei der Schüler, die ihn drangsalierten.

 

7. Juli  Faustschlag im Park, Berlin

In der Nacht zum Samstag fragt ein 25-jähriger Mann jüdischen Glaubens gegen Mitternacht im James-Simon-Park in Berlin-Mitte eine Gruppe junger Leute nach Feuer. Weil er eine Kette mit einem Davidstern trägt, wird er antisemitisch beschimpft, mit der Faust ins Gesicht geschlagen – und sogar noch getreten, als er bereits am Boden liegt. Die Angreifer flüchten, als Passanten herbeilaufen. Die Täter sind, wie sich später herausstellt, drei Frauen und sieben Männer im Alter von 15 bis 25 Jahren.

 

11. Juli  Prügel für Kippa-Träger, Bonn

 Am Nachmittag wird ein 50-jähriger, in den USA lebender israelischer Hochschulprofessor, der eine Kippa trägt, im Bonner Hofgarten von einem jungen Mann beschimpft und geschlagen. Dieser reißt ihm die Kippa vom Kopf und ruft: "Kein Jude in Deutschland!" Bei dem Angreifer, der bald gefasst wird, handelt es sich um einen 20-jährigen Deutschen palästinensischer Abstammung.

 

13. Juli  Wegen Kippa angerempelt, Düsseldorf

 Am Abend wird ein 17-Jähriger, der einen Anstecker mit einer israelischen Flagge und eine Kippa trägt, in der Altstadt auf der Neustraße aus einer Gruppe von zehn jungen Männern heraus antisemitisch beschimpft und angerempelt.

 

15. August  Frau beleidigt, Berlin

 Drei Jugendliche beschimpfen am Abend eine 57-Jährige auf einem Bolzplatz in der Böckhstraße in Berlin-Kreuzberg antisemitisch.

 

27. August  Angriff auf jüdisches Restaurant, Chemnitz

 Während der Demonstrationen zwei Tage nach dem tödlichen Messerangriff auf den 35-jährigen Daniel H. bei einem Stadtfest wird das jüdische Restaurant Schalom angegriffen. Gegen 21.45 Uhr hört der Besitzer Uwe Dziuballa draußen Geräusche und tritt vor die Tür. Dort sieht er sich etwa einem Dutzend schwarz vermummter Gestalten gegenüber, die das Lokal mit Steinen, Flaschen und einer Eisenstange bewerfen, sie rufen: "Judenschwein, verschwinde aus Deutschland!" Dziuballa wird durch einen Stein an der Schulter verletzt.

 

15. September  Schläge nach Clubbesuch, Frankfurt am Main

 Am frühen Morgen wird ein 20-Jähriger nach einem Clubbesuch in der Frankfurter Innenstadt in der Nähe der Hauptwache von zwei Männern angesprochen. Als er sagt, dass er Jude ist und seine Familie aus Israel stammt, schlagen sie ihm ins Gesicht.

 

19. September  Rabbiner beleidigt, Offenbach

 Mehrere junge Männer beschimpfen den Rabbiner Mendel Gurewitz, 43, der an Kleidung, Hut und Bart leicht als orthodoxer jüdischer Geistlicher erkennbar ist, abends an der Ecke Kaiser-/Mainstraße: "Scheißjude! Scheiß-Israel!" Es stellt sich heraus, dass einer der Männer Gurewitz bereits kannte – er gehörte zu einer Gruppe von Halbwüchsigen, die den Rabbiner 2013 in einem Einkaufszentrum auf ähnliche Weise beleidigten. Der Vorfall wurde damals von überregionalen Medien aufgegriffen und löste eine Debatte über Antisemitismus bei jungen Muslimen aus. Gurewitz sagt heute, ihn ärgere besonders, dass er die Täter danach zu einem Gespräch in die Synagoge eingeladen hatte, sie hätten sich damals bei ihm entschuldigt. Die Polizei ermittelt gegen einen 20-Jährigen und einen 21-Jährigen, beide gebürtige Offenbacher.

 

22. September  Beleidigung in der Straßenbahn, Berlin

 Ein 35-Jähriger wird von einem Mann antisemitisch beschimpft, als er mit der Straßenbahn am frühen Morgen von Gesundbrunnen zum Hauptbahnhof fährt.

 

29. September  Mann getreten, Berlin

 Zwei Männer sprechen am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte einen 31-jährigen Niederländer auf Englisch an: "Bist du Jude?" Der Mann gehört dem jüdischen Glauben nicht an, fragt aber zurück, warum sie das denn wissen wollten. Da schlagen und treten sie auf ihn ein. Dann steigen sie in ein Taxi und fliehen.

 

8. November  Beleidigung, München

 Am frühen Morgen beschimpft ein 23-jähriger Gast in einem Restaurant an der Hanauer Straße im Stadtteil Moosach einen Angestellten antisemitisch.

 

 

Mitarbeit Anna Mayr

 Hinter der Geschichte: Laut dem Bundesinnenministerium gibt es noch keine Zahlen zu antisemitischen Vorfällen 2018. Im Jahr zuvor zählte man 1504 antisemitische Delikte, davon 37 Gewalttaten. Die Vorfälle in unserer Liste sind von den Behörden bestätigt und durch eigene Recherchen ergänzt. Wir haben nur Vorfälle aufgeführt, die sich gegen Menschen richten, nicht jedoch Sachbeschädigungen jüdischer Einrichtungen oder Hakenkreuz-Schmierereien. Nicht berücksichtigt wurden Vorfälle, bei denen die Akteure nach Einschätzung der Behörden psychisch krank waren.

 

zurück zum Inhaltsverzeichnis