Die Methode Omri Boehm

 

 

Die Methode Omri Boehm: Juden als „Täter“

 

Von Stefan Frank, 21., 24. 30. Juli, 01., 08., 12.  August 2021

 

 

Warum der Israelkritiker Omri Boehm in Deutschland so beliebt ist, dass er sogar Bundespräsident Steinmeier bei dessen Israelreise begleiten durfte.

 

Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vom 30. Juni bis 2. Juli auf Einladung des israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin zu einem Staatsbesuch nach Israel reiste, wurde er von einer Gruppe Prominenter begleitet.

 

Bei den meisten von ihnen war klar, dass sie deshalb mitreisten, weil sie irgendetwas mit den deutsch-israelischen Beziehungen zu tun haben. Uwe Becker etwa, der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, oder Ruth Ur, die Direktorin des Yad-Vashem-Büros Berlin.

 

Was aber mag den Bundespräsidenten dazu bewogen haben, ausgerechnet den Philosophen Omri Boehm mitzunehmen, der sich damit einen Namen gemacht hat, dass er in deutschen Zeitungen die Apartheidlüge gegen Israel verbreitet, und der in seinem Buch „Israel – eine Utopie die erwiesenermaßen falsche Behauptung aufstellt, Theodor Herzl, der Begründer des modernen Zionismus, habe Palästinenser vertreiben wollen?

 

In Jerusalem wurde Steinmeier von Yair Lapid begrüßt, Israels Außenminister und alternierendem Ministerpräsidenten, der auch Vorsitzender der liberalen Partei Jesch Atid ist. In seinem Buch spricht Boehm Lapid ab, ein Liberaler zu sein. Über das Mitte-Links-Bündnis Blau-Weiß, das Lapid bei der Parlamentswahl 2019 mit Benny Gantz (dem aktuellen Verteidigungsminister) schloss, schrieb Boehm, dessen politische Grundsätze seien „deutlich rechts von einer Partei wie der AfD angesiedelt.“

 

Davon, „AfD“ zu sagen, wenn er von israelischen Politikern spricht, ist Boehm besessen. Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sei „nicht weniger demokratiefeindlich“ „als es eine AfD-Regierung wäre“, behauptet er etwa in seinem Buch. Bei nochmaligem Nachdenken darüber kommt Boehm sogar zu dem Schluss, das Kabinett Netanjahu sei „mit der AfD gleichzusetzen“.

 

Es gebe „keinen Grund, warum führende AfD-Politiker nicht bald genauso willkommen in Israel und in Yad Vashem sein sollten, wie es andere stramm rechte Antisemiten“ angeblich bereits seien, so Boehm. Der Höhepunkt der Boehmschen AfD-Variationen: „Jeder denkbaren israelischen Regierung“ wäre angeblich „eine AfD-geführte Bundesregierung viel lieber als eine CDU- oder SPD geführte“.

 

Warum Boehm in Deutschland so beliebt ist

 

Boehm will den deutschen Lesern den Eindruck vermitteln, das israelische Parlament – und damit notwendigerweise auch dessen Wählerschaft, die israelische Bevölkerung – bestehe aus Rechtsradikalen.

 

Damit rennt er bei vielen deutschen Journalisten offene Türen ein: Bei keinem anderen Land der Welt wird das Wort „rechts“ (bzw. „rechtskonservativ“, „ultrarechts“ etc.) so oft zur Beschreibung von Politikern, Parteien, Regierungen und auch gewöhnlichen Bürgern („rechte Israelis“) benutzt wie bei Israel, während auf der anderen Seite niemals von der „rechten Fatah“, der „rechtsextremen Hamas“ oder auch nur von „rechten Palästinensern“ die Rede ist – die existieren offenbar gar nicht.

 

Als Journalist ist Boehm in Deutschland als Kämpfer gegen die Anti-BDS-Resolution des Deutschen Bundestages aufgefallen, wobei er seine Argumentation auf sein falsches Verständnis des Resolutionstextes stützte: Der Deutsche Bundestag habe „behauptet“, so Boehm, dass es „antisemitisch“ sei, „auf der schieren Gleichheit von Juden und Palästinensern zu bestehen“. In Wahrheit steht in der Resolution nichts, was auch nur in die Richtung einer solchen Aussage ginge. Die Zeit hat Boehms Text trotzdem veröffentlicht.

 

Wo er jetzt schon zusammen mit dem deutschen Bundespräsidenten nach Israel reist, muss man Boehm zugestehen: in Deutschland ist er höchst erfolgreich. Was genau ist seine Masche?

 

Der Plan eines binationalen Staates von Juden und Arabern, den er in seinem Buch vorschlägt, ist sicherlich nicht das, was seine Fans so von ihm schwärmen lässt. Der ist das Verkaufsargument, der Türöffner: Verlage haben gern etwas Positives, etwas, das als Lösung eines Problems daherkommt. Für Boehm ist diese „Utopie“ ein Mantel, unter dem er seine Ressentiments notdürftig kaschiert.

 

Der wahre Kern seines Buches ist es, den Zionismus als ein Projekt darzustellen, das von Anfang an – nämlich seit Theodor Herzl – auf nichts anderes aus gewesen sei als darauf, Verbrechen zu begehen und Palästinenser zu vertreiben, eine Form der organisierten Kriminalität und das seit über 120 Jahren.

 

Der angebliche jüdische Plan zur Vertreibung der Palästinenser ist das eigentliche Thema seines Buches. Boehm beschreibt ihn als eine generationenübergreifende Verschwörung, die mit Theodor Herzl begonnen habe und sich über David Ben-Gurion bis in die Gegenwart erstrecke, bis hin zu Netanjahu, Gantz, Lapid und sogar „Netanjahus Sohn“, von dem Boehm in seinem Buch einen Tweet zitiert, um zu zeigen, dass die nächste Generation zionistischer Bösewichter schon auf dem Sprung ist.

 

Das angebliche Verbrechen, für das Boehm von den Israelis Buße verlangt, ist die Massenflucht von Arabern während des arabisch-israelischen Kriegs von 1948. Dieser „Nakba“ (arabisch für „Katastrophe“) müssten die Juden gedenken, und zwar so, wie dem Holocaust, fordert er.

 

Im Verhältnis zu den Palästinensern sollen die Juden sich als „Täter“ benennen, die Palästinenser hingegen als „Opfer“. Die einen sind böse, die anderen gut, Graustufen kennt Boehm nicht. Dass er die hundertjährige Geschichte der von Arabern in Palästina an Juden verübten Morde und Massaker ausspart, erleichtert ihm die Arbeit sehr.

 

Den Überfall der arabischen Staaten von 1948 stellt er – wie wir im zweiten Teil dieses Artikels sehen werden – so dar, als hätten mitten im Frieden Juden angefangen, ihre arabischen Nachbarn zu vertreiben.

 

Und das hätten die Zionisten eben von langer Hand geplant, eine angebliche ethnische Säuberung, die Theodor Herzl schon mehr als 50 Jahre vorher – zu einer Zeit, als das Gebiet noch vom Sultan in Konstantinopel regiert wurde – ausgeheckt haben soll, wenn man Boehm Glauben schenkt (was man aber nicht tun sollte).

 

Der Boehm-Plan

 

Boehm will „die bekannten zionistischen Tabus auf den Prüfstand stellen“. Die Israelis müssten „den Mut haben“, sich „einen Umbau des Landes vorzustellen: vom jüdischen Staat in eine föderale, binationale Republik“. In dieser wären die Juden dann eine Minderheit, wie in Europa – oder wie in Algerien, Libyen, Ägypten oder dem Irak, als es in diesen Ländern noch Juden gab. Man sieht, worauf das hinausläuft, und warum die Juden sehr viel „Mut“ brauchen werden.

 

Dass man Boehms „Utopie“ eines jüdisch-arabischen Staates nicht als das Hauptthema seines Buches ansehen kann, zeigt sich schon daran, wie wenig Platz Boehm auf die Darstellung seines Plans verwendet. Um zu skizzieren, wie seine „Republik Haifa“, aussehen soll, benötigt er nicht mehr als drei Seiten – von insgesamt 256.

 

Auf diesen drei Seiten präsentiert er einen Zwölf-Punkte-Plan, mit dem er vorgibt, den seit hundert Jahren bestehenden Konflikt zwischen Juden und Arabern zu beenden: Eine binationale Föderation aus „Israel und Palästina“ mit einer gemeinsamen Verfassung will er schaffen, in der alle wohnen dürfen, wo sie wollen. Unabhängig vom Wohnsitz soll jeder Israeli das Recht haben, das israelische Parlament zu wählen, jeder Palästinenser das Recht, das Parlament Palästinas zu wählen. (Boehm sieht offenbar eine Zukunft ohne Mahmud Abbas, der bislang ja jegliche Wahlen unterbindet).

 

West-Jerusalem wird Israels Hauptstadt, Ostjerusalem die Hauptstadt Palästinas. Es gibt einen gemeinsamen Gerichtshof und „Lenkungsausschüsse“, die beispielsweise für solche Sachen wie die „gemeinsamen Sicherheitsinteressen beider Staaten“ und die „Verteidigung ihrer gemeinsamen Außengrenzen“ (Es gibt in Boehms Utopie also immer noch kriegerisch gestimmte Feinde, die den utopischen Staat angreifen könnten.) zuständig sind. „In dem gemeinsamen Gerichtshof und den Lenkungsausschüssen werden Jüdinnen und Palästinenserinnen gleich stark vertreten sein“, versichert Boehm.

 

„Wirtschaftliche Freiheit“ soll es auch geben: „Israelische“ und „palästinensische“ „Staatsangehörige“ sollen gleichermaßen das Recht haben, „auf dem gesamten Territorium zu leben, zu arbeiten und Land zu kaufen“.

 

Halten wir fest: Jüdische Israelis sollen das Recht bekommen, nicht nur überall in Jerusalem, sondern auch in Hebron, Jericho und Nablus Land zu kaufen? Einen solchen Vorschlag würde selbst der rechteste jüdische Knesset-Abgeordnete nicht machen. Aus Sicht der Palästinenserführer, die darauf achten, dass kein Jude seinen Fuß in ihre Städte setzt, ist Boehms Plan schon allein deshalb ein Rohrkrepierer. Vielleicht hätte er vor dem Schreiben seines Buches mal mit ihnen reden sollen, um zu erfahren, wie sie so ticken?

 

Was Boehm auch nicht zu wissen scheint, ist, dass der arabisch-israelische Konflikt nicht etwa darauf zurückzuführen ist, dass es jemals einen Mangel an Plänen für eine friedliche Koexistenz gegeben hätte. Zu Dutzenden solcher Pläne haben die Palästinenserführer im Lauf der Geschichte – von Amin el-Husseini über Jassir Arafat bis zur derzeitigen geteilten Regierung von Mahmud Abbas und der Hamas – nein gesagt, nun sollen sie plötzlich ja sagen?

 

Wenn sie den Teilungsplan der Peel-Kommission von 1937, den UN-Teilungsplan von 1947, den Reagan-Plan von 1982, den Camp-David-Plan von 2000 und den Olmert-Plan von 2008 abgelehnt haben, was sollte sie dann für den Omri-Boehm-Plan von 2020 begeistern? Zur Erinnerung: „Palästina“ „innerhalb der Grenzen, die es zur Zeit des britischen Mandats hatte“, ist laut der PLO-Charta „eine unteilbare territoriale Einheit“ und einzig und allein „das Heimatland des arabischen, palästinensischen Volkes“.

 

Und der Terror?

  

Aber auch die israelischen Juden dürften Einwände gegen den Boehm-Plan haben. Wenn zwischen Mittelmeer und Jordan völlige Freizügigkeit herrscht, wie verhindert man dann, dass die gleichen Terroristen von Fatah, Hamas und Islamischem Dschihad, die in der Vergangenheit Massaker an Juden wie in der Diskothek Delphinarium, der Pizzeria Sbarro oder im Park Hotel verübt haben, das in Zukunft wieder tun werden, wenn kein Zaun sie mehr daran hindert?

 

Laut Mahmud al-Habbash, dem obersten Schariarichter der Palästinensischen Autonomiebehörde und persönlichen Religionsberater von Mahmud Abbas, ist der Krieg zwischen Muslimen und Juden die im Koran angekündigte Endschlacht, die zur Vernichtung der „Kinder Israels“ führen wird. Wird Boehm Herrn al-Habbash eines Besseren belehren? Schön wäre es, aber zu argumentieren ist bei so prinzipienfesten Leuten meist wenig aussichtsreich.

 

Die von Boehm vorgeschlagene Freizügigkeit für alle Bewohner zwischen Mittelmeer und Jordan gab es übrigens schon mal: vor dem Oslo-Prozess. Ein palästinensischer Mitarbeiter von Amnesty International erzählte vor einigen Jahren einem Reporter von Time, wie sich seine in der West Bank geborene Mutter an die Zeit vor Oslo zu erinnern pflegte:

 

„Vor Oslo war es nie so wie jetzt, habibi (Arabisch für „Lieber“; S.F.). Ich konnte von der Arbeit in Jerusalem nach Hause fahren, deinen älteren Bruder von der Kita in Ramallah abholen und zum Strand fahren und dort ein Picknick machen. Es gab keine Mauer. Es gab keine Checkpoints.“

 

Was sich durch die Oslo-Abkommen geändert hat, war, dass Arafat nun Sturmgewehre, Sprengstoff und Panzerfäuste importieren konnte. Statt Terroristen festzunehmen und an Israel auszuliefern – wie er in den Osloer Abkommen versprochen hatte –, bewaffnete er sie und befahl ihnen, Massaker an Juden zu verüben, in Supermärkten, an Bushaltestellen, in Restaurants, auf Marktplätzen.

 

Daraufhin musste Israel den Trennungszaun bauen (der an den Stellen, wo Arafats Scharfschützen Menschen töten konnten, eine Mauer ist). Darum gibt es keine Freizügigkeit mehr. Würde man sie wieder einführen, ohne vorher die Waffen einzusammeln, die es in den Palästinensischen Autonomiegebieten gibt, würde das Blutbad just dort weitergehen, wo es 2005 aufgehört hat.

 

Welche Einrichtung schlägt Boehm vor, um das zu verhindern? In dem Abschnitt seines Plans, der einer Beantwortung dieser Frage am nächsten kommt, konzediert er, „natürlich“ sei sein „Vorhaben mit zahlreichen Komplikationen eigener Art verbunden“. „Spezifische Aspekte der Sicherheit“ müssten „ausgehandelt, konkret geplant, öffentlich beratschlagt und im Ergebnis von den Weltmächten unterstützt werden“.

 

Die „Weltmächte“ also sollen das Leben der Juden vor denen schützen, die sie vernichten wollen. Das hat schon bei der Evian-Konferenz von 1938 nicht funktioniert und in den letzten Jahrzehnten ebenfalls nicht.

 

Hat Boehm einmal der Palästinenserführung zugehört?

  

Ein anderes Problem, für das ein etwaiger Plan zur Beendigung des Konflikts zwischen Israel und der PLO eine Lösung finden müsste, wäre die von der PLO stets erhobene Forderung eines „Rückkehrrechts“ für alle Nachfahren der Flüchtlinge von 1948.

 

2008 bot der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert Mahmud Abbas an, einen palästinensischen Staat mit mehr als hundert Prozent der West Bank und Ostjerusalem als Hauptstadt zu gründen; zudem sollte Israel als Geste 150.000 Flüchtlinge von 1948 bzw. deren Nachfahren aufnehmen, über einen Zeitraum von zehn Jahren.

 

Abbas, erinnerte sich die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice später, „fing sofort an zu verhandeln: ‚Ich kann nicht vier Millionen Palästinensern sagen, dass nur 5.000 von ihnen nach Hause zurückkehren können’“.

 

Mittlerweile sind es sieben Millionen palästinensische „Flüchtlinge“, ohne deren „Rückkehr“ (nämlich in das Israel innerhalb der Waffenstillstandslinie von 1949) die PLO nicht einmal über einen Termin für Friedensverhandlungen reden würde. Wie löst Boehm das Problem, dass Israel dann Platz schaffen müsste für sieben Millionen arabische Einwohner? Er lässt einen Ausschuss bilden:

 

„Da die Staatsbürgerinnen beider Staaten volle Freiheiten im gesamten Territorium genießen werden, wird ein gemeinsamer Lenkungsausschuss die Regeln festlegen, nach denen die Einwanderung von Jüdinnen nach Israel und die von Palästinenserinnen nach Palästina erfolgt.“

 

Zwar präsentiert Boehm eine Utopie, die sich sogar um Details wie jenes kümmert, dass es „gemeinsame öffentliche Gedenkveranstaltungen für den Holocaust und die Nakba geben“ wird – aber die Beantwortung der wichtigsten Fragen überlässt er sicherheitshalber einem zukünftigen „Lenkungsausschuss“, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, was er selbst vorschlagen würde, wenn er Mitglied in jenem Ausschuss wäre. Klammert man alle kontroversen Punkte aus, lässt sich jeder Konflikt sehr leicht lösen.

 

Boehms Plan besteht im Grunde in dem Vorschlag, auf die Weisheit von Ausschüssen zu vertrauen, die schon das Richtige entscheiden werden. Würden die getroffenen Entscheidungen dann auch von allen akzeptiert, oder würde es Bürgerkrieg geben? Was Boehms Vorschlag der Freizügigkeit betrifft, hat Mahmud Abbas die Frage schon beantwortet: Er werde in einem zukünftigen palästinensischen Staat „keinen einzigen Israeli“ dulden, sagt er. Auch in diesem Punkt würde Boehms Plan also kläglich scheitern.

 

Steinmeiers Reisebegleiter: Juden sind „Täter“

 

Doch das wird Boehm keine schlaflosen Nächte bereiten. Viel wichtiger ist ihm nämlich etwas anderes. Sein eigentliches Herzensthema, dem er den größten Teil seines Buches widmet, ist die Dämonisierung Israels.

 

Boehms Forderung: die Erinnerung an den Holocaust müsse „entnationalisiert“ werden, indem die „Nakba“ zum „untrennbaren Teil des Holocausts“ gemacht werde. „Die Israelis“ – gemeint sind israelische Juden – könnten sich „nicht guten Gewissens der Geschichte ihrer Opferschaft und Erlösung erinnern … ohne sich ihrer Rolle als Täter zu erinnern“.

 

Die Juden sind schuldig, lautet also die Botschaft. Das wird in Deutschland immer wieder gern gehört und erklärt den Erfolg von Boehms Buch. Die Juden könnten, so Boehm, „sich nicht guten Gewissens der Geschichte ihrer Opferschaft und Erlösung erinnern“, „ohne sich ihrer Rolle als Täter zu erinnern.“ Den Juden dabei zu helfen, sich als „Täter“ zu fühlen, betrachtet Boehm als seinen Auftrag.

 

Welches Signal sandte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier da an seine israelischen Gastgeber, indem er ausgerechnet in Boehms Begleitung in Israel auftauchte? Mena-Watch fragte nach, ob der Bundespräsident weiß, für welche Positionen Boehm steht. Eine Sprecherin des Bundespräsidenten antwortete, Steinmeier sei bei seinem Staatsbesuch in Israel

 

„von einer Delegation begleitet worden, die die ganze Breite der einzigartigen deutsch-israelischen Beziehungen widerspiegelt. Dabei gilt selbstverständlich, dass der Bundespräsident sich nicht jede Äußerung jedes Delegationsmitgliedes selbst zu eigen macht“.

 

Aha, die ganze Breite also. Das bedeutet offenbar, dass Mitglieder der Reisegruppe, die den Staat Israel erhalten wollen, durch jemanden ausbalanciert werden, der auf das Gegenteil hinarbeitet.

 

Geschichtsklitterung

 

Omri Boehm macht Bejamin Netanjahus Vater Benzion zum „begeisterten Verfechter einer palästinensischen Umsiedlung“, obwohl dieser sich gegen solch eine Politik aussprach.

 

Das Hauptanliegen von Omri Boehms Buch Israel – eine Utopie ist es, die Geschichte des arabisch-israelischen Kriegs von 1948 umzuschreiben. Indem er historische Tatsachen in ihr Gegenteil kehrt, führt er eine Täter-Opfer-Umkehr durch.

 

Boehm schiebt die Kriegsschuld von den Angreifern zu den Angegriffenen. Er erklärt die Opfer der arabischen Invasion, die Juden, zu den wahren Tätern und die Angreifer zu unschuldigen Opfern. Ja: Boehm erwähnt nicht einmal, dass Israel am 14. Mai 1948 angegriffen wurde, sondern lässt es so aussehen, als hätten die Angegriffenen – der Jischuw in Palästina bzw. der gerade gegründete Staat Israel, der aus ihm hervorging – diesen Krieg nicht nur begonnen, sondern sogar von langer Hand geplant.

 

Zu diesem Zweck muss Boehm freilich alle wesentlichen Fakten verschweigen und zahlreiche Fälschungen vornehmen. Man kann sagen: Er erfindet seine eigene Geschichte und verdreht Quellen so, dass sie seine These scheinbar stützen.

 

Wollte Herzl Palästinenser vertreiben?

  

Der Zionismus – also das Streben der Juden nach einer nationalen Heimstätte – ist für Boehm ein Projekt, das von Anfang an, nämlich schon im 19. Jahrhundert, auf die Vertreibung von Palästinensern aus gewesen sei. Wir haben in einem September 2020 an dieser Stelle veröffentlichten Beitrag gezeigt, wie Boehm mit Hilfe eines verfälschten Zitats aus den Tagebüchern Theodor Herzls den Begründer des modernen Zionismus zu einem Stichwortgeber ethnischer Säuberungen machen will.

 

Boehm behauptete:

 

„Der Gedanke einer Umsiedlung begleitete das zionistische Denken von Anfang an. Theodor Herzl schrieb in sein Tagebuch, die Palästinenser ‚trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen’, indem man ihnen ‚jederlei Arbeit’ verweigern werde.“

 

In Wahrheit hat Herzl nichts dergleichen geschrieben. Herzl verarbeitete zu diesem Zeitpunkt – im Juni 1895 – in seinem Hotelzimmer in Paris in seinen Tagebuchnotizen das Gespräch mit dem Philanthropen Baron Maurice de Hirsch, das einige Tage zuvor in Hirschs Pariser Residenz an den Champs Élysées stattgefunden hatte und für Herzl frustrierend verlaufen war.

 

Hirsch hatte es vorzeitig beendet, weil er an politischen Projekten kein Interesse hatte. Hirsch, einer der reichsten Bankiers Europas, war der damals wichtigste Förderer der Auswanderung von russischen Juden – gegen die es in Russland Pogrome und diskriminierende staatliche Gesetze gab – nach Amerika.

 

Eines der Hauptziele für jüdische Emigranten war damals Argentinien, wo sie mit Hirschs Geld (der selbst nie in Amerika war) landwirtschaftliche Siedlungen wie Moisés Ville gegründet hatten. Herzl wollte Hirsch dazu bewegen, auf eine jüdische Autonomie in Argentinien hinzuarbeiten, weil nur ein blühendes jüdisches Gemeinwesen seiner Ansicht nach dazu führen werde, dass Juden aus aller Welt sich aus freien Stücken und auf eigene Kosten auf den Weg dorthin machen.

 

In dem Tagebucheintrag, aus dem Boehm vorgeblich das Zitat mit den „Palästinensern“ entnommen hat, geht es in Wahrheit nur um Südamerika. In dieser frühen Phase seiner Idee „einer neuen Souveränität“ für die Juden war Herzl nämlich keineswegs auf Palästina festgelegt. Das ist schon daran ersichtlich, dass die 1896 veröffentlichte Schrift Der Judenstaat, über die Herzl just in jenen Tagen im Juni 1895 begann nachzudenken, ein Kapitel mit der Überschrift „Palästina oder Argentinien?“ enthält.

 

Abgekupfert?

 

Dass Herzl „Palästinenser“ „über die Grenze“ habe schaffen wollen, ist eine falsche Behauptung, die schon seit Jahrzehnten im Umlauf ist. Man findet sie u.a. in einem Buch des amerikanischen Politikwissenschaftlers Malcolm Kerr von 1975 mit dem Titel: The Elusive Peace in the Middle East.

 

Sie ist also nicht auf Boehms eigenem Mist gewachsen. Die unmittelbare Quelle, aus der Boehm schöpft, ist wahrscheinlich das Buch David Ben Gurion – ein Staat um jeden Preis des israelischen Historikers Tom Segev. Darin heißt es auf Seite 277:

 

„Die Hoffnung, das Land seiner arabischen Bewohner zu entledigen, begleitete den Zionismus von Anfang an. In ihrer frühesten Version erscheint sie in Herzls Tagebuch“.

 

Man beachte die große Ähnlichkeit der Formulierungen Segevs und Boehms. Sie wirft ein Licht auf Boehms Arbeitsweise. Die von Boehm genannten Primärquellen werden nämlich zu einem großen Teil in den Werken von Historikern wie Tom Segev oder Benny Morris zitiert. Statt aber in der Literaturliste anzugeben, dass er über einen Sachverhalt bei Segev oder Morris gelesen hat, übernimmt Boehm einfach die Angabe der Primärquellen, so, als hätte er sie selbst aufgeschlagen. Hat er das vielleicht wirklich getan?

 

Wenn das der Fall wäre, dann müsste Boehm erklären, wie er darauf kommt, dass Herzl am 12. Juni 1895 in seinem Tagebuch über „Palästinenser“ geschrieben habe. Auch Tom Segev scheint ein Abschreiber zu sein und hat Herzls Tagebucheintrag offenbar ebenfalls nicht gelesen, sondern ungeprüft eine kursierende Behauptung nachgeplappert.

 

Das Nachplappern bei Boehm ist sehr selektiv, man nennt diese Technik auch Rosinenpicken (Englisch: cherry picking): Boehm übernimmt aus Darstellungen israelischer Geschichte nur das, was seine Argumentation stützt. Jede Behauptung, die den Zionismus, Theodor Herzl, David Ben Gurion oder den Staat Israel in ein schlechtes Licht setzt, saugt er begierig auf und wiederholt sie in seinem Buch – mag sie wahr sein oder nicht.

 

Dass Herzl seinem Tagebuch anvertraut haben soll, er wolle die Palästinenser „über die Grenze schaffen“, muss Boehm da besonders wertvoll erschienen sein – genau das, was er brauchte.

 

Boehms Buch ist bei Ullstein erschienen. Der E-Mail-Wechsel mit Ullstein, den ich demnächst an dieser Stelle veröffentlichen werde, brachte zutage, dass die für das Buch verantwortliche Redakteurin das vermeintliche Herzl-Zitat überhaupt erst dann nachgeschlagen hat, nachdem ich sie auf die Fälschung aufmerksam gemacht hatte.

 

Es steht somit zu vermuten, dass sie sich um die sprachliche Form gekümmert, keineswegs aber die Zitate, Behauptungen und historischen Fakten überprüft hat – also den Inhalt. Manche Verlage stört es gar nicht, wenn sie ein Buch verlegen, in dem Dinge stehen, die nicht stimmen.

 

Boehms Angriff auf Benzion Netanjahu

 

So, wie Boehm Theodor Herzl Worte in den Mund legt, die dieser nie gesagt oder geschrieben hat, so macht er es an anderer Stelle des Buches mit Benzion Netanjahu (1910-2012), dem Vater des früheren israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.

 

Benzion Netanjahu hatte1938 in einem Aufsatz über den Journalisten, Schriftsteller, Frauenrechtler, Pazifisten und zionistischen Aktivisten Israel Zangwill (1864-1926) geschrieben. Dabei war es auch um das Thema eines Bevölkerungstransfers in Palästina gegangen.

 

Zangwill war im Jahr 1917 der Meinung, dass die Zeit der Vielvölkerstaaten vorbei sei und sich die „Rassen“ „entmischen“ würden, weil in Europa und dem Nahen Osten der „Hass“ zwischen den Völkern „zu groß“ sei. Nach dem Krieg, soll er bei einem Spaziergang durch London zu dem Schriftsteller Wladimir Zeev Jabotinsky gesagt haben, werde die Welt „neu gemacht“; jedes Volk werde dann einen eigenen Staat bekommen. So verstand Zangwill das Diktum des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilsons vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“.

 

Die Juden würden dann nichtjüdische Staaten in Europa und den arabischen Ländern verlassen und nach Palästina gehen, die dortigen Araber nach Saudi-Arabien oder Syrien. Zangwill war zu seiner Zeit der bekannteste Befürworter eines Bevölkerungstransfers – und damit ein Außenseiter. Er selbst betrachtete sich nicht als antiarabisch. In einer Rede, die er Anfang 1920 vor einer Versammlung des zionistisch-marxistischen Arbeiterverbands Poale Zion hielt, sagte er:

 

„Wenn der Araber auf seinem Land bleibt, muss sein Wohlergehen uns genauso wichtig sein wie unser eigenes.“ (Die Rede ist abgedruckt im Jewish Chronicle vom 27.2.1920, S.28)

 

Omri Boehm behauptet nun:

 

„[Benjamin] Netanjahu ist mit Zangwill und dem Umsiedlungsgedanken wohlvertraut. Sein Vater, der revisionistische Historiker Benzion Netanjahu, gab einen Band mit Reden Zangwills heraus, in dem er sich als begeisterter Verfechter einer palästinensischen Umsiedlung darüber beklagte, dass diese nicht bereits in den Wirren des Ersten Weltkriegs vollzogen worden war.“

 

Hier müssen wir als erstes etwas zu dem Vorwurf sagen, der 2012 verstorbene Benzion Netanjahu sei ein „revisionistischer Historiker“ gewesen. Er war Historiker und in seiner Jugend Anhänger der „revisionistischen“ Strömung des Zionismus, die, im Unterschied zu der in den 1920er und 1930er Jahren herrschenden zionistischen Hauptströmung, den Zionismus von der Idee des Sozialismus und Marxismus trennen wollte. Das ist etwas anderes als ein „revisionistischer Historiker“.

 

So nämlich nennt man im deutschsprachigen Raum Historiker oft rechtsradikaler Provenienz, die die Geschichte des Zweiten Weltkriegs oder des Holocaust neu schreiben wollen. Wenn man also von einem „revisionistischen Historiker“ spricht, meint man meist jemand, der Geschichtsklitterung betreibt – so, wie Omri Boehm das tut (der allerdings kein Historiker ist).

 

Und wieder abgekupfert?

 

Gehen wir weiter. Benzion Netanjahu habe sich also „als begeisterter Verfechter einer palästinensischen Umsiedlung darüber beklagt, dass diese nicht bereits in den Wirren des Ersten Weltkriegs vollzogen worden war.“ Es ist auch hier wieder nicht schwer, jemanden zu finden, der die gleiche falsche Behauptung schon vor Boehm aufgestellt hat. Ein Geschichtsstudent namens Gil Rubin schrieb 2018 im von der Harvard University herausgegebenen Historical Journal:

 

„Obwohl Netanjahu Zangwill große Weitsicht bescheinigte, beklagte er, dass dessen Forderung nach einem Bevölkerungstransfer in Palästina nicht mehr länger durchführbar sei. Die Juden hätten solch ein Programm während der Wirren des Ersten Weltkriegs durchführen sollen, glaubte er, als die Araber neue Territorien und Unabhängigkeit gewonnen hatten, aber diese Bedingungen bestanden nicht mehr.“

 

Boehm wiederholt also Rubins Behauptung (nämlich, dass Benzion Netanjahu sich „beklagt“ habe, dass die Umsiedlung nicht in den „Wirren des Ersten Weltkriegs“ durchgeführt worden sei), mit dem Unterschied, dass Boehm noch einen draufsetzt und Benzion Netanjahu zum „begeisterten Verfechter einer palästinensischen Umsiedlung“ erklärt.

 

Benzion Netanjahu auf den Kopf gestellt …

 

Was hatte dieser wirklich geschrieben? In dem fraglichen Text geht es Benzion Netanjahu darum, jegliche Umsiedlungspläne abzulehnen und den 1926 verstorbenen Zangwill davor zu bewahren, von aktuellen Befürwortern solcher Pläne als Argument ins Feld geführt zu werden: Zangwill habe diesen Vorschlag schließlich nur in der besonderen Situation des Weltkriegs (also auch vor dem Hintergrund der Auflösung des Osmanischen Reichs und der Neugründung arabischer Staaten) gemacht.

 

Netanjahu schreibt:

 

„Heute, am 11. August 1938, als ich diese Zeilen schreibe, habe ich zufällig einen Blick auf die Tageszeitungen erhascht und gelesen, dass der Pornai Courier, das halbamtliche Organ der polnischen Regierung und eine von Polens wichtigsten Zeitungen, eine mögliche Lösung der Palästinafrage nur dann für möglich hält, wenn die 600.000 dort lebenden Araber in arabische Gebiete transferiert werden und die 500.000 Juden, die in arabischen Ländern leben, wo sie Schikanen erdulden, nach Palästina transferiert werden.

 

Aber es scheint, dass selbst der polnische Staatsmann, der diese Worte geschrieben hat, versteht, dass diese wünschenswerte Politik jetzt nicht möglich ist, während das Land Israel von den Flammen der Rebellion erfasst ist.“

 

Selbst 1923, so Netanjahu, habe Zangwill bereits geschrieben, dass das, was „in der Zeit der riesigen Tragödie des Kriegs möglich war, heutzutage unmöglich angeraten werden kann“. Wäre Zangwill noch am Leben, so Netanjahu weiter, wäre er „nicht so naiv wie die Zionisten, die diese Politik heutzutage ernst nehmen“. Zangwill „wäre klar gewesen“, dass der Vorschlag „zu viel Zwang enthält und zahllose Schwierigkeiten bergen könnte“.

 

Zangwill habe den Vorschlag gemacht, „als Palästina in Ruinen lag, vom Krieg verwüstet und viele seiner Einwohner auf der Flucht; als das Land brachlag und für die Araber unattraktiv war; als die arabische nationalistische Bewegung noch in der frühen Phase ihrer Formierung war, wenn überhaupt, und als die Araber dankbar waren, vom Joch der Türken befreit zu sein und ihre neu gewonnenen Territorien und das Versprechen der Selbstbestimmung genossen, während gleichzeitig die Alliierten völlige Kontrolle über das Gebiet hatten.“

 

Es sei in dieser Situation gewesen, dass Zangwill den Vorschlag unterbreitet habe; hätten die Zionisten damals eine solche Forderung gestellt und hätten die Alliierten, die sie hätten umsetzen müssen, ihr zugestimmt, wäre es so gekommen, so Netanjahu.

 

„Heute [1938] existieren diese Bedingungen nicht mehr. Stattdessen ist die Welt im Chaos, das von jeder neuen Zwietracht befeuert wird. Da es eine Änderung der Situation gibt, muss es eine Änderung der Vorschläge geben. Doch, ach, das Problem mit kleinen Politikern ist, dass sie sich immer der alten Vorschläge erinnern, wenn die Verhältnisse, auf denen sie gründeten, längst verschwunden sind.“

 

… um Benjamin Netanjahu zu verleumden

 

Wir mussten hier so ausführlich zitieren, damit klar wird, wie Benzion Netanjahu wirklich über die Idee eines Bevölkerungstransfers dachte. Es geht aus den Zitaten hervor, dass er an einer Debatte teilnimmt.

 

Im Juli 1937 hatte die britische Peel-Kommission ihren Vorschlag einer Lösung der Palästinafrage unterbreitet: Teilung des Landes in einen jüdischen und einen arabischen Teil mit anschließendem Bevölkerungstransfer, um eine möglichst große ethnische Homogenität der jeweiligen Teile herzustellen. Wie aus den Zitaten ebenfalls ersichtlich wird, stieß der Vorschlag auf Zustimmung einiger Zionisten und sogar bei dem Kommentator einer polnischen Zeitung. Benzion Netanjahu aber lehnte diesen Vorschlag ab und begründete, warum er anachronistisch sei und nicht zu verwirklichen.

 

Wenn Boehm behauptet, Benzion Netanjahu habe „sich als begeisterter Verfechter einer palästinensischen Umsiedlung darüber beklagt, dass diese nicht bereits in den Wirren des Ersten Weltkriegs vollzogen worden war“, dann verdreht er den Inhalt dessen, was dieser schrieb. Und warum tut er das?

 

Boehm hätte Benzion Netanjahu sicherlich nicht erwähnt, wenn er nicht der Vater des noch bis kürzlich amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu wäre. Nachdem er Benzion Netanjahu diffamiert hat, glaubt er, daran die Suggestion knüpfen zu können, dass Benjamin Netanjahu der vermeintliche „Umsiedlungsgedanke“ seines Vaters quasi in die Wiege gelegt worden sei: Benjamin Netanjahu sei „mit Zangwill und dem Umsiedlungsgedanken wohlvertraut“, so Boehm.

 

Was für ein Blödsinn. Eine Unterstellung, die allein darauf fußt, dass Benjamin Netanjahus Vater elf Jahre vor dessen Geburt ein Buch über Israel Zangwill geschrieben hat, der während des Ersten Weltkriegs solche Pläne propagiert hat, die er aber, wie Benzion Netanjahu schreibt, schon 1923 verworfen hatte, und die Benzion Netanjahu, als sie im Jahr 1938 von einer britischen Kommission wieder auf den Tisch gebracht worden waren, rundheraus ablehnte.

 

Die Stelle ist ein Beispiel dafür, wie Omri Boehm Äußerungen von Zionisten so verbiegt, dass sie das ergeben, was er für seine Argumentation benötigt. Im nächsten Teil werden wir sehen, wie es ihm gelingt, den arabischen Überfall auf Israel im Jahr 1948 als lange geplanten Krieg der Juden gegen die arglosen Araber Palästinas darzustellen.

 

Unsichtbarmachen arabischer Akteure

 

In Omri Boehms Welt kommen Araber nicht als handelnde Akteure, sondern nur als Opfer angeblicher jüdischer Verbrechen vor. Damit stellt der die reale Geschichte auf den Kopf.

 

Man stelle sich Folgendes vor: Ein Autor veröffentlicht ein Buch über den Zweiten Weltkrieg und verschweigt darin, dass Deutschland den Krieg begonnen hat. Er verschweigt die erklärten deutschen Kriegsziele, die Offensiven der Wehrmacht, die deutschen Luftangriffe auf Warschau, Rotterdam und England, die massenhafte Ermordung von Juden durch Wehrmacht und SS. Er verschweigt die Massaker von Oradour, Lidice, Sant’Anna di Stazzema oder Kalavryta ebenso wie die endlos lange Liste sonstiger von den Deutschen begangenen Kriegsverbrechen, einschließlich der Versklavung und Ermordung von Kriegsgefangenen und Zivilisten.

 

Stattdessen redet er ausschließlich von den Taten der Alliierten: wie sie deutsche Städte bombardierten und anzündeten, Kriegsverbrechen an deutschen Gefangenen verübten, deutsche Wohnungen plünderten, Millionen Deutsche aus Ostpreußen, Schlesien, Hinterpommern und dem Sudetenland vertrieben und in Deutschland eine Besatzung errichteten. Diese Besatzung stellt der Autor dann womöglich noch als völkerrechtswidrig dar. Derartige Bücher existieren, sie werden seit Jahrzehnten in rechtsradikalen Verlagen verlegt und haben viele Leser, die dies für die wahre Geschichte des Zweiten Weltkriegs halten.

 

Eine ähnliche Form der Geschichtsklitterung und Schuldumkehr wird von Israelhassern seit Jahrzehnten im Hinblick auf den arabisch-israelischen Krieg von 1948 betrieben. Das Ziel: die Rollen von Angegriffenen und Angreifern zu vertauschen. Die Juden sollen als Täter erscheinen, der jüdische Staat als ein von Anfang an verbrecherisches, illegitimes Projekt. Die Entscheidung der arabischen Führer, den UN-Teilungsplan für Palästina abzulehnen und stattdessen einen Krieg gegen den neu gegründeten Staat Israel zu führen, um diesen zu vernichten, soll vergessen gemacht werden. Die Geschichtsschreibung wird in den Dienst der Anti-Israel-Ideologie gestellt, die Geschichte so umgeschrieben, dass sie zu einem Werkzeug für gegenwärtige Zwecke wird. Mit der Geschichte, wie sie sich wirklich ereignet hat, ginge das nicht, weil Israel in ihr das Opfer war, nicht der Aggressor. „Während der ersten vierzehn Tage im Leben des neugeborenen Staates“ Israel, schrieb der Augenzeuge Arthur Koestler 1949, „sah es so aus, als müsste er das Schicksal der kleinen Kinder unter Herodes teilen, deren zarte Körper dem Schwert zum Opfer fielen. Der 15. Mai, das Datum der offiziellen Beendigung des britischen Mandats, war der verabredete Tag X, an dem die Armeen von fünf souveränen arabischen Staaten von Norden, Osten und Süden in Palästina einmarschierten. Es schien, als wären die Tage des neuen Staates gezählt und eine schnelle Kapitulation die einzige Chance der Juden, einem großen Blutvergießen zu entgehen. Entgegen allen Erwartungen behaupteten sich die Männer der Haganah.“

 

Diese historische Tatsache wollen die Israelhasser auslöschen und an ihre Stelle ihre eigene, fiktionale Geschichte rücken, ein stets gleiches Propagandanarrativ, das der israelische Historiker Benny Morris vor einigen Jahren prägnant zusammenfasste:

 

„Die Juden vertrieben die Araber aus ihren Orten und fuhren damit auch in den Nachkriegsjahren fort. Was stattfand, war nicht ein Konflikt zwischen zwei nationalen Bewegungen, die beide legitime Ansprüche hatten. Genau genommen war es nicht wirklich ein Krieg. Es gab lediglich Vertreibungen und sonst nichts.“

 

In seinem Buch Israel – eine Utopie bietet Omri Boehm den x-ten Aufguss dieser Geschichtsklitterung. In seiner Version des israelischen Unabhängigkeitskriegs gibt es keine Konfliktparteien, keine arabischen Armeen, keine Massaker an Juden, keine Gefechte. Stattdessen ist der Krieg einfach „ausgebrochen“ – man weiß nicht, wie und warum – und er bestand nur in einer Abfolge von Verbrechen, die die Juden angeblich an den Arabern verübt hätten, inklusive der „Nakba“, die Boehm als die „Vertreibung von Palästinensern im Zuge der israelischen Staatsgründung“ definiert. Die israelische Staatsgründung ist also für ihn die Ursache der Malaise – und nicht das schlechte Urteilsvermögen der arabischen Führer, die statt des UN-Teilungsplans den Krieg wählten, weil sie hofften, auf diese Weise das ganze Palästina für sich selbst zu bekommen.

 

Boehm, das sollte man an dieser Stelle vielleicht erwähnen, lebt in einem Paralleluniversum, wo man Israel als einen „der Kritik enthobenen Staat behandel[t]“, ja: wo „der jüdische Staat der Sphäre rationaler, universalistischer Kritik enthoben“ ist. „Deutsche Intellektuelle“ spüren dort, wann immer sie „zu Israel Stellung beziehen sollen“, nicht etwa einen Endorphinrausch, sondern vielmehr ein „Unbehagen“. Diese Unpässlichkeit hat mittlerweile sogar zu einer „Weigerung“ geführt, „offen über Israel zu sprechen“, und es gibt dort Deutsche, die „Israel aus Verantwortung für die deutsche Vergangenheit nicht kritisieren“ wollen. Unglaubliche, fantastische Zustände.

 

Krieg mit nur einer Kriegspartei?

 

Zu einem Krieg gehören mindestens zwei Kriegsparteien, doch bei Boehm gibt es nur eine, die Juden. Die palästinensischen Araber sind für ihn ausschließlich Opfer, und die angreifenden arabischen Armeen kommen praktischerweise gar nicht erst vor. Wenn jemand nicht weiß, dass Ägypten, Syrien, Transjordanien, der Libanon und der Irak gleich nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung den neugegründeten Staat Israel angegriffen haben, mit dem erklärten Ziel, ihn zu vernichten, wird er es von Boehm nicht erfahren. Über die zahlreichen von arabischen Armeen und Milizen verübten Gräueltaten an Juden – etwa das Krankenwagenkonvoymassaker am Mount Scopus in Jerusalem am 13. April 1948, das Massaker von Kfar Etzion am 13. Mai 1948 oder das Massaker in der Ölraffinerie von Haifa, hüllt Boehm den Mantel des Schweigens.

 

Den UN-Teilungsplan von 1947 erwähnt Boehm einmal im Vorbeigehen, an einer Stelle, wo es darum geht, dass der spätere israelische Ministerpräsident Menachem Begin damals noch „jeden territorialen Kompromiss“ „abgelehnt“ habe, während Ben-Gurion „bekanntlich den Teilungsplan der UN für Palästina feierte“. Dass dieser nicht umgesetzt wurde, weil die arabischen Staaten und das von Amin el-Husseini geführte Arab Higher Committee (AHC) – das eine arabische Regierung für ganz Palästina sein sollte – jegliche Koexistenz mit den Juden ablehnten, sagt Boehm nicht. Nirgendwo erwähnt er, dass der Krieg von 1948 von der Arabischen Liga jahrelang geplant worden war:

 

  • Am 9. Juni 1946 beriet sie bei ihrer Konferenz in Bludan, Syrien, über eine bewaffnete Intervention in Palästina.
  • Am 16. September 1947 sprach sich das Politische Komitee der Arabischen Liga bei einer Konferenz in Sofar, Libanon, dafür aus, die Araber in Palästina mit Geld und Waffen zu unterstützen.
  • Am 12. Dezember 1947 beschloss die Arabische Liga bei ihrem Treffen in Kairo die Bewaffnung von 3.000 arabischen „Freiwilligen“ und deren Transfer über Syrien nach Palästina. Dabei handelte es sich zum großen Teil um syrische Söldner, die für das Vichy-Regime gekämpft hatten, dazu einige frühere SS-Soldaten aus Europa und spanische Falangisten. Diese „Arabische Befreiungsarmee“ wuchs bis zum Frühjahr 1948 auf 7.000 Kämpfer an. Ihr Emblem: ein arabischer Krummdolch (Handschar), der einen Davidstern ersticht.

Azzam Pasha, der Generalsekretär der Arabischen Liga, kündigte 1947 an, der Krieg der arabischen Staaten gegen die Juden Palästinas werde ein Vernichtungskrieg und ein folgenschweres Massaker“, über das nachfolgende Generationen „wie über die Massaker der Mongolen und die Kreuzzüge sprechen“ würden.

 

Noch vor der arabischen Invasion verübte die Arabische Befreiungsarmee 1947/48 zahlreiche Überfälle auf jüdische Ortschaften und Kibbuzim. Es gelang ihnen zudem, die wichtigen Straßen des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Jerusalem und die jüdischen Ortschaften waren Anfang 1948 von der Außenwelt abgeschnitten. Innerhalb Jerusalems war wiederum das jüdische Viertel völlig isoliert. Nachdem die jordanische Armee (Arabische Legion) das jüdische Viertel am 27. Mai erobert hatte, wurden alle Juden vertrieben und die Synagogen gesprengt, unter ihnen die berühmte Hurva-Synagoge. Der jüdische Friedhof auf dem Ölberg wurde geschändet, Grabsteine weggeschafft und als Baumaterial missbraucht.

 

Wie die jordanische Armee das jüdische Viertel Jerusalems und Kfar-Etzion auslöschte, lieferte eine böse Vorahnung auf das, was die Arabische Liga im Rest Palästinas geplant hatte und in die Tat umgesetzt hätte, wäre sie siegreich gewesen.

 

Omri Boehm erzählt eine völlig andere Geschichte. „Obwohl während des israelischen Unabhängigkeitskriegs rund siebenhunderttausend Palästinenser gewaltsam vertrieben“ worden seien, behauptet er etwa, habe „die israelische Gesellschaft die Bedeutung ihrer eigenen Geschichte erfolgreich verdrängt.“ Boehm spricht von der „gewaltsame[n] massenhafte[n] Vertreibung von Palästinensern im israelischen Unabhängigkeitskrieg“ und davon, dass „in der Vorstellung der israelischen Bevölkerung“ „Hunderttausende Palästinenser auf wundersame Weise einfach aus ihren Häusern [verschwanden], nachdem der Unabhängigkeitskrieg ausgebrochen war.“ Der Unabhängigkeitskrieg ist also ausgebrochen, und die Opfer waren „Hunderttausende Palästinenser“. So, wie Boehm arabische Akteure verschwinden lässt, so auch jüdische Opfer. Zur jüdischen Opferbilanz des arabischen Angriffs gehören über sechstausend Tote, Tausende Schwerverletzte und Verstümmelte, die Zerstörung von Kfar Etzion, die Vertreibung der Juden aus der Jerusalemer Altstadt, aus Judäa und Samaria sowie die gleichzeitige Vertreibung Hunderttausender Juden aus arabischen Ländern und die Beschlagnahmung von deren Häusern und Besitztümern. Nichts davon erfährt der Leser in der Version der Geschichte des Krieges, die Boehm erzählt.

 

Araber sind für Boehm keine Akteure

 

Seine Geschichtsklitterung besteht indessen nicht nur darin, dass er den arabischen Überfall auf Israel und die von arabischen Armeen und Milizen verübten Massaker verschweigt – er geht noch viel weiter: Von jeglichem Handeln arabischer Regierungen und der Arabischen Liga erfährt der Leser nichts, ebenso wenig wie von der Existenz der arabischen Armeen und Milizen und dem von Amin el-Husseini geführten Arabischen Hochkomitee. Araber als Handelnde, als Akteure, die Absichten verfolgen und dazu Mittel wählen, kommen bei Boehm schlicht nicht vor. Sie handeln bei ihm nicht, sie erleiden nur und werden, kaum dass der Staat Israel ausgerufen ist, aus heiterem Himmel zu Flüchtlingen. Wann immer Boehm Araber erwähnt, sind sie passive, wehrlose und unschuldige Opfer. Arabische Soldaten und Milizionäre scheint es gar nicht gegeben zu haben, und damit eigentlich auch keinen wirklichen Krieg.

 

Dadurch, dass Boehm arabische Akteure verschwinden lässt, braucht er sich mit ihren Taten nicht auseinanderzusetzen, und die Verantwortung für alles, was während des Krieges und danach passiert ist, liegt automatisch bei den Juden. Deren Handeln muss dem Leser als eine irrationale und unprovozierte Aggression erscheinen. Warum haben sie sich eigentlich bewaffnet und Milizen gebildet? Da Boehm von keinem arabischen Angriff berichtet, kann es ja keine Selbstverteidigung gewesen sein. Boehm liefert folglich eine andere Erklärung: Das „düstere Geheimnis“ des Zionismus sei, dass die Juden schon vor dem Krieg „gewaltsame Massenvertreibungen von Palästinensern“ geplant gehabt hätten, diese seien „Teil des Kriegsgrunds“ gewesen. Boehm ist also mit dem Umschreiben der Geschichte schon so weit vorangekommen, dass Israel seiner Meinung nach den Krieg begonnen hat, denn einen Kriegsgrund macht ja nur ein Angreifer geltend, nicht der Angegriffene. Wie die Juden es geschafft haben, die arabischen Regierungen davon zu überzeugen, sie doch bitte in der Nacht zum 15. Mai 1948 anzugreifen, damit es für die Welt so aussieht, als wären sie die Angreifer, das wird wohl für immer ein düsteres Geheimnis des Zionismus bleiben.

 

Haifa 1948 und die Vertreibung der Araber, die es nicht gab

 

In seiner Schilderung des Kampfes um Haifa 1948 erfindet Omri Boehm eine Vertreibung von Arabern durch Juden, die es in Wahrheit nie gegeben hat.

 

Im dritten Teil dieses Beitrags haben wir gezeigt, wie Omri Boehm den arabisch-israelischen Krieg von 1948 umschreibt und sämtliche arabischen Akteure aus der Geschichte entfernt. In Boehms Version der Geschichte gibt es keine Konfliktparteien, keine von der Arabischen Liga angeheuerten ausländischen Söldner, keine angreifenden arabischen Armeen, keine Massaker an Juden, keine Gefechte – also nicht einmal einen wirklichen Krieg. Alles, was sich zwischen 1947 und 1949 in Palästina ereignete, geschah laut Boehm aus reiner Willkür der Juden, denen er offenbar die Macht zuschreibt, den Ablauf der Geschichte von Anfang bis Ende souverän bestimmt zu haben.

 

Schauplatz Haifa

 

Diese Schablone wendet er auch auf die Schlacht von Haifa vom 21. und 22. April 1948 an. An der Flucht der arabischen Bewohner der Stadt können seiner Meinung nach nur die Juden schuld gewesen sein. Alle Dokumente, die das Gegenteil belegen, ignoriert er. Der Kampf um Haifa, schreibt Boehm, „endete“ „rasch“ damit,

 

„dass die palästinensischen Bewohner aus der Stadt flüchteten. Von Haifas ursprünglich siebzigtausend palästinensischen Einwohnern blieben am Ende des Krieges noch dreitausend übrig. Zehntausende verließen ihre Häuser innerhalb von achtundvierzig Stunden. Wie sich zeigen sollte, war es einer der entscheidenden Momente des Krieges und der Nakba.“

 

Die Flucht der Araber aus Haifa führt Boehm „einzig und allein“ darauf zurück, „dass Deir Jassin nur wenige Tage zurücklag“. Die Schlacht von Deir Jassin am 9. April 1948 war – ebenso wie die Schlacht von Al-Qastal (Castel) in derselben Woche – ein Versuch der Juden, die von arabischen Milizen verhängte Hungerblockade Jerusalems zu durchbrechen.

 

Während in Al-Qastal der Palmach und die Haganah kämpften, waren es in Deir Jassin militärisch weitgehend ungeschulte Kämpfer der Splittergruppen Etzel und Lechi. Diese wurden bei ihrer Ankunft in Deir Jassin in großer Zahl von syrischen und irakischen Scharfschützen getötet, die von Gebäuden aus schossen. Die Niederlage wendeten Etzel und Lechi dadurch ab, dass sie zahlreiche Häuser mit Dynamit und Handgranaten in die Luft sprengten. Am Ende waren rund hundert der vormals tausend arabischen Einwohner des Dorfes tot, darunter viele Zivilisten. David Ben-Gurion und die anderen jüdischen Führer in Palästina verurteilten das von Etzel und Lechi verübte „Massaker“ umgehend, die beiden Gruppierungen wurden zu Ausgestoßenen.

 

Die arabische Propaganda in Palästina inflationierte die Opferzahl auf 254 und erfand Vergewaltigungen hinzu, mit dem Ziel, die arabischen Regierungen zu einer sofortigen Intervention in Palästina zu bewegen. Der israelische Historiker Benny Morris schreibt:

 

„In den Wochen nach dem Massaker verbreiteten arabische Medien innerhalb und außerhalb Palästinas ununterbrochen Berichte über die Gräueltaten – meist mit blutrünstigen Übertreibungen –, um die arabische öffentliche Meinung und Regierungen gegen den Jischuw zu mobilisieren. Zweifellos waren sie erfolgreich. Die Sendungen schürten Empörung und bestärkten die Entschlossenheit der Regierungen, fünf Wochen später in Palästina einzumarschieren. Tatsächlich sollte Abdullah [der König von Transjordanien; S.F.] das Massaker von Deir Jassin als einen der Gründe anführen, warum er sich der Invasion anschloss.“

 

Die arabischen Propagandaberichte über Deir Jassin, so Morris, seien sicherlich auch „dazu gedacht gewesen sein, die Standhaftigkeit der Palästinenser zu stärken. Ihre Wirkung war jedoch genau das Gegenteil.“ Eine Medienkampagne also, die ihr Ziel völlig verfehlte. Omri Boehm stellt es in seinem Buch so dar, als wären es die Juden gewesen, die Gräuelpropaganda über Deir Jassin verbreitet hätten, damit die Araber aus Haifa fliehen:

 

„Es lässt sich nur schwer bezweifeln, dass die Furcht vor Massakern, die im ‚Vorfall’ von Deir Jassin begründet war, gezielt zu einer Massenhysterie geschürt wurde und so in der Säuberung der Stadt mündete.“

 

Boehm meint, dass die Juden die Massenhysterie geschürt hätten,erklärt aber nicht, wie genau sie das seiner Ansicht nach gemacht haben und verliert kein Wort über die arabische Propagandakampagne zu Deir Jassin, die es ja wirklich gab. Wie an anderen Stellen des Buches kann Boehm seine Thesen nur plausibel machen, indem er die wesentlichen historischen Fakten auslässt und stattdessen eigene erfindet.

 

Was in Haifa wirklich passierte, ist von jüdischen und arabischen Akteuren sowie von unabhängigen Beobachtern gleichermaßen dokumentiert – und hat nichts mit der Geschichte zu tun, die Boehm erzählt.

 

Teilungsplan und erster Terror

 

Laut dem UN-Teilungsplan vom 29. November 1947 sollte Haifa Teil des zu gründenden jüdischen Staats werden. Gleich am ersten Tag nach der Annahme des Teilungsplans durch die UN-Generalversammlung begannen arabische Terroristen, an verschiedenen Orten Palästinas Busse mit jüdischen Insassen anzugreifen. Bei Anschlägen in Kfar Sirkin, Hadera, Jerusalem und Haifa wurden am 30. November 1947 sieben Juden getötet und etliche weitere verletzt.

 

Dieser Terror und die Aussicht auf einen Krieg mit den arabischen Staaten bewogen schon im Herbst 1947 wohlhabende Araber zur Flucht aus Haifa. Die palästinensischen Araber hatten zwei politische Vertretungen: zum einen das von Mufti Amin el-Husseini geführte Arab Higher Committee (AHC), das beanspruchte, eine Zentralregierung ganz Palästinas zu sein und von Großbritannien als Vertreter der Araber anerkannt wurde; zum anderen sogenannte National Comittees (NC) in jeder Stadt. Am 9. Dezember 1947 diskutierte das NC Haifas über die Fluchtbewegung aus der Stadt und bezeichnete die Flüchtlinge als „Feiglinge“. Im Januar 1948 hinderte das NC Bewohner Haifas an der Flucht, beschlagnahmte ihren Besitz und zündete ihre Häuser an. Laut dem israelischen Historiker Benny Morris waren solche Bemühungen aber „beschränkt, zögerlich und nicht häufig“ und wurden dadurch konterkariert, dass Mitglieder des NC und des AHC selbst oft schon lange vor dem Frühjahr 1948 mitsamt ihren Familien aus Palästina flohen.

 

Teilweise gaben sie auch gegenteilige Befehle: In vielen Fällen, so Morris, wiesen das AHC und die NC arabische Dörfer, die in der Nähe jüdischer Siedlungsgebiete lagen, an, Kinder, Frauen und Alte in sichere Gebiete zu schicken. Morris verweist in diesem Zusammenhang auf eine berichtete Äußerung von Azzam Pascha, dem Generalsekretär der Arabischen Liga, der schon im Mai 1946 gesagt haben soll, dass man im Falle eines Krieges „alle arabischen Frauen und Kinder aus Palästina evakuieren und in die arabischen Nachbarländer bringen“ müsse. Er zitiert zudem einen Beschluss, den das Politische Komitee der Arabischen Liga im September 1947 in Sofar fasste: dass „die arabischen Staaten ihre Türen öffnen, um die Babys, Frauen und Alte von Palästinas Arabern aufzunehmen und für sie zu sorgen – sollten die Ereignisse in Palästina dies erfordern“. Ein wichtiger Grund für die Ende 1947 einsetzende Flucht der arabischen Bevölkerung war laut Morris auch der Zusammenbruch der arabischen Wirtschaft.

 

Die Schlacht um Haifa

 

In Haifa standen sich im April 1948 Tausende Milizionäre der von der Arabischen Liga aufgestellten Arab Liberation Army (ALA) und einige Hundert jüdische Milizionäre von Haganah und Palmach gegenüber. Britische Soldaten bildeten einen Puffer zwischen den Konfliktparteien. Als Generalmajor Hugh Stockwell, der Befehlshaber der britischen Truppen in Nordpalästina, Mitte April überraschend ankündigte, dass die Briten Haifa in Kürze verlassen würden – mehr als drei Wochen vor dem Ende des britischen Palästinamandats –, beeilten sich arabische Milizen, die freiwerdenden strategischen Positionen zu besetzen. So kam es am 21. und 22. April 1948 zur Schlacht um Haifa, bei der um jedes Haus gekämpft wurde. Die arabischen Milizen hielten das Hafenviertel, die jüdischen stießen von den Hügeln her auf das Stadtzentrum und den Hafen vor.

 

Gleich am ersten Tag der Gefechte bestieg der oberste arabische Kommandeur in Haifa, Amin Bey Izz al-Din, ein Boot und machte sich aus dem Staub, gefolgt von seinem Vize Yunnas Nafa und Ahmed Bey Khalil, dem Vertreter des AHC in Haifa.

 

Der amerikanische Vizekonsul Aubrey Lippincott, der die Nacht vor den entscheidenden Kämpfen bei den arabischen Kämpfern verbracht hatte, berichtete am 23. April, dass diese „viel zu weit weg sind von ihrem Oberkommando. … Einige recht verlässliche Quellen besagen, dass das gesamte Arab Higher Committee Stunden vor Beginn der Schlacht Haifa verlassen hat … Jene Araber, die geflohen sind und mit denen dieser Funktionär [Lippincott; S.F.] gesprochen hat, haben alle das Gefühl, von ihren Führern im Stich gelassen worden zu sein. Der Schlag für das arabische Selbstvertrauen ist enorm.“

 

In dieser Situation baten hochgestellte arabische Persönlichkeiten, die in Haifa geblieben waren und die Reste des NC ausmachten, am 22. April Stockwell darum, einen „Waffenstillstand“ zu vermitteln. Am Nachmittag jenes Tages wurden sie in gepanzerten britischen Fahrzeugen zum Rathaus gefahren, wo sie Stockwell und jüdische Führer trafen, um die Bedingungen eines Waffenstillstands bzw. einer Kapitulation auszuhandeln. Morris schreibt:

 

„Das Treffen begann um vier Uhr nachmittags. Die jüdischen Führer, unter ihnen Bürgermeister Shabtai Levy, der Vertreter der Jewish Agency, Harry Beilin, und Haganah-Vertreter Mordechai Makleff, waren, wie Stockwell es ausdrückte, ‚kompromissbereit` und stimmten einer weiteren Verwässerung der Waffenstillstandsbedingungen zu. ‚Die Araber feilschten um jedes Wort’, notierte Beilin. Zu den endgültigen Bedingungen gehörten die Abgabe aller militärischen Ausrüstung (anfangs an die britischen Behörden), das Versammeln und Abschieben aller ausländischen arabischen Männer; die Festnahme ‚europäischer Nazis’ durch die Briten; und eine Ausgangssperre, die es der Haganah ermöglichen würde, in den arabischen Vierteln nach Waffen zu suchen. Die Bedingungen sicherten der arabischen Bevölkerung eine ‚Zukunft als gleichgestellte und freie Bürger Haifas’ zu.“

 

Der 72 Jahre alte Bürgermeister Levy, der die arabischen Vertreter sehr gut kannte, äußerte den Wunsch, dass Juden und Araber weiterhin in „Frieden und Freundschaft“ miteinander leben werden.

 

Arabische Führer geben Befehl zur Evakuierung

 

Doch die Vertreter der Araber in Haifa überlegten es sich anders. Wie Morris schreibt, verweigerte die arabische Delegation, die von Scheich Abdul Rahman Murad, dem örtlichen Führer der Muslimbruderschaft, und den Geschäftsleuten Victor Khayyat, Farid Sa’ad und Amis Nasr – eine Mischung aus Christen und Muslimen – geführt wurde, die Unterschrift und verlangte eine Pause „zur Beratung“:

 

„Die Araber wurden zu Khayyats Haus gefahren, wo sie versuchten, das AHC und, wenn möglich, das Militärkomitee der Arabischen Liga zu kontaktieren; sie wollten Anweisungen.“

 

Benny Morris zweifelt an, ob sie das AHC telefonisch überhaupt erreichten, und bringt die These ins Spiel, dass sie auf eigene Faust handelten, als sie anschließend den Befehl gaben, dass alle Araber Haifa mit Schiffen verlassen sollten. Dem steht allerdings die von dem israelischen Historiker Efraim Karsh zitierte Aussage des jüdischen Verhandlungsteilnehmers Yaakov Salomon entgegen, der 1949 gegenüber Beamten des israelischen Außenministeriums aussagte:

 

„Die arabische Delegation kam mit einer britischen Eskorte zum abendlichen Treffen, doch als dieses unterbrochen wurde, baten sie mich, sie mit dem Auto nach Hause zu fahren. Ich fuhr sie mit dem Auto. Bei der Rückfahrt sagten sie mir, dass sie Anweisungen hätten, den Waffenstillstand nicht zu unterschreiben und dass sie den Waffenstillstand unter keinerlei Bedingung unterschreiben könnten, weil dies den sicheren Tod durch die Hand ihrer eigenen Leute bedeuten würde, vor allem durch die der muslimischen Führer, die vom Mufti geleitet wurden. Während sie selbst also in der Stadt bleiben würden, weil sie glaubten, dass dies in ihrem eigenen Interesse sei, müssten sie den Arabern Anweisung geben, [Haifa] zu verlassen.“

 

Genau dies – die Evakuierung Haifa – verkündeten die Mitglieder der arabischen Delegation am Abend, als sich um 19.15 Uhr Araber, Juden und Briten wieder im Rathaus versammelten. Sie sagten, dass sie nicht in der Position seien, einen Waffenstillstand zu unterzeichnen, zumal sie keine Kontrolle über die arabischen Kämpfer hätten. Die arabische Delegation, die, wie Morris schreibt, bei dem Treffen am Abend nur noch aus Christen bestand, fuhr fort, dass die arabische Bevölkerung stattdessen Haifa verlassen solle, „Männer, Frauen und Kinder“. „Ohne Zweifel“, so Morris, fürchteten die arabischen Vertreter, dass das AHC sie als Verräter oder Kollaborateure brandmarken werde, falls sie einen Waffenstillstand unterzeichneten.

 

„Die jüdischen und britischen Offiziellen fielen aus allen Wolken“, so Morris. Levy flehte die arabischen Vertreter an, den Entschluss zu überdenken. Sie sollten doch nicht die Stadt verlassen, „in der sie über Jahrhunderte gelebt haben, in der ihre Vorväter begraben seien und in der sie über so lange Zeit mit den Juden zusammen in Frieden und Brüderlichkeit gelebt“ hätten. Die Araber erwiderten, sie hätten „keine andere Wahl“.

 

Auch Stockwell soll auf die Araber eingeredet und sie beschworen haben, in Haifa zu bleiben, die Stadt nicht zu evakuieren: „Zerstört nicht unnötig euer Leben.“ Dass Stockwell diese Worte sprach, wissen wir nur über Makleff, es ist also Hörensagen. Bei der historischen Tatsache, auf die es ankommt, haben wir aber gewissermaßen Brief und Siegel aller Parteien, dass es sich so zugetragen hat: Das Arab Higher Committee – und kein Jude oder eine jüdische Organisation – gab den Befehl, dass alle Araber Haifa zu verlassen hätten. Dies wurde vor den Augen und Ohren der Welt bei den Vereinten Nationen in New York im Namen des AHC gleich am folgenden Tag bestätigt, von Jamal Husseini, dem Präsidenten des AHC und dessen Vertreter bei der UNO. Als der UN-Sicherheitsrat sich in seiner Sitzung vom 23. April 1948 mit den Ereignissen in Haifa befasste, sagte Husseini laut dem Sitzungsprotokoll:

 

„Die Araber wollten sich nicht einem Waffenstillstand unterwerfen, der Schande gebracht hätte, und zogen es vor, ihre Wohnungen aufzugeben, ihre Habseligkeiten und alles, was sie auf dieser Welt besaßen, und die Stadt zu verlassen. Das haben sie tatsächlich getan.“

 

An anderer Stelle seiner Rede sagte er offen:

 

„Wir haben nie verheimlicht, dass wir die Kämpfe begonnen haben. Wir haben damit angefangen, weil wir immer glaubten, wie wir es auch jetzt tun, dass wir aus Notwehr kämpfen.“

 

Über das Radio verbreitete die Arab Liberation Army zu jener Zeit die gleiche Botschaft:

 

„Die Zionisten haben uns nicht unsere Bedingungen diktiert. Wir werden entweder um Palästina willen sterben; dann wird niemand übrig bleiben, der irgendwelche jüdischen Bedingungen akzeptiert – oder wir werden überleben und den Juden unsere eigenen Bedingungen diktieren.“

 

Das Time Magazine berichtete am 3. Mai 1948:

 

„Die Massenevakuierung, die teils durch Furcht, teils durch Befehle der arabischen Führer ausgelöst wurde, machte das arabische Viertel von Haifa zu einer Geisterstadt. Hinter den Befehlen der Araber steckte mehr als Stolz und Trotz. Durch das Abziehen der arabischen Arbeiter hofften die [arabischen] Anführer, Haifa lahmzulegen. Jüdische Anführer äußerten hoffnungsvoll: ‚Sie werden in einigen Tagen zurück sein. Schon jetzt kommen einige wieder.“

 

Juden versuchen, Araber zum Bleiben zu bewegen

 

Dass die Juden aufrichtig versuchten, die Araber zur Rückkehr zu bewegen, belegen neben zahlreichen westlichen und arabischen Zeitungen und Rundfunksendungen aus jener Zeit auch Berichte, die britische und amerikanische Diplomaten ihren Regierungen telegrafierten. Efraim Karsh hat etliche davon in Archiven gesichtet und in seinem Buch Palestine Betrayed veröffentlicht. Etwa Berichte des US-Konsulats in Haifa. Am 25. April, nach dem Ende der Kämpfe, telegrafierte Vizekonsul Lippincott an Washington, dass die „Juden hoffen, dass die Armut die Arbeiter veranlassen wird, [nach] Haifa zurückzukehren, wie es viele bereits tun, trotz der arabischen Versuche, sie draußen [zu] halten.“

 

Der britische Polizeibezirkskommissar schrieb am 26. April:

 

„Die Juden unternehmen jede Anstrengung, die arabische Bevölkerung zum Bleiben zu bewegen und zum Alltag zurückzukehren, ihre Läden und Unternehmen wieder zu öffnen und sicher zu sein, dass ihr Leben und ihre Interessen sicher sein werden.“

 

Zwei Tage später schrieb er:

 

„Die Juden unternehmen immer noch jede Anstrengung, um die arabische Bevölkerung zum Bleiben zu bewegen und zu ihrem normalen Leben in der Stadt zurückzukehren.“

 

In einem Bericht der 6. Luftlandedivision vom 1. Mai heißt es:

 

„Die Juden unternehmen energische Versuche, den Flüchtlingsstrom einzudämmen, oft in Gestalt von Interventionen durch die Haganah. Im Radio und in der Presse gab es Aufrufe, in denen die Araber gedrängt wurden, in der Stadt zu bleiben. Die Haganah hat ein entsprechendes Flugblatt herausgegeben und die Histadrut [der israelische Gewerkschaftsdachverband; S.F.] hat eine gleichartige Publikation veröffentlicht, in der sie an alle Araber, die vormals Mitglieder ihrer Organisation waren, appelliert, zurückzukommen. Insgesamt stehen die Araber dieser Propaganda gleichgültig gegenüber und ihre Haltung gegenüber der derzeitigen Situation ist eine von apathischer Resignation.“

 

Während die Juden die Araber zum Bleiben aufforderten, drängte das arabische NC sie zur Emigration, indem es Angst schürte und mit Rache drohte. In einem von Karsh zitierten britischen Geheimdienstpapier heißt es:

 

„Nachdem die Juden die Kontrolle über die Stadt gewonnen hatten, wären viele [Araber] trotz der andauernden Lebensmittelknappheit dem Befehl einer kompletten Evakuierung nicht nachgekommen, hätte es nicht die Gerüchte und die Propaganda gegeben, die von Mitgliedern des NC, die in der Stadt verblieben waren, verbreitet wurden. Das am stärksten verbreitete war das Gerücht, dass die in Haifa verbleibenden Araber von den Juden im Falle eines künftigen Angriffs auf jüdische Gebiete als Geiseln genommen würden. Dazu kam ein effektives Propagandastück mit einer implizierten Androhung von Vergeltung im Falle einer arabischen Rückeroberung der Stadt: dass jene Leute, die in Haifa blieben, damit stillschweigend zum Ausdruck brächten, dass sie an die Prinzipien des jüdischen Staates glaubten.“

 

Die wahre Katastrophe von Haifa

 

Um niemals etwas zu tun, was als Anerkennung jüdischer Autorität verstanden werden könnte oder mit den Juden Frieden schließen zu müssen, befahl das AHC damals also allen arabischen Einwohnern Haifas, die Stadt zu verlassen. Dies geschah auch im Hinblick auf den für den 15. Mai geplanten Einmarsch der arabischen Armeen, die dann ja, so dachte man, Haifa zurückerobern würden. Unter den Arabern, die im April 1948 aus Haifa flohen, war auch die Familie der späteren zweifachen Flugzeugentführerin Leila Khaled, die 1948 vier Jahre alt war. Von ihren Eltern hörte sie offenbar, was nach deren Meinung die eigentliche Absicht der arabischen Evakuierung war. 1971 sagte sie:

 

„Es wird auch berichtet, dass die palästinensischen Araber hofften, in ihre Häuser zurückkehren zu können, nachdem die ‚eindringenden’ arabischen Armeen Haifa zurückerobert, die Juden in die See gestoßen und ihre Rechte wiederhergestellt hätten.“

 

Leider, so Khaled, sei dieses Vorhaben an Inkompetenz, an schlechter Ausrüstung und Ausbildung und fehlender Moral gescheitert – und an einer „sterbenden Gesellschaftsordnung“, „die auch noch glaubte, man könne einen leichten Sieg erringen“.

 

Die Araber Haifas wurden also Opfer ihrer eigenen Führer, die ihnen unter Drohungen befahlen, die Stadt zu verlassen. Das ist die wahre Geschichte der Katastrophe von Haifa. Von der aber erzählt Omri Boehm seinen Lesern nichts, weil nur die von ihm erfundene Geschichte seine Thesen von jüdischen Verbrechen und Vertreibungen („Nakba“) belegt.

 

Dabei sind die historischen Tatsachen eindeutig. Wie viel klarer könnten sie noch sein, wenn nicht einmal das Arab Higher Committee – also die Leute des Muftis – im April 1948 behauptete, dass die Araber aus Haifa von den Juden vertrieben worden seien? Die „Nakba“-Lüge ist, entgegen aller historischen Wahrheit und aller Zeugenaussagen, erst später ersonnen worden, von Leuten, denen es nicht um Geschichtsschreibung geht, sondern um die Dämonisierung des jüdischen Staates.

 

Auslassen von Zusammenhängen, am Beispiel der Schlacht von Lydda 1948

 

Omri Boehms Umgang mit Geschichte ist so schlicht wie durchsichtig: Was nicht in sein Weltbild passt, verschweigt er einfach. Wie im Fall der Stadt Lydda.

 

Wie wir gezeigt haben, betreibt Omri Boehm in seinem Buch Israel – eine Utopie Schuldumkehr: Nachdem er alle arabischen Akteure – das von Mufti Amin el-Husseini geleitete Arab Higher Committee (AHC), die örtlichen arabischen Nationalkomitees, die Arabische Liga und ihre Söldnerarmee, die angreifenden Armeen Transjordaniens, Ägyptens, Syriens, des Libanon und des Irak – ausgeblendet und sorgfältig vor dem Auge des Lesers versteckt hat, bleiben nur noch die Taten der Juden. Diesen dichtet er an, dass sie den arabisch-israelischen Krieg begonnen hätten, mit dem angeblichen „Kriegsgrund“, eine „gewaltsame Massenvertreibung von Palästinensern“ durchzuführen.

 

Boehm behauptet, es habe eine „Umsiedlungspolitik“ gegeben, die von langer Hand geplant gewesen sei (nämlich schon von Theodor Herzl in einem Pariser Hotelzimmer im Juni 1895) und dann 1948 „erfolgreich durchgeführt“ wurde. Das glaubt Boehm, durch die Rechnung beweisen zu können, dass 1947 „1,2 Millionen Palästinenser“ im Mandatsgebiet gelebt hätten, „am Ende des Unabhängigkeitskriegs“ hingegen nur „noch rund fünfhunderttausend Palästinenser“. Dass die Flüchtlinge vor Krieg und Bürgerkrieg – den die Araber am 30. November 1947 begonnen hatten –, vor wirtschaftlicher Not und Hunger geflohen sein könnten und auch darum, weil arabische Führer ausdrücklich den Befehl zur Flucht gegeben hatten, kommt ihm nicht in dem Sinn.

 

In dem Teil, in dem er sich mit der Massenflucht aus Haifa befasst, verschweigt er den am Abend des 22. April 1948 ergangenen Evakuierungsbefehl des Arab Higher Committee. Es ist schwer zu glauben, dass der in Haifa geborene Boehm sich mit der Geschichte seiner Heimatstadt so schlecht auskennt; es wird also wohl Absicht sein.

 

Der Fall Lydda

 

Auch bei einer anderen Stadt, die Boehm als Beispiel für die Vertreibung der palästinensischen Araber durch die Juden nimmt, lässt er entscheidende Tatsachen außen vor. Dort nämlich, wo er von Lydda redet. Lydda (Israelisch: Lod) ist eine Stadt 15 km südöstlich von Tel Aviv, an der Straße nach Jerusalem. Dort lag der Flughafen Palästinas, der heute der Flughafen Ben-Gurion ist. Aus unerfindlichen Gründen behauptet Boehm, Lydda habe keine „strategische Bedeutung“ gehabt. Vielleicht sagt er das, um den Eindruck zu erwecken, die Juden hätten die Stadt im Juli 1948 aus purer Angriffslust und Bosheit erobert.

 

Zu dieser Zeit war Lydda von der Arabischen Legion Transjordaniens besetzt, die von dort aus Tel Aviv und den Korridor nach Jerusalem bedrohte. Laut dem UN-Teilungsplan hätte Lydda zu dem zu gründenden arabischen Staat gehören sollen – aber der war durch die arabische Ablehnung des Plans und den von der Arabischen Liga in der Folge begonnenen Angriffskrieg Makulatur. Boehm schreibt, Lydda sei „erwähnenswert“, „nicht so sehr“, weil der Stadt „eine besondere strategische Bedeutung zukäme, sondern weil Ben-Gurion hier persönlich anwesend war“. Persönlich anwesend? Das wäre merkwürdig; Regierungschefs pflegen sich selten an vorderster Front aufzuhalten, wo Kugeln und Granaten fliegen. In Wahrheit war Ben-Gurion, wie man bei dem israelischen Historiker Benny Morris nachlesen kann, an jenem Tag, von dem Boehm spricht, im Hauptquartier der Operation Dani (das war der Name der Militäroperation, die den Weg von Jerusalem nach Tel Aviv öffnen sollte) in Yazur bei Jaffa, 30 Autominuten von Lydda entfernt. Weiter schreibt Boehm:

 

„Es handelt sich darüber hinaus um den einzigen Fall, in dem ein belastender Ausweisungsbefehl in schriftlicher Form überliefert ist, unterschrieben von der Führungsspitze der IDF.“

 

Was Boehm nicht erwähnt, ist der gesamte militärische und politische Zusammenhang. Dass es einen Krieg gab und um Lydda gekämpft wurde, erfährt der Leser nicht. Boehm lässt es so aussehen, als wären die israelischen Streitkräfte mitten im Frieden in Lydda einmarschiert und hätten die Araber vertrieben, um den von Boehm an vielen Stellen seines Buches behaupteten Plan einer „gewaltsame Massenvertreibung von Palästinensern“ durchzuführen.

 

Dass es um Lydda überhaupt Gefechte gab, geschah ja überhaupt nur deshalb, weil die arabischen Regierungen den jüdischen Staat immer noch vernichten wollten und darum wenige Tage zuvor – am 6. Juli 1948 – bei ihrem Treffen in Kairo beschlossen hatten, den von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstand, der seit dem 11. Juni 1948 in Kraft war, nicht zu verlängern. Der ägyptische Außenminister Ahmed Muhammad Khashaba kommentierte damals:

 

„Es war eine Angelegenheit von Leben und Tod für sie [die arabischen Regierungen; S.F.], dass es keinen jüdischen Staat geben soll. Sie hatten keinen Wunsch nach neuerlichen Feindseligkeiten und auch keine Illusionen über die militärischen Risiken, die das mit sich brachte, sahen aber keine Alternative.“

 

Der Waffenstillstand endete also am 9. Juli 1948, und einen Tag später wurde um Lydda gekämpft. Die israelischen Streitkräfte gewannen die Oberhand, es gab allerdings noch zwei Widerstandsnester der Arabischen Legion: die stark befestigte ehemalige britische Polizeistation und die kleine Moschee. Trotzdem vermittelte Simon Garfeh, der griechisch-orthodoxe Archimandrit von Lydda, die Kapitulation der Stadt. Wie das ablief, beschreibt Dan Kurzman. Kurzman (1922-2010) war ein Journalist, Militärhistoriker und langjähriger außenpolitischer Korrespondent der Washington Post. Nach dem Krieg von 1948 führte er Tausende von Interviews mit Beteiligten, darunter Persönlichkeiten wie der erste israelische Ministerpräsident Ben-Gurion; der englische Offizier und Oberbefehlshaber der Arabischen Legion, John Bagot Glubb (alias Glubb Pascha); der transjordanische Offizier Habis al-Majali; Golda Meir und viele andere. Ergebnis war das 1970 veröffentlichte Buch Genesis 1948. The First Arab-Israeli War.

 

Am 10. Juli, so Kurzman, trafen sich zehn bedeutende arabische Persönlichkeiten aus Lydda in Garfehs Wohnzimmer mit Moshe Kelman, dem israelischen Bataillonskommandanten in Lydda, und anderen israelischen Offizieren, und tranken Kaffee. Kelman wandte sich an die Anwesenden:

 

„Meine Herren, die Stadt ist erobert, und wir wollen Ihre Kooperation. Wir schlagen vor, dass Sie die Bürger aufsuchen, die die Versorgungsbetriebe der Stadt betreiben, damit Ihre Landsleute unverzüglich wieder Wasser und Strom bekommen. Aber zuerst müssen Sie unsere Bedingungen für einen Frieden akzeptieren: Die Kapitulation aller kämpfenden Personen und Abgabe aller Waffen innerhalb von 24 Stunden. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden, müssen wir Maßnahmen ergreifen.“

 

„Wir stimmen zu“, sagte einer der Araber. „Dürfen die Bewohner bleiben, wenn sie wollen?“ „Ja“, sagte Kelman, „wenn sie hier friedlich leben.“

 

Wenig später ging das Schießen wieder los. Am Mittag des 11. Juli sandte die transjordanische Armee eine aus einem Panzer und zwei gepanzerten Fahrzeugen bestehende Patrouille nach Lydda, um zu testen, wie die Israelis reagieren, und dann schnell wieder aus der Stadt zu verschwinden. Kurzman schreibt:

 

„Eines der letzten Gebäude, an dem die Fahrzeuge bei ihrer wilden Rückfahrt vorbeifuhren, war die kleine Dahmash-Moschee. Kaum waren sie an ihr vorbeigerast, kam ein Junge aus der Moschee, die mit Flüchtlingen gefüllt war, und warf eine Granate in eine Gruppe von fünf israelischen Wachleuten, die draußen stationiert waren. Dies war das Signal, auf das hin sich innerhalb von Sekunden ein Mob von Arabern bildete, die aus der Moschee und den Häusern der Nachbarschaft gestürmt kamen. Sie töteten die überlebenden Israelis und verstümmelten ihre Leichen. Die Araber waren sich sicher, dass die Patrouille die Vorhut des lange erwarteten Versuches der [Arabischen] Legion war, zu ihrer Rettung zu kommen. Und dieses Gerücht verbreitete sich in der Stadt. In einer massiven Blitzrebellion gegen die Eroberer begannen Araber, von fast jedem Fenster und jeder Tür zu schießen…“

 

Die über die Stadt verstreuten rund 500 israelischen Soldaten unterdrückten den Aufstand der 30.000 Einwohner mit massiver Gewalt. Israelischen Schätzungen zufolge wurden dabei rund 200 Araber getötet. Als der Aufstand niedergeschlagen war, wurde die Stadt evakuiert. Statt Kriegsgefangene zu nehmen, schickte die israelische Armee die Bewohner – mit Ausnahme der Alten und Gebrechlichen und der Christen, die als weniger gefährlich betrachtet wurden – zu Fuß in das rund zehn Kilometer entfernte Gebiet, das von der Arabischen Legion besetzt war.

 

Omri Boehm hätte freilich das Recht, dies als unangemessen, unbarmherzig oder brutal zu bewerten. Er könnte auch sagen, dass das – nach heutigem Verständnis – als Kriegsverbrechen bewertet werden müsse. Es ist aber schlichtweg betrügerisch, dass er die wesentlichen Fakten ausblendet und eine ganz eigene Geschichte erzählt – eine, in der das Kriegsgeschehen überhaupt nicht vorkommt.

 

Auf Grundlage der bekannten Fakten ist klar, dass die Vertreibung der Bewohner Lyddas, wie auch immer man über sie denken mag, aus militärischen Überlegungen (und nicht etwa aus Gründen der von Boehm behaupteten Bevölkerungspolitik) heraus angeordnet wurde: um einen weiteren Aufstand in der Stadt, der den erwarteten arabischen Gegenangriff aus dem Hinterhalt hätte begünstigen können, zu verhindern. Zudem war der Vertreibung ein Kriegsverbrechen der anderen Seite vorausgegangen: die Bewohner der Stadt hatten zu den Waffen gegriffen, nachdem sie bereits kapituliert hatten.

 

Boehm blendet diese Tatsachen aus, wie er überhaupt jegliches Kriegsgeschehen ausblendet, um den Eindruck zu erwecken, israelische Soldaten hätten mitten im Frieden arglose Araber vertrieben. Es geschah nicht im Frieden, sondern in einer Gefechtssituation des Krieges. Viele der Vertriebenen waren Kombattanten, die an dem Aufstand teilgenommen hatten. Wer Kombattant und wer Zivilist war, ließ sich in dieser Situation kaum entscheiden, da die Bewaffneten ja meist keine Uniformen trugen. Und die Bewohner Lyddas wurden, anders als Boehm es darstellt, eben nicht aus Palästina vertrieben – das wäre den Israelis ja überhaupt nicht möglich gewesen, schließlich war ein großer Teil Palästinas von Transjordanien besetzt.

 

Es reicht Boehm nicht, die Vertreibung der Bewohner Lyddas in das zehn Kilometer entfernte Beit Naballa als ungerecht, unmoralisch oder unmenschlich zu verurteilen – nein, er will mehr: Es soll der Beweis dafür sein, dass die Israelis eine „Umsiedlungspolitik“ betrieben hätten. Es sei das „düstere Geheimnis des Zionismus“, dass die Juden „gewaltsame Massenvertreibungen von Palästinensern“ schon vor dem Krieg geplant hätten.

 

Das ist, wenn wir das Beispiel Lydda nehmen, aus mehreren Gründen nicht plausibel. Erstens hätte es den Krieg ohne den arabischen Angriff nicht gegeben. Zweitens hätte es keinen Kampf um Lydda gegeben, wenn die arabischen Führer nicht eine Verlängerung des Waffenstillstands wenige Tage vor der Schlacht abgelehnt hätten. Drittens haben die israelischen Streitkräfte Lydda erst dann evakuiert, als die Stadt wieder Krieg geführt hatte, nachdem sie vorher kapituliert hatte – vorher hatten sie eine Zusammenarbeit und die zügige Wiederinbetriebnahme der Versorgung angeboten. Und viertens wurden die Bewohner Lyddas nicht etwa aus Palästina vertrieben, sondern in das nächste unter arabischer Kontrolle befindliche palästinensische Dorf.

 

Boehm behauptet, Israel habe die Palästinenser vertreiben wollen, „um ein ethnisches jüdisches Übergewicht herzustellen“. Belege dafür hat er nicht. Der Evakuierungsbefehl in Lydda wurde in einer sehr speziellen Kriegssituation erteilt, die wir hier dargestellt haben. Und in Haifa kam der Evakuierungsbefehl von der arabischen Führung. Weil Boehm seine These nicht beweisen kann, muss er Zusammenhänge ausblenden und von der historischen Wahrheit so viel weglassen, dass das, was übrigbleibt, zu der von ihm selbst erzählten Geschichte zu passen scheint.

 

Die Erfindung eines Vertreibungsplans

 

Der rote Faden in Omri Boehms Buch Israel – eine Utopie ist die Behauptung, dass die Zionisten immer schon die Araber aus Palästina vertreiben hätten wollen.

 

Um das zu „belegen“, verfälscht Boehm einen Tagebucheintrag Theodor Herzls und unterstellt dem Historiker Benzion Netanjahu (1910-2012) wahrheitswidrig, ein „begeisterter Verfechter einer palästinensischen Umsiedlung“ gewesen zu sein. Zudem behauptet Boehm entgegen allen historischen Quellen, die Araber Haifas seien im April 1948 von den Juden aus der Stadt vertrieben worden.

 

Auftritt Ben-Gurion

 

Jemand, der noch in der Geschichte Israels nach Boehm vorkommen muss, ist David Ben-Gurion (1886-1973), der ab 1935 Vorsitzender der Jewish Agency war und später erster Ministerpräsident des Staates Israel wurde. Ben-Gurion sei für eine „Zwangsumsiedlung“ der Araber gewesen, an der er „nichts Unmoralisches“ gefunden habe, behauptet Boehm. Ben-Gurions Politik sei es angeblich gewesen, eine „Vertreibung der Palästinenser“ „einzukalkulieren“, „aber genügend Spielraum [zu] lassen, damit Israelis, Europäer und Amerikaner sie abstreiten können“. „Umsiedlungsfantasien“ hätten „in der zionistischen Geschichte“ „lange latent“ existiert, so Boehm:

 

„Ben-Gurion schrieb während des Ersten Weltkriegs, wahrscheinlich aufrichtig, es sei nicht ‚unsere Absicht, die Araber zu verjagen, zu enteignen und ihr Land zu übernehmen’. Der Ton änderte sich fast augenblicklich, als die Peel-Kommission vorschlug, dass sich Großbritannien von Palästina trennen und die Palästinenser aus einigen für Juden bestimmten Gegenden umsiedeln sollte. Von diesem Moment an wird Ben-Gurions Position in der Frage der – erzwungenen, nicht freiwilligen – Umsiedlung unzweideutig.“

 

Die Peel Commission war eine von der britischen Regierung im August 1936 eingesetzte Kommission, die die Ursachen der antijüdischen Pogrome in Palästina („Arabischer Volksaufstand“) untersuchen und Vorschläge zur Verbesserung des arabisch-jüdischen Verhältnisses machen sollte. Sie schlug eine Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vor. Da gemäß ihrem Teilungsplan 225.000 Araber in dem vorgeschlagenen jüdischen Staat und 1,250 Juden in dem vorgeschlagenen arabischen Staat leben würden, schlug die Kommission außerdem vor, dass es „früher oder später einen Transfer von Land und, soweit möglich, einen Transfer von Bevölkerung geben“ solle.

 

Der ausdrückliche Zweck dieser Idee war, jene Spannungen zu vermeiden, die bei einem Zusammenleben von Arabern und Juden unausweichlich sein würden, wie die Geschichte in Palästina seit 1920 gezeigt hatte. Es war ja eben diese vom Mufti Amin el-Husseini geschürte Gewalt gewesen, die Welle von Pogromen in Städten wie Jaffa, Jerusalem, Hebron, Safed und Tiberias, die überhaupt zur Einsetzung von immer neuen königlichen Kommissionen geführt hatte, von denen die Peel-Kommission nur eine war.

 

Historiker: „Es war eine britische Kommission, die den Rahmen vorgab“

 

„Sie dachten daran, arabische Bürger des jüdischen Staates zu nehmen und sie in den arabischen Staat umzusiedeln und umgekehrt“, erklärt Adi Portughies, der Leiter des Ben-Gurion-Archivs an der Ben-Gurion-Universität des Negev, im Zoom-Gespräch mit Mena-Watch. „Das, worüber Ben-Gurion also sprach, war nicht außerhalb eines Zusammenhangs, es war etwas, womit sich die Kommission und die jüdische Führung befassten.“ Die Araber hätten weder etwas von einem Bevölkerungstausch noch von einem jüdischen Staat hören wollen, doch habe es eine Debatte um die Frage gegeben, ob das machbar sei, so der Historiker:

 

„Nicht in dem Zusammenhang: ‚Lasst uns sie loswerden!’, sondern in dem Zusammenhang von: ‚Wir sind nun an dem Punkt angelangt, wo wir einen jüdischen und einen arabischen Staat gründen können, lasst uns darüber nachdenken, Bevölkerungen zu tauschen.’“

 

Dies sei der Zusammenhang. „Man muss sich daran erinnern, dass die Frage der Teilung eine war, mit der der Vorstand [der Jewish Agency; S.F.] konfrontiert war: Das Land in zwei Staaten aufzuteilen, jeder Staat wird einer Nation zugeteilt, einem jüdischen Staat und einem arabischen Staat.“ Teil des Plans war es, Menschen von einem Ort zum anderen zu bringen. „Es war eine britische Kommission, die den Rahmen vorgab, und es war an den [jüdischen] Führern, darüber zu diskutieren“, so Portughies.

 

Boehm verweist in seinem Buch auf einen Eintrag aus Ben-Gurions Tagebuch von Juli 1938, der, so Boehm, „unzweideutig“ sei. Boehm zitiert Ben-Gurion:

 

„Die Zwangsumsiedlung der Araber aus den Tälern des vorgeschlagenen jüdischen Staates könnte uns zu etwas verhelfen, was wir nie hatten […] Uns wird eine Gelegenheit geboten, von der wir in unseren kühnsten Fantasien nicht zu träumen wagten. Wir müssen diese Schlussfolgerung [also die Empfehlung der Peel-Kommission] beim Schopf packen, wie wir die Balfour-Deklaration beim Schopf gepackt haben, ja mehr noch – wie wir den Zionismus beim Schopf gepackt haben.“

 

Das Zitat geht bei Boehm noch über eine halbe Buchseite weiter – aber mit sinnverändernden Auslassungen. Ein Satz, den Boehm beim Zitieren weglässt, ist der, der sich unmittelbar an das obige Zitat anschließt. Er lautet:

 

„Wir sollten auf diesem Schluss mit aller unser Kraft, unserem Willen und unserem Glauben bestehen, weil unter allen Schlussfolgerungen der Kommission diese diejenige ist, die etwas Entschädigung für das Wegreißen des restlichen Lands bietet.“

 

Es ist nicht schwer zu sehen, warum Boehm diesen Satz lieber nicht zitiert: ist er doch eine Erinnerung daran, dass die Juden sich gemäß dem Peel-Plan mit einem winzigen Teil des Mandatsgebiets Palästinas hätten abfinden müssen. Großbritannien hatte 1921 bereits den größten Teil des Mandatsgebiets Palästina – nämlich den östlich des Jordan gelegenen – abgespalten. Das waren 90.000 Quadratkilometer, die für jüdische Besiedlung nicht mehr in Frage kamen.

 

Der Vorschlag der Peel-Kommission sah vor, dass der jüdische Staat weniger als 20 Prozent der Fläche des verbleibenden Restpalästina westlich des Jordan bekommen sollte. 5.000 Quadratkilometer – etwa 4,5 Prozent des ursprünglichen Mandatsgebiets von 1920. Eine Fläche doppelt so groß wie Luxemburg sollte als nationale Heimstätte für die damals weltweit rund 19 Millionen Juden ausreichen. Ein Sechstel des westlich des Jordan gelegenen Mandatsgebiets Palästina – aus Sicht von Ben-Gurion war das besser als nichts. Darin, dass Ben-Gurion bereit war, über dieses Angebot nachzudenken, sieht Boehm keinen Beleg für dessen Kompromissbereitschaft, sondern attestiert ihm „Umsiedlungsfantasien“.

 

Suche mit dem Mikroskop

 

Man muss Boehm zugutehalten, dass er erwähnt, dass der Vorschlag eines Bevölkerungstauschs von der britischen Peel-Kommission kam. Dann aber wiederum stellt er es so dar, als hätte Ben-Gurion ja bloß auf eine solche Gelegenheit gewartet:

 

„Unabhängig von der strategischen Zielsetzung wusste Ben-Gurion sehr wohl, dass ein jüdischer Staat inmitten einer arabischen Mehrheit keinen Bestand haben konnte […]“

 

Das Mittel, eine jüdische Mehrheit herzustellen, war aber für Ben-Gurion jüdische Einwanderung – und nicht eine Vertreibung der Araber. Ben-Gurion war mehr als ein halbes Jahrhundert lang politisch aktiv und hat Tausende von Seiten mit Reden, Tagebüchern, Briefen und Notizen hinterlassen. Aus diesen zitiert Boehm ausschließlich jene wenigen Sätze, in denen es um Bevölkerungstransfer geht, um den falschen Eindruck zu erzeugen, diese Idee habe Ben-Gurions politisches Denken und Wirken geprägt. Die vielen Verlautbarungen, in denen sich Ben-Gurion für Koexistenz und Zusammenarbeit aussprach, zitiert Boehm nicht. Etwa die folgende Ansprache an eine Versammlung seiner Arbeiterpartei (Mapai), die Ben-Gurion Ende 1947 hielt, als sich die Gründung eines jüdischen Staates abzeichnete:

 

„In unserem Staat wird es auch Nichtjuden geben – und alle werden gleichgestellte Bürger sein; gleichgestellt in allem, ohne Ausnahme. Das heißt: Der Staat wird auch ihr Staat sein. … Die Haltung des jüdischen Staates zu seinen arabischen Bürgern wird ein wichtiger Faktor sein – wenn auch nicht der einzige –, beim Bau gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu den arabischen Staaten. Wenn der arabische Bürger sich in unserem Staat heimisch fühlt und sein Status sich nicht im geringsten von dem des Juden unterscheidet und vielleicht besser ist als der Status, den der Araber in einem arabischen Staat hat, und wenn der Staat ihm auf wahrhaftige und hingebungsvolle Weise hilft, den ökonomischen, sozialen und kulturellen Stand der jüdischen Gemeinschaft zu erreichen, dann wird das Misstrauen der Araber in der Folge nachlassen, und eine Brücke zu einer semitischen, jüdisch-arabischen Allianz wird gebaut. …

 

Das Streben nach einer jüdisch-arabischen Allianz erfordert von uns die Erfüllung mehrerer Verpflichtungen, denen wir in jedem Fall verpflichtet sind: volle und tatsächliche Gleichberechtigung aller Staatsbürger, de jure und de facto; allmähliche Angleichung des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensstandards der arabischen Gemeinschaft; Anerkennung der arabischen Sprache als Sprache der arabischen Bürger in der Verwaltung, den Gerichten und vor allem in den Schulen; kommunale Autonomie in Dörfern und Städten etc.“

 

Boehm ignoriert solche Äußerungen, sucht lieber mit dem Mikroskop nach Zitaten, die seine Thesen zu belegen scheinen. Mehrere von Boehm angeführte Zitate zum Thema Umsiedlung stammen aus dem Jahr 1944. In einem davon spricht Ben-Gurion während einer Sitzung des Exekutivkomitees der Jewish Agency:

 

„Würde ich gefragt, was unser Plan ist, würde ich im Traum nicht sagen ‚Umsiedlung’ … Dieses Gerede kann uns auf zweierlei Weise zum Nachteil gereichen. (a) Es kann uns in der öffentlichen Meinung schaden, weil es den Eindruck erwecken kann, es gebe keinen Platz [für mehr Juden] in Eretz Israel, ohne die Araber loszuwerden […] Der zweite Schaden besteht darin, dass eine solche Ankündigung die Araber dazu bringen wird, sich auf die Hinterfüße zu stellen.“

 

Boehm interpretiert dies so, als sei Ben-Gurion insgeheim für eine „Zwangsumsiedlung“ gewesen, habe das aber nicht öffentlich zugeben wollen. Boehm nennt dies „strategische Zweideutigkeit“. Boehm besitzt leider nicht die Freundlichkeit, dem Leser mitzuteilen, dass Ben-Gurions Äußerung eine Reaktion (!) auf einen britischen Vorschlag war. Der Vorstand der britischen Labour-Partei hatte im April 1944 eine Resolution angenommen, die im Rahmen einer Nahostfriedenslösung eine massenhafte Einwanderung von Juden nach Palästina und eine Umsiedlung der Araber aus Palästina forderte. Aus „humanitären Gründen“ und um eine „stabile Einigung“ zu erzielen, solle es einen „Bevölkerungstransfer“ geben. Der Labour-Vorschlag:

 

„Ermuntert die Araber, auszuziehen, während die Juden einziehen. Entschädigt sie hübsch für ihr Land, organisiert ihre Siedlungen anderswo sorgfältig und finanziert sie großzügig.“

 

Auf diesen sicherlich naiven Vorschlag musste die Jewish Agency reagieren. Sie hätte ihn nicht einfach ignorieren können, selbst wenn sie gewollt hätte. Ben-Gurion diskutierte also mit anderen darüber, was man antworten sollte und in welchem Wortlaut. Boehm erwähnt die Labour-Resolution mit keinem Wort. So erweckt er beim Leser den völlig falschen Eindruck, Ben-Gurion habe sich – mal wieder! – seinen angeblichen „Umsiedlungsfantasien“ hingegeben. Boehms Darstellung, dass Bevölkerungstransfer ein Thema gewesen sei, das Ben-Gurion umgetrieben habe, ist irreführend. Er tat es, wenn er musste, weil eine politische Instanz in Großbritannien – im einen Fall die königliche Kommission, im anderen die Führung der Labour Party – das Thema auf den Tisch gebracht hatte. In seinem Standardwerk über die Geschichte der Teilungspläne schreibt der israelische Historiker Itzhak Galnoor:

 

„Transfer als eine konkrete politische Möglichkeit ging nie über die Grenzen des Berichts der königlichen [Peel-]Kommission von 1937 hinaus – dort wurde er geboren und beerdigt. Im Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 wurde er nicht einmal erwähnt. Wäre ein Transfer nicht im Bericht der Peel-Kommission enthalten gewesen, wäre er nie auf die politische Agenda der zionistischen Bewegung gelangt, auch, wenn die Idee selbst in der Vergangenheit erwähnt worden war. Als die Kommission die Möglichkeit eines Transfers vorschlug, wurde die Angelegenheit eine Minidebatte innerhalb der größeren Debatte über Teilung.“

 

Eine Minidebatte also – nicht das, was Boehm seine Leser glauben machen will.

 

Plan D: Masterplan zur Vertreibung?

 

Boehm verbindet diese Debatten aus dem Sommer 1938 und dem Sommer 1944 mit einem angeblichen Plan zur Vertreibung der Araber, dessen Umsetzung Ben-Gurion im April 1948 – also während des palästinensischen Bürgerkriegs, kurz vor der arabischen Invasion – befohlen haben soll. Die Rede ist von „Plan D“. Boehm schreibt:

 

„Die Haganah, jene paramilitärische Truppe, aus der die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) hervorgingen, setzte … ihren berüchtigten ‚Plan Dalet’ um, der den Befehl einschloss, nach Ermessen der Kommandeure vor Ort arabische Dörfer zu ‚erobern’, zu säubern oder zu ‚zerstören’.“

 

Ich bitte Adi Portughies darum, den Plan D („Dalet“ ist das „D“ im Hebräischen Alphabet) zu erklären. „Es ging überhaupt nicht um einen Bevölkerungstransfer“, sagt er. Die Lage der jüdischen Gemeinde in Palästina habe sich im Frühjahr 1948 so dargestellt:

 

„Bis März 1948 war sie belagert, passiv, in der Defensive und unternahm keine offensiven oder militärischen Schritte für einen Staat. Im März 1948 war die Lage so düster, dass US-Außenminister George Marshall an Präsident Truman schrieb, der Plan eines jüdischen Staates müsse aufgegeben werden.“

 

Zudem wurde Jerusalem belagert.

 

„Das bedeutete: Hunger, Unterernährung. Die humanitäre Lage der Juden in Jerusalem war schrecklich. Es gab keine Möglichkeit, Lebensmittel in die Stadt zu bringen, geschweige denn in den nördlichen Teil von Galiläa oder in den Kibbuz Kabri im westlichen Teil Galiläas. Oder nach Gush Etzion, der jüdischen Siedlung südöstlich von Jerusalem.“

 

Alle abgelegenen Orte wurden von arabischen Milizen belagert. Dann kam die dritte Märzwoche. „Das war die Woche, an die wir uns in der israelischen Geschichte als ‚Woche der Konvois’ erinnern“, so Portughies. Der Plan der jüdischen Gemeinde war, gepanzerte Konvois mit Nachschub in die Gemeinden zu schicken.

 

„Es wurden drei Konvois geschickt: Zum Kibbuz Yehi’am, im westlichen Teil von Galiläa, wo sich heute die Stadt Naharya befindet; ein weiterer Konvoi wurde nach Gush Etzion geschickt und ein weiterer nach Jerusalem. Diese drei Konvois wurden völlig vernichtet. Die meisten, wenn nicht alle Soldaten dieser Konvois wurden getötet. Unnötig zu erwähnen, dass die Konvois ihr Ziel nie erreichten.“

 

Zu dieser Zeit herrschten noch die Briten in Palästina, betont Portughies:

 

„Britische Soldaten waren auf den Straßen, und sie konnten das Geschehene nicht verhindern. Es war ganz klar, dass wir einer Tragödie gegenüberstanden, und sie taten nichts, um sie zu verhindern.“

 

Nicht nur die humanitäre Situation der Juden war extrem schlecht, auch die politische. Ein Staat Israel schien angesichts der militärischen Übermacht der Araber in Palästina kaum mehr möglich, sagt Portughies:

 

„Die Konvois waren ein großer Flop gewesen. Die USA und die Vereinten Nationen distanzierten sich vom Teilungsplan. Es musste etwas getan werden. Das war die dritte Märzwoche. Anfang April wurde der Plan D verabschiedet, der die Schlussfolgerungen aus dem katastrophalen Konvoi-Experiment zog: Wir müssen jetzt in den offensiven Teil des Krieges gehen. Wir müssen aktiv werden, wir müssen die Straßen öffnen, nach Jerusalem, in den westlichen Teil von Galiläa und in Gebiete südlich von Jerusalem.“

 

Dies geschah, und darum sei es in Plan D gegangen: die Straßen zu öffnen. „Angesichts der Tatsache, dass die Araber alles in ihrer Macht Stehende taten, um die Juden loszuwerden und die Idee eines jüdischen Staates zu zerschlagen, war Plan D das Gegenteil: die Straßen öffnen und den jüdischen Staat gründen“, erklärt der Historiker.

 

Gehörte zu dem Plan die Vertreibung von Arabern? „Nicht absichtlich“, so Portughies. „Es gibt das Ereignis von Deir Yassin, über das viel gesprochen wird. Etzel verübte ein Massaker, Frauen und Kinder wurden ermordet.“ Seitdem seien die Mitglieder dieser Gruppe in der jüdischen Gemeinde als „Aussätzige“ behandelt worden. „Als der Plan D in Kraft trat, hat das offensichtlich Menschen verängstigt“, fügt er hinzu. „Viele haben ihre Dörfer verlassen, Dörfer wurden aufgegeben, aber niemand wurde aus Palästina abgeschoben.“

 

Der israelische Historiker Benny Morris schreibt in seinem Buch 1948 über den Plan D:

 

„Über Jahrzehnte war Plan D Anlass für kleinere Kontroversen unter Historikern, bei denen palästinensische und propalästinensische Historiker die Anschuldigung vorbrachten, er sei der Masterplan der Haganah für die Vertreibung der Araber des Landes gewesen.“

 

Aber ein Blick auf den Text zeige, dass dies nicht der Fall sei, so Morris. Es gehe um Sicherung des Territoriums des entstehenden jüdischen Staates sowie seiner wichtigsten Straßen und um den Aufbau einer Verteidigung gegen die erwartete Invasion der arabischen Armeen. „Nirgendwo in dem Dokument“, schreibt Morris, „ist von einer Politik oder dem Wunsch die Rede, ‚die arabischen Einwohner’ von Palästina oder irgendeiner seiner Regionen zu vertreiben. Nirgendwo wurde irgendeine Brigade dazu angewiesen, ‚die Araber’ zu vertreiben.“

 

Wie Ben-Gurion wirklich über jüdisch-arabische Koexistenz dachte

 

„Was waren Ben-Gurions Ansichten über die zukünftigen jüdisch-arabischen Beziehungen?“, frage ich Portughies. Diese hätten sich im Laufe der Geschichte immer wieder geändert, antwortet er.

 

„In den 1910er Jahren, als er zum ersten Mal nach Palästina kam, war Ben-Gurion Arbeitersozialist. Er glaubte, dass es ein Bündnis von Arbeitern geben könnte, weil sie das gleiche Interesse hätten: Lebensbedingungen und Löhne verbessern. Nach den Unruhen von 1929 erkannte Ben-Gurion, dass die Idee eines gemeinsamen jüdisch-arabischen Lebens in Palästina eher eine Utopie war. Er dachte nun, dass zunächst die jüdische Gemeinde in Palästina gestärkt werden müsse. Er nannte das Tochnit Bitzaron, den Plan der Widerstandsfähigkeit.“

 

In den 1930er Jahren, während der arabischen Rebellion von 1936 bis 1939, sei ihm klar geworden, dass die Araber in Palästina niemals zustimmen werden, mit den Juden zusammenzuleben, egal was die Juden täten, um die Infrastruktur und das Leben in Palästina zum Vorteil von Juden und Arabern zu verbessern, da es für sie ein arabisches Land sei und sie die Juden als Eindringlinge betrachteten, erklärt Portughies.

 

„Sein arabischer Freund Musa Alami sagte zu Ben-Gurion: ‚Ich würde das Land lieber für hundert Jahre unbewohnt lassen, als es aus jüdischen Händen in Empfang zu nehmen.’“

 

An diesem Punkt, so Portughies, „erkannte Ben-Gurion, dass die Araber uns nur akzeptieren werden, wenn sie begreifen, dass die jüdische Entität, der jüdische Staat in Palästina da ist, um zu bleiben, und wir niemals weggehen werden. Das wäre der einzige Wendepunkt, wenn sie erkennen, dass sie friedlich mit uns zusammenleben sollten.“ Von 1930 bis Mitte der 1930er habe Ben-Gurion dann zweierlei unternommen: Mit arabischen Führern gesprochen, um das Verhältnis zwischen Juden und Arabern zu verbessern, und gleichzeitig an der Stärkung der jüdischen Gemeinde in Palästina. „Er wusste, dass es keinen Frieden geben wird, wenn wir nicht einen dauerhaften jüdischen Staat in Palästina errichten.“ Nach der Staatsgründung war Ben-Gurion Ministerpräsident des Staates Israel.

 

„Jetzt tat er sein Bestes, um ein gemeinsames Leben von Juden und Arabern in Israel zu erreichen. Bis 1966 allerdings gab es ein militärisches Regime über die arabischen Bürger. Das müssen wir anerkennen.“

 

Dabei sei zu bedenken, dass die Araber bis zum 14. Mai 1948 Feinde waren. „Ab dem 15. Mai waren sie Bürger. Nichts hatte sich wirklich in der Denkweise der Juden und Araber geändert. Und man muss den Staat Schritt für Schritt aufbauen.“

 

Conclusio

 

Wieder können wir die Hauptelemente der Methode Omri Boehm ausmachen. Da ist das Unsichtbarmachen arabischer Akteure: Boehm verschweigt wie stets alle arabischen Militäraktionen – darunter die von den Arabern verhängten Belagerungen zum Aushungern Jerusalems und der jüdischen Dörfer. Er verschweigt ferner alle Äußerungen, die nicht in das Bild passen, das er vermitteln möchte – wie etwa Ben-Gurions erklärten Wunsch, dass Araber und Juden in Israel völlig gleichgestellt sein sollen. Er verzerrt die Geschichte, indem er relevante Zusammenhänge ausblendet, wie etwa die Labour-Resolution zum Bevölkerungstransfer, auf die Ben-Gurion 1944 Bezug nahm.

 

Gleichzeitig befrachtet er einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen mit einer Bedeutung, die sie nicht haben: Ben-Gurions wenige Kommentare zu den – britischen! – Umsiedlungsplänen können nicht als Beleg für „Umsiedlungsfantasien“ genommen werden oder für die These, dass „der Gedanke einer Umsiedlung“ „das zionistische Denken von Anfang an“ begleitet habe.

 

Hinzukommt das Herstellen von Zusammenhängen, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Der Plan D zum Aufbrechen der Belagerungsringe, mit denen Jerusalem und die jüdischen Gemeinden im März 1948 eingekesselt waren, hatte nichts mit den Vorschlägen der Peel-Kommission von 1937 oder einem etwaigen Plan zur Vertreibung von Arabern aus Palästina zu tun. Das sind Boehms eigene „Umsiedlungsfantasien“. Man könnte sagen: Boehmische Dörfer.

 

Feldzug gegen das Holocaust-Gedenken

 

Das Ungewöhnliche – und Gefährliche – an Boehms Propaganda ist, dass er seine antiisraelische Polemik immer wieder mit Angriffen auf das Shoah-Gedenken kombiniert.

 

Dass Omri Boehm ein Buch veröffentlicht hat, in dem er falsche Behauptungen über die Geschichte des arabisch-israelischen Konflikts aufstellt und den Staat Israel dämonisiert, würde ihn aus der Masse der Antizionisten nicht herausheben. Auch die „Ein-Israeli-kritisiert-Israel“-Masche ist abgegriffen. Ihr einst führender Vertreter Uri Avnery ist vor drei Jahren verstorben. Dadurch allerdings wurde eine Marktnische frei, die Boehm nun mit einigem Erfolg besetzt.

 

Norman Finkelstein, Omri Boehm und Dirk Moses

 

 Das Ungewöhnliche – und Gefährliche – an Boehms Propaganda ist, dass er seine antiisraelische Polemik immer wieder mit Angriffen auf das Gedenken der Shoah kombiniert. Damit erschließt er jene Leserkreise, die vor 21 Jahren Norman Finkelsteins Pamphlet „Die Holocaustindustrie“ in Deutschland zum „Spiegel-Bestseller“ machten. Er tut das zum Teil mit denselben Thesen und dem fast gleichen Wortlaut: Das Holocaustgedenken diene einer angeblichen „Immunisierung“ Israels gegen „Kritik“, schrieb Finkelstein damals. Boehm schreibt:

 

„Dass sich das Land [Israel; S.F.] durch das Andenken an den Holocaust in einer Sphäre jenseits des normalen öffentlichen Diskurses verortet, immunisiert seine Politik gegenüber jenen Kräften, die den Sieg humanistischer Werte fördern könnten.“

 

Warum bloß wird kein Staat der Welt so oft und so bösartig angegriffen wie Israel, wo das Land doch „immun“ sein soll? Lauter Impfdurchbrüche?

 

Boehm scheint auf den ersten Blick weniger radikal als Finkelstein. Boehms Buch heißt „Israel – eine Utopie“ . Das klingt, als würde er Gutes im Schilde führen. Durch diese vorgeschützte Harmlosigkeit verkauft es sich zwar nicht so gut wie „Die Holocaustindustrie“ , auf der anderen Seite eröffnet es Boehm die Möglichkeit, mit seinen regelmäßigen Kolumnen auf Zeit Online auch solche Leser zu erreichen, die Finkelstein mit Recht für einen extremistischen Wirrkopf halten, aber nicht sehen, dass der vermeintlich moderate Boehm ähnlich argumentiert, wenn auch etwas geschickter und mit der Autorität des „Philosophen“.

 

Seine Angriffe auf das Gedenken der Shoah, die Boehm in seinen Texten immer wieder reitet, sind etwas, das man in der zeitgenössischen deutschen Debatte bislang außer von Finkelstein fast nur von Rechtsextremisten kannte – oder, wenn man in der Geschichte einige Jahrzehnte zurückgeht, von Linksterroristen wie Dieter Kunzelmann (1939-2018), der forderte, die Linke müsse den deutschen „Judenknax“ überwinden.

 

In der deutschsprachigen Debatte der letzten Monate können Boehm und der in North Carolina lehrende australische Historiker Dirk Moses als die Wortführer derer gelten, die den Deutschen diesen vermeintlichen „Judenknax“ austreiben wollen.

 

Moses, zur Erinnerung, versucht derzeit, die Deutschen davon überzeugen, sie hätten sich 70 Jahre lang von „amerikanischen, britischen und israelischen Eliten“ einreden lassen, dass der Holocaust etwas Besonderes sei und sie zu einer „besonderen Loyalität“ gegenüber Israel verpflichte. Neonazis würden wohl von alliierter „Umerziehung“ sprechen. Moses schreibt:

 

„Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch ist für viele das moralische Fundament der Bundesrepublik. Diesen mit anderen Genoziden zu vergleichen, gilt ihnen daher als eine Häresie, als Abfall vom rechten Glauben. Es ist an der Zeit, diesen Katechismus aufzugeben.“

 

Wer zwingt den Deutschen diesen „Katechismus“ auf? Wenig originell: anonyme amerikanisch-jüdische Mächte. Dafür, dass es angeblich alles tut, was Israel und die USA angeblich verlangen, dürfe Deutschland sich „von der politischen Klasse Israels und den USA anerkennend den Kopf tätscheln lassen“. Hat das schon mal jemand gefilmt? Moses und Boehm sind beide groß im Aufstellen von weitreichenden Behauptungen, sehen sich aber nicht verpflichtet, Belege beizubringen.

 

Moses spricht im Zusammenhang mit dem deutschen Holocaustgedenken von „Glauben“, „Glaubensartikeln“, „Katechismus“, „Glaubenswächtern“, „Hohepriestern“, „Häresie“, „Häretikern“, „Inquisition“ und „öffentlichem Exorzismus“. Mitunter fühlt er sich gar an „Häresieprozesse“ erinnert. Die gingen bekanntlich mit Folter einher, und die Häretiker landeten auf dem Scheiterhaufen.

 

Ein solches Schicksal droht nun nach Moses’ Befürchtung in Deutschland auch Aktivisten, die israelische Juden „boykottieren“ wollen („BDS“) – mindestens aber müssten sie um „Arbeitsplatz oder die Teilnahme am öffentlichen Leben fürchten“, behauptet Moses.

 

Auch „das Recht, die Politik Israels zu kritisieren“, wähnt er in Deutschland in Gefahr. Man weiß, wie unerbittlich der lange Arm der israelischen Regierung gegen Kritiker in Deutschland vorgeht, der Publizist Jakob Augstein hat es ja 2012 im Spiegel erklärt: „Wenn es um Israel geht, gilt keine Regel mehr: Politik, Recht, Ökonomie – wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen.“

 

Folgt man Dirk Moses, dann nutzen die Juden den Holocaust-„Katechismus“ als eine Art Trojanisches Pferd; darin enthalten sei nämlich auch der angebliche Glaubenssatz, dass Deutschland „Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet“ sei (was allerdings in der deutschen Außenpolitik niemals zu sehen ist) und dass der Antizionismus eine Form des Antisemitismus sei (was der Antizionist Moses nicht wahrhaben will).

 

Die von Dirk Moses verbreiteten Parolen sind keineswegs neu. Er sagt nichts, was nicht so oder so ähnlich vor ihm schon andere gesagt haben. Gehen wir auf Spurensuche; Finkelstein haben wir erwähnt. Dass die Juden den Holocaust benutzten, um „Sympathie“ zu gewinnen, die sie dann in politische oder monetäre Gewinne ummünzten, ist ein auch bei autoritären Regimes in islamischen Ländern virulentes Klischee.

 

Als Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ 1993/94 in die Kinos kam, durfte er in den allermeisten mehrheitlich islamischen Ländern nicht gezeigt werden. Im Libanon wurde sogar verboten, für den Film zu werben. In Malaysia schrieb die Zensurbehörde, der Film sei „Propaganda, mit dem Ziel, Sympathie (für die Juden) zu wecken und die andere Rasse (die Deutschen) in ein schlechtes Licht zu rücken.“ Ähnlich wie Dirk Moses hatten die Zensoren die Befürchtung, die Erinnerung an den Holocaust könne womöglich Israel nützen. Also verboten sie den Film.

 

Horst Mahler: „Meinungsdiktatur Israels“

 

 Ein anderer Intellektueller, der mit dem Holocaustgedenken hadert, ist der RAF-Mitgründer und Neonazi Horst Mahler. Wie Omri Boehm ist er Philosoph, mit dem Unterschied, dass er mehr Hegel liest als Kant. Als Rechtsanwalt des wegen Volksverhetzung zu einer Haftstrafe verurteilten Neonazi-Musikers Frank Rennicke argumentierte Mahler 2002 in seinem über 200 Seiten langen Revisionsantrag an das Bundesverfassungsgericht:

 

„Die offensichtlich mit der Politik abgestimmte Verstrickung der Justiz in den Abwehrkampf der Judenheit gegen die geschichtliche Wahrheit ist ein deutliches Anzeichen dafür, daß es mit der Verfolgung der ,Holocaustleugner’ um etwas Bedeutendes geht: Diese sind die gefährlichste Bedrohung der Holocaustreligion.

 

Mit dieser aber steht und fällt die Weltherrschaft (Oberlercher) des Judentums sowie die Existenz Israels. Wir haben es hier mit dem neuralgischen Punkt der gegenwärtigen Weltgeschichte zu tun.“

(Zitiert nach: Michael Fischer: Horst Mahler. Biographische Studie über Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuche deutscher Schuldabwehr.)

 

Wie Omri Boehm und Dirk Moses schlug Mahler einen Bogen von der Ablehnung des deutschen Holocaustgedenkens über eine angebliche israelische „Meinungsdiktatur“ zur israelischen Politik:

 

„Der Aufstand gegen die Jüdische Weltherrschaft hat in Palästina mit der 2. Intifada begonnen. Der Befreiungskrieg setzt sich jetzt fort in Deutschland mit dem Angriff auf das Dogma von den 6 Millionen im Gas umgekommenen Juden […].

 

Die Völker leiden unter der Meinungsdiktatur Israels und seiner Hilfstruppen – am schlimmsten ergeht es dabei dem Palästinensischen und dem Deutschen Volk. Während das Palästinensische Volk den Tod durch israelische Panzer und israelische Mörderbanden erleidet, wird das Deutsche Volk Opfer eines von Jüdischen Institutionen organisierten Seelenmordes, wie es ihn in der Geschichte noch nie gegeben hat.“

 

In die gleiche Kerbe schlug vor einigen Jahren der wegen seines Antisemitismus aus der AfD ausgeschlossene ehemalige baden-württembergische Landtagsabgeordnete Wolfgang Gedeon. Er argumentierte, der Holocaust werde in Deutschland „ideologisiert und theologisiert“. Es gehe dabei „nicht mehr um allgemeine Judaeomanie als Reaktion auf den Antisemitismus der nationalsozialistischen Zeit, sondern um die Etablierung einer neuen Staatsreligion“.

 

Der dem rechtsextremen AfD-„Flügel“ von Björn Höcke nahe stehende Götz Kubitschek klagte aus Anlass der Debatte um Gedeons Äußerungen im Juni 2016 in einem Interview mit dem völkisch-rechten Blatt Sezession über „Tabus“, die den Deutschen diktiert würden:

 

„Wir bewegen uns ja fraglos sofort in tabubewehrten Zonen, wenn wir über die weltgeschichtliche Bedeutung des Judentums, des Zionismus oder der Holocaustindustrie nachdenken und unsere Gedanken äußern. Man kann diese Tabus nun aufgrund der deutschen Geschichte als gerechtfertigt akzeptieren – das ist dann eine politische Entscheidung, sie ist im Bezug auf die Leugnung des Holocausts in Deutschland sogar juristisch abgesichert.

 

Man kann die Tabus aus wissenschaftlicher Sicht aber auch ablehnen, und zwar ohne jede Prüfung der Sachverhalte, nämlich schlicht, weil es keine Frage- und Forschungstabus geben sollte.“

 

Boehms Kampf gegen das „sakralisierte Holocaust-Gedenken“

 

Solche angeblichen Tabus bekämpft auch Omri Boehm. In einem Beitrag für Zeit Online war er kürzlich dabei zu beobachten, wie er die angemessene Distanz zu Dirk Moses suchte – nicht zu viel, nicht zu wenig. „Wir“, so Boehm, hätten „gelernt“, dass

 

„die Singularitätsthese [gemeint ist die bisherige geschichtliche Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Unternehmens der Vernichtung der europäischen Juden; S.F.] ihrerseits instrumentalisiert werden kann, um Deutschlands universalistische Verpflichtungen zu untergraben. Das bedeutet nicht, dass wir mit A. Dirk Moses und anderen Kritikern die Einzigartigkeit von Auschwitz bestreiten sollten, und theologisch konnotierte Formulierungen à la ‚Katechismus’ sind in jedem Fall unangemessen.“

 

Theologisch konnotierte Formulierungen also seien „unangemessen“. Das müssen wir im Kopf behalten, weil Boehm offenbar darauf spekuliert, dass die Zeit-Leser sein Buch nicht kennen, in dem es im Hinblick auf das Holocaustgedenken durchaus einige Formulierungen gibt, die man als „theologisch konnotiert“ interpretieren könnte. Eine Blütenlese:

 

„Wir [sollten] uns der Tendenz widersetzen, Israel als einen gleichsam der Kritik enthobenen Staat zu behandeln, der nicht auf herkömmlicher, legitim zu hinterfragender und zu diskutierender Politik beruht, sondern auf einem quasi sakralisierten Holocaust-Gedenken.“ [Hervorhebung des Verfassers.]

 

„Ich analysiere Elie Wiesels Holocaust-Messianismus und die Nationalisierung der Erinnerung durch den Jerusalemer Eichmann-Prozess, um zu zeigen, dass das Gedenken an den Holocaust wahrlich zu einer Kraft geworden ist, die den Stellenwert der Staatsbürgerschaft in Israel untergräbt.“

 

Israelis, so Boehm, litten unter einer „politisch-metaphysischen Existenzangst“, die sie

 

„dazu verleitet hat, von der Berufung auf den Holocaust als einem politischen Argument unmerklich dazu überzugehen, den Zionismus als eine Art angstbasierten mythologischen Holocaust-Messianismus zu betrachten“.

 

Boehm spricht von der „jüdischen Versuchung“: „die Versuchung nämlich, den Judaismus in einen zionistischen Holocaust-Messianismus zu verwandeln“ und nennt das Beispiel Elie Wiesel:

 

„Wiesel ging aus Auschwitz nicht als Christ hervor und auch nicht wirklich als atheistischer Jude. Er ging aus Auschwitz hervor als jemand, der fest vom Zionismus als der letztendlichen messianischen Theologie des Holocaust überzeugt ist.“

 

Dann spekuliert Boehm über Nebenwirkungen, die sich aus dieser angeblichen Theologie ergäben:

 

„Dadurch dass ein solcher Holocaust-Messianismus den jüdischen Staat der Sphäre rationaler, universalistischer Politik enthoben hat, hat er das jüdische Gewissen in schwere Schräglage gebracht.“

 

Boehm klagt Wiesel für dessen angebliches „Schweigen über Israel“ an: „Ist das Schweigen nicht immer auf der Seite des Unterdrückers?“ Wiesel habe, wenn es um Israel ging, „weder tiefe Weisheit noch gesunden Menschenverstand“ gehabt. Seine Vernunft sei nämlich durch den „Holocaust-Messianismus“ beeinträchtigt gewesen. Wörtlich schreibt Boehm:

 

„Warum sollte ein jüdischer universalistischer moralischer Kritiker nicht öffentlich Position zu Israel beziehen? Die Antwort liegt im Zusammenbruch der Vernunft durch den Holocaust-Messianismus.“

 

Boehm fordert „die Erinnerung“ müsse „vom Holocaust-Messianismus befreit werden“. Auf Seite 97 fällt Boehm dann ein, dass er ja noch gar nicht über Holocaust-Messianismus geschrieben hat, höchste Zeit:

 

„Wenige Geschichten transportieren eindrucksvoller das Vokabular des Zionismus als Holocaust-Messianismus: die Vorstellung, dass das jüdische Volk aus der Asche der Geopferten auferstanden ist, indem es Kinder im israelischen Wunderstaat bekommt.“

 

Halten wir fest: Horst Mahler spricht von der „Holocaust-Religion“; Dirk Moses vom „Katechismus“; Wolfgang Gedeon vom Holocaust als „einer neuen Staatsreligion“; Götz Kubitschek von „tabubewehrten Zonen“; Omri Boehm vom „Holocaust-Messianismus“. Alle meinen das Gleiche: Das Holocaust-Gedenken basiere nicht auf Wissen über geschichtliche Tatsachen, sondern sei vielmehr eine Art fanatischer Kult, der zur Verfolgung politischer Ziele Israels Gehorsam und Konformität einfordere – und somit vom Standpunkt der Vernunft abzulehnen sei.

 

Die angebliche Illiberalität des Holocaust-Gedenkens

 

Boehm beklagt, der „Holocaust-Messianismus“ wolle „die wesenhafte Verbindung zwischen Zionismus und souveränem jüdischem Staat festschreiben und sanktionieren“. Das Holocaust-Gedenken werde in Israel seit „geraumer Zeit“ in eine „Gegenmacht zu jeder (sic!) liberalen Politik verwandelt“. Eine lupenreine Tyrannei also.

 

Auch in Deutschland sieht Boehm eine unheilvolle Manipulation der Regierungspolitik durch die angebliche Fixierung der Regierenden auf die „Vergangenheit“ und den Holocaust. In diesem Sinn äußerte sich Boehm am 11. August in einem Zeit Online-Kommentar.

 

In dem Text geht es um die Pseudo-Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Israel, eine Justizposse, bei der der „Kläger“ – der fiktive Staat „Palästina“ – von einem Komitee vertreten wird, dessen Leiter der Hamas-Terrorist Dr. Ghazi Hamad ist. Ihm zur Seite stehen die PFLP-Terroristin Khalida Jarrar und der DFLP-Terrorist Qais Abd Al-Karim Abu Laila.

 

Was hat das mit Deutschland zu tun? Die deutsche Bundesregierung hatte, wie zahlreiche andere Staaten auch, als Amicus Curiae („Freund des Gerichts“) dem Tribunal eine Rechtsmeinung übermittelt, wonach die Klage „Palästinas“ vor dem IStGH nicht legitim sei, weil, so ein Sprecher des Auswärtigen Amtes, Palästina aus Sicht der Bundesregierung kein Staat ist und daher die Grundlage für eine Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fehlt“.

 

Zu keiner Zeit hat die Bundesregierung eine Verbindung dieser juristischen Frage zum Holocaust hergestellt, was ja auch abwegig wäre. Aber nicht zu abwegig für Omri Boehm: Er glaubt, dass es schon wieder ihre angebliche Holocaust-Besessenheit gewesen sei, die die deutsche Bundesregierung umgetrieben habe und sie habe anders handeln lassen, als sie es ihren Prinzipien und Überzeugungen gemäß eigentlich hätte tun müssen.

 

Boehm sieht in der von der deutschen Bundesregierung an den IStGH übermittelten Rechtsauffassung einen Beleg – mehr noch: die „aussagekräftigste Fallstudie“ – dafür, dass „Deutschlands besonderes Bekenntnis zu Israel“ sich nicht mit der „Verpflichtung auf die Menschenrechte und das Völkerrecht“ vereinbaren lasse. Im Klartext: Weil die deutsche Bundesregierung Israel verpflichtet sei, pfeife sie – zumindest im vorliegenden Fall – auf „die Menschenrechte und das Völkerrecht“.

 

Die Möglichkeit, dass die Bundesregierung aufrichtig handeln könnte und die von ihr vertretene Rechtsauffassung womöglich ihrer wirklichen juristischen Überzeugung entspricht, erwägt Boehm gar nicht erst. Er hält das Auswärtige Amt offenkundig für fremdgesteuert – von Israel.

 

Boehms Auffassung kann, schon rein logisch betrachtet, aus zwei Gründen keine Plausibilität beanspruchen: Erstens hat die deutsche Bundesregierung bekanntermaßen ansonsten keine Skrupel, auf der internationalen Bühne jede noch so abwegige Initiative gegen Israel mit ihrer Stimme zu unterstützen. Zweitens haben auch Staaten wie Tschechien und Australien als Amici Curiae die israelische (und deutsche) Rechtsauffassung geteilt, wonach der IStGH keine Zuständigkeit besitzt. Stehen auch sie unter dem Bann des Holocaust, an deren Existenz Boehm glaubt?

 

Erwähnenswert: In seinem Zeit-Kommentar bescheinigt Boehm der Hamas, sich für das Wohl der Palästinenser einzusetzen. Die islamistische Terrororganisation, die im Gazastreifen eine Diktatur mit Folter und Hinrichtungen eingerichtet hat, habe, so Boehm, den

 

„palästinensischen Beitritt zum Römischen Statut unterstützt und die Haager Voruntersuchungen begrüßt, obwohl diese auch ihr eigenes Vorgehen betrafen. Sie spekuliert zu Recht, dass die Autorität des Völkerrechts den Palästinensern nicht zuletzt im Gazastreifen wesentlich mehr einbringen würde als ihr Raketenterror gegen die israelische Zivilbevölkerung.“

 

Der „Autorität des Völkerrechts“ zur Geltung zu verhelfen und „den Palästinensern“ auf dem Rechtsweg etwas „einbringen“, das also wolle die Hamas. Der deutschen Bundesregierung hingegen stellt Boehm ein schlechteres Zeugnis aus; sie sei Erfüllungsgehilfe Israels und stelle darum ihre „Verpflichtung gegenüber dem jüdischen Staat“ über ihre „Verpflichtung gegenüber dem Völkerrecht“. Boehm schreibt:

 

„Deutschland, das aufgrund seiner Vergangenheit der Autorität des IStGH hoch verpflichtet ist, wendet sich aufgrund seiner Vergangenheit unmittelbar gegen diese Autorität. So sieht es aus, wenn die Autorität des Universalismus an der Türschwelle der Singularität endet. All jenen, die den Universalismus bewahren wollen, indem sie die Einzigartigkeit des Holocausts verteidigen, sollte ein derartiges Beispiel ernsthaft zu denken geben.“

 

Boehms Strohmannargumente

 

 Boehm wendet den Vorwurf eines angeblichen Missbrauchs des Holocaust-Gedenkens bzw. der Singularität der Shoah gerne an, auch und vor allem dann, wenn er der Einzige ist, der den Holocaust in die Diskussion einbringt. Das tat er schon, als er  – ebenfalls auf Zeit Online – die Anti-BDS-Resolution des Deutschen Bundestages geißelte.

 

Es könne ja wohl „nicht antisemitisch sein“, schrieb er damals, „auf der schieren Gleichheit von Juden und Palästinensern zu bestehen“. Das hatte vor Boehm nie jemand behauptet, auch der Deutsche Bundestag nicht.

 

Boehm beklagte in diesem Zusammenhang einen angeblichen „Druck, das Holocaust-Gedenken zu missbrauchen und zu behaupten: Weil die Juden ein Recht auf Selbstbestimmung haben, ist es antisemitisch, die nationalen Rechte der Palästinenser zu verteidigen.“ Selbstredend steht nirgendwo in der Resolution des Deutschen Bundestages etwas Derartiges (vielleicht hülfe es, wenn Boehm die Bundestags-Resolution vom 15. Mai 2019 einmal lesen würde).

 

Boehm selbst ist derjenige, der immerfort das  Holocaustgedenken – in herabsetzender Absicht – in die Debatte einbringt, um dann anschließend auf andere zu projizieren, sie würden ja das „Holocaust-Gedenken missbrauchen“. Und wenn diese gerade gar nicht vom Holocaust gesprochen haben? Dann, ja dann, unterstellt Boehm eben, dass der Holocaust ihr inneres, geheimes (und, wie er meint: unlauteres) Motiv sein müsse.

 

Omri Boehm überzeugt nicht durch die Stichhaltigkeit seiner Argumente, sondern wirkt auf seine Anhänger deshalb glaubhaft, weil sie in seinen Texten das finden, was sie ohnehin bereits denken: dass es in Deutschland eine Verschwörung gebe, die auf das deutsche Volk und die Regierung Druck ausübe, sich einem bestimmten Holocaustgedenken anzuschließen; diese Verschwörung zensiere im Auftrag Jerusalems Meinungen, wenn nicht sogar Gedanken und habe den Deutschen Bundestag und die deutsche Bundesregierung unter ihrer Kontrolle.

 

An der Türschwelle zum Rechtsextremismus

 

Im antisemitischen Diskurs geht es immer darin, alte Bilder wachzurufen, Klischees über angebliches jüdisches Wirken. Manchmal reichen dazu Andeutungen. So, wie bei Martin Walser, als er im Oktober 1999 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sagte, dass er „vor Kühnheit zittere“, wenn er sage:

 

„Auschwitz eignet sich nicht, dafür Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur  Pflichtübung.“

 

Auch ohne dass Walser die Juden erwähnte, wusste jeder, wer den kühnen Schriftsteller da zittern ließ und die Moralkeule schwang. Was dem Walser seine Keule, ist dem Boehm seine Türschwelle. Man könnte sagen: An der Türschwelle der Singularität (Boehm) steht ein Glaubenswächter (Moses) mit einer Moralkeule (Walser). Er ist ein Hohepriester (Moses), der den Deutschen den Katechismus (Moses) der Holocaustreligion (Mahler) predigt, sie im Auftrag der Holocaustindustrie (Finkelstein) an ihre Verpflichtung gegenüber dem jüdischen Staat (Boehm) erinnert; der sie zwingt, sich Jerusalem zu beugen (Augstein) und den Abfall vom rechten Glauben (Moses) durch das Errichten von tabubewehrten Zonen (Kubitschek) und die Mittel der Inquisition (Moses) verhindert. Ein Schreckensregime des Holocaust-Messianismus (Boehm), in dem keine Regel mehr gilt (Augstein), regiert Deutschland.

 

So in etwa spukt es in den Köpfen von Omri Boehm, Dirk Moses, Jakob Augstein, Götz Kubitschek, Martin Walser, Wolfgang Gedeon, Horst Mahler, Norman Finkelstein und anderen.

 

 

Yad Vashem als Schaltzentrale des Bösen

 

Ist Boehm ein besonderes Gräuel: die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. (© imago images/Schöning)

 

Aus unerfindlichen Gründen ist Omri Boehm regelrecht besessen von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, die er geradezu für eine Schaltzentrale des Bösen hält.

 

Der vorangegangene Teil unserer Reihe „Die Methode Omri Boehm“, in der es darum geht, wie der von Teilen des deutschen Feuilletons hochgeschätzte Polemiker die Geschichte Israels als eine Abfolge von Verbrechen erfindet und dem Zionismus und den Juden alle Schuld am arabisch-israelischen Konflikt zuschreibt, liegt nun schon zwei Monate zurück. Diese Pause hat nicht nur, aber auch damit zu tun, dass es ein Ben-Gurion-Zitat aus einer israelischen Tageszeitung von 1961 zu prüfen galt, wie wir im nächsten Teil sehen werden.

 

Das war ein gewisser Aufwand, eine Mühe, die sich die Leute beim Ullstein-Verlag, wo Boehms Pamphlet Israel – eine Utopie erschienen ist, nicht machen. Dort hat die für Boehms Buch zuständige Redakteurin Kristin Rotter ja nicht einmal das gefälschte Herzl-Zitat (das in der im August 2021 erschienenen englischen Ausgabe nicht mehr enthalten ist) vor Drucklegung geprüft, obwohl sie dazu bloß in irgendeine deutsche Universitätsbibliothek hätte gehen müssen.

 

Sie hat in Boehms Manuskript übrigens auch nicht angestrichen, dass er ohne jeden Beleg behauptet, der ehemalige israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe den 1995 ermordeten Yitzhak Rabin „wenige Monate vor dem Mord als ‚Verräter‘ beschimpft“. Boehms Behauptung über Netanjahu ist bösartig und könnte den Straftatbestand der Verleumdung erfüllen, falls er dafür keinen Beleg hat – und den scheint er nicht zu haben, sonst hätte er ihn wohl beigebracht.

 

Heute knüpfen wir unmittelbar an das Thema des letzten Teils an. Wir haben gesehen, wie Boehm das Holocaust-Gedenken herabsetzt, in sehr ähnlicher Weise, wie Rechtsextremisten das tun. Boehm beklagt, dass der angebliche „Holocaust-Messianismus“ – den er nicht definiert, so dass unklar bleibt, ab wo das Gedenken der Shoah seiner Meinung nach zum irrationalen „Messianismus“ wird – „den jüdischen Staat der Sphäre rationaler, universalistischer Politik enthoben“, diesen also offenbar in eine ihm aus seiner Sicht nicht zustehende, privilegierte Position gehievt habe.

 

Rotes Tuch Yad Vashem

  

Boehm behauptet, das Holocaust-Gedenken habe sich in Israel seit „geraumer Zeit“ in eine „Gegenmacht zu jeder (!) liberalen Politik verwandelt“ und zum „Zusammenbruch der Vernunft“ geführt. Solche Beschreibungen lassen an einen totalitären Staat denken. Zustimmend zitiert Boehm den Holocaustüberlebenden und Philosophieprofessor Yehuda Elkana, der gesagt habe, es gebe „keine größere Gefahr für Israels Existenz“ als die „Erinnerung an den Holocaust“.

 

Als schrecklichste Agentur dieser angeblichen Tyrannei des Gedenkens stellt Boehm die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem dar. Diese Institution sei „seit Jahren daran beteiligt, rechtsextreme Politiker reinzuwaschen“, behauptet Boehm. Ein Beispiel, das er anführt: Der derzeitige israelische Ministerpräsident Naftali Bennet etwa sei „als israelischer Bildungsminister ein häufiger Gast“ in Yad Vashem gewesen.

 

Boehm erwähnt, dass Yad Vashem einen „Plan“ (!) entwickelt habe, „israelischen Kindern die Geschichte des Holocausts bereits im Kindergartenalter zu vermitteln“. Das findet er offenbar schockierend. Die israelische Tageszeitung Haaretz schilderte das Vorhaben bei seiner Vorstellung im Jahr 2014, ohne dabei auf Skandalträchtiges zu stoßen: „Die Idee ist es, den Erziehern das Werkzeug zu geben, ein Thema zu lehren, von dem die Kinder ohnehin hören“, hieß es in dem Beitrag. Das Gespräch mit den Kindern über den Holocaust solle am Holocaustgedenktag – wenn in ganz Israel die Sirenen heulen – oder in zeitlicher Nähe dazu stattfinden und „Dinge vermeiden, die den Kindern Angst machen könnten“, berichtete der Autor. Boehms Satz hingegen – und bei dem einen alarmistischen Satz belässt er es – erweckt den Eindruck von emotionalem Kindesmissbrauch. Das soll offenbar ein weiterer Beleg für den von Boehm behaupteten „Holocaust-Messianismus“ sein: Schon im Kindergarten würden Israelis indoktriniert.

 

Finstere Spender

 

Yad Vashem ist für Boehm, so wörtlich: eine „Waschmaschine“ „rassistischer“ israelischer Politik. Er schreibt:

 

„Eine abnorme Form des Erinnerns hat die rassistische Gewalt israelischer Politiker normalisiert.“

 

In einer konfusen Assoziationskette versucht Boehm, Yad Vashem in die Nähe des deutschen Rechtsradikalismus zu rücken:

 

„Einstweilen sind noch keine AfD-Vertreter in Yad Vashem begrüßt worden, wenngleich es nach Orbans [amtierender ungarischer Ministerpräsident; S.F.] und Salvinis [von Juni 2018 bis September 2019 stellvertretender italienischer Ministerpräsident; S.F.] Besuchen keinen Grund mehr gibt, sie nicht einzuladen. Seit Jahren schließlich zieren israelische Flaggen Pegida-Demonstrationen.“

 

Wo ist die Logik? Ob Boehm glaubt, die israelischen Flaggen, die auf Pegida-Demonstrationen vereinzelt gesichtet wurden, seien von Geheimagenten Yad Vashems dorthin gebracht worden? Macht Boehm die Palästinensische Autonomiebehörde haftbar, wenn deutsche Neonazis in Dortmund unter dem Motto „Israel ist unser Unglück“ „Palästina“-Flaggen schwenken? Wohl kaum.

 

Über Sheldon Adelson, den dieses Jahr verstorbenen Immobilienunternehmer, Milliardär und Philanthropen, der als wichtiger Sponsor von Benjamin Netanjahu und Donald Trump bekannt war, schreibt Boehm, er sei „der wichtigste private Mäzen der Gedenkstätte“ Yad Vashem. Aha, follow the money! Und, was bedeutet das? Adelson, so Boehm,

 

„geht sicher recht in der Annahme, dass der Holocaust, wie sich die Israelis seiner erinnern, der Art von Politik nutzt, die er zu fördern versucht.“

 

Wenn Sheldon Adelson einer Holocaustgedenkstätte Geld spendete, dann kann Boehm sich das nicht anders erklären, als dass er damit wohl seine eigenen politischen Ziele verfolgt. Der wahre Hintergrund: Menucha und Simcha Farbstein, die Eltern von Miriam Adelson, der Witwe des verstorbenen Sheldon Adelson, flohen vor dem Holocaust aus Polen nach Palästina; Angehörige von Sheldon Adelsons Schwiegereltern wurden im Holocaust ermordet. Miriam Adelson sagte einmal:

 

„Als ich jung war, erfuhr ich, dass meine Mutter, Menucha Farbstein (geboren Zamelson), fast ihre gesamte Familie verloren hat. Mein Vater verlor ebenfalls geliebte Familienmitglieder. Ich wuchs auf mit dem Gefühl des Schmerzes meiner Eltern.“

 

Miriam Adelson ist eine traumatisierte Angehörige der Holocaust-Nachfolgegeneration. Dass sie und ihr Ehemann zu dessen Lebzeiten Millionen an Yad Vashem spendeten, ist für Boehm Indiz für finstere politische Ziele, ein Verdacht, den er dann mithilfe einer Kontaktschuldhypothese auf die Gedenkstätte selbst ausweitet. In seiner ideologischen Verblendung schreckt Boehm nicht vor den niedersten, infamsten Angriffen zurück.

 

Es scheint ihm unmöglich, überhaupt politische Argumente gegen den ihm verhassten jüdischen Staat vorzubringen oder jemanden zu kritisieren, ohne im selben Atemzug das Holocaust-Gedenken zu verunglimpfen. Bei fast jedem seiner politischen Gegner wittert Boehm eine Nähe zu dem von ihm gescholtenen „Holocaust-Messianismus“. Es war noch kein AfD-Funktionär in Yad Vashem? Dann wird bestimmt bald einer kommen. Adelson spendete Geld für Yad Vashem? Dann zog er offenbar politischen Profit daraus.

 

Sheldon Adelson gab übrigens zu seinen Lebzeiten auch viele Millionen für die Krebsforschung und eine jüdische Schule in Las Vegas. Und er kaufte zu Beginn der Corona-Pandemie zwei Millionen OP-Masken für Beschäftigte im Gesundheitswesen in New York und Nevada. Alles, weil es seiner „Art von Politik nutzt“ – so, wie angeblich die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem?

 

Man kann Boehm nur als einen Besessenen bezeichnen; er ist auf eine ähnliche Art – aber mit anderem Inhalt – besessen wie jene, die glauben, die amerikanische Pharmaindustrie oder Bill Gates hätten die Corona-Pandemie verursacht.

 

In Yad Vashem sieht Boehm die Schaltzentrale des Bösen. Was genau die Gedenkstätte Boehms Meinung nach tut, um Adelsons „Art von Politik“ zu nutzen, bleibt unklar. Nach Boehms Geschmack geht es in der Holocaust-Gedenkstätte wohl einfach zu sehr um den Holocaust. Das mag Boehm nicht. Sein Lebensthema sind Juden als Täter, ihre Schuld, etwa an der „Nakba“. Das „düstere Geheimnis“ des Zionismus sei, dass die Juden lange vor 1948 „gewaltsame Massenvertreibungen von Palästinensern“ geplant hätten, glaubt er.

 

Er hört hingegen nicht gern von Juden als Opfern – egal, ob es die jüdischen Opfer des arabischen Terrors im Mandatsgebiet Palästina sind, die Opfer von PLO und Hamas oder die Opfer Hitlers. Das Erinnern an den Holocaust stört ihn auch deshalb, weil er fürchtet, dass es von seinem Steckenpferd, der „Nakba“ ablenken könnte. Wo es ihm an Argumenten fehlt, eskaliert er stattdessen seine Behauptungen ins Absurde. Das Holocaust-Gedenken sei „in Israel zu einer Kraft geworden, die die Funktion und Stellung der Staatsbürgerschaft untergräbt, Rassismus normalisiert und eine Politik der Kompromisse verhindert“, schreibt er an einer Stelle.

 

Gab es in Israel vor 1961 kein Holocaustgedenken?

 

So, wie Boehm das Denken Theodor Herzls falsch wiedergibt und die historischen Tatsachen des arabisch-israelischen Kriegs von 1948 verfälscht, so verfälscht er auch die Geschichte des Holocaust-Gedenkens in Israel. „Da die Erinnerung“ an den Holocaust „so häufig missbraucht wurde“, so Boehm, lohne

 

„der Hinweis, dass Israel in den ersten dreizehn Jahren seines Bestehens so gut wie kein Interesse am Holocaust-Gedenken zeigte. Wenn überhaupt, dann war der Holocaust ein Teil der Geschichte, den der junge jüdische Staat lieber verdrängte. Mit anderen Worten: Allem Anschein zum Trotz besteht zwischen dem israelischen Selbstverständnis und der Erinnerung an den Holocaust überhaupt kein notwendiger Zusammenhang.“

 

Dass Boehm nicht die Existenz des privaten Gedenkens der Angehörigen der Opfer des Holocaust in Abrede stellen will, sondern sich in seiner Äußerung einzig auf das öffentliche Gedenken bezieht, setzen wir einmal zu seinen Gunsten voraus. Boehm bestreitet, dass es ein solches öffentliches Gedenken überhaupt gegeben habe. Diese Behauptung ist falsch. Einige Beispiele für das frühe öffentliche Gedenken der Shoah in Israel:

 

  • Der Kibbuz Yad Mordechai nordöstlich vom Gazastreifen. Der Name erinnert an den am 8. Mai 1943 beim Aufstand im Warschauer Ghetto gefallenen Anführer des Ghetto-Aufstands Mordechaj Anielewicz erinnert. Gegründet: 1943.
  • Schon 1947 gründete das Oberrabbinat im Mandatsgebiet Palästina ein Komitee, dessen Aufgabe es war, ein geeignetes Datum für ein jährlich stattfindendes öffentlichen Gedenkens zu finden.
  • Der Kibbuz Lochamei HaGetaot: Der Name des 1949 in Galiläa von Holocaust-Überlebenden gegründeten Kibbuz bedeutet: „Die Ghettokämpfer“.
  • Der erste Holocaust-Gedenktag wurde in Israel auf Anregung des Oberrabbinats am 28. Dezember 1949 begangen, im Martef HaShoa, auf Deutsch: Keller der Shoah, am Zionsberg in Jerusalem. In die Krypta eines jüdischen Friedhofs wurden an diesem Tag Asche und Gebeine Tausender Holocaustopfer aus dem KZ Flossenbürg gebracht, zusammen mit einer geschmückten Torah-Rolle. Das Rabbinat überwachte die Zeremonie und lud die Öffentlichkeit zu einer Nachtwache und Gebeten am nächsten Morgen ein. Im Radio wurde die Veranstaltung am Abend ab 21.30 Uhr mit einem Programm zum Holocaust begleitet. Der Martef HaShoah wurde zugleich Israels erstes Holocaustmuseum.
  • 1950 gab es unter Leitung des Oberrabbinats 70 Gedenkveranstaltungen in ganz Israel.
  • 1951 rief die Knesset den jährlichen Gedenktag Yom HaShoah ins Leben. Am 3. Mai 1951 fand die erste offizielle Gedenkveranstaltung statt, wiederum im Martef HaShoah; in Yad Mordechai wurde eine Bronzestatue von Mordechaj Anielewicz enthüllt
  • Der Wald der Märtyrer, der mit sechs Millionen Bäumen an die Opfer des Holocaust erinnert. Eingeweiht: 1951.
  • Yad Vashem selbst, geschaffen durch Beschluss der Knesset vom 19. August 1953. Im selben Jahr wurden die Schulen erstmals angewiesen, mit den Schülern über den Holocaust zu sprechen. Ab 1955 begann Yad Vashem mit der Dokumentation der Namen der Holocaustopfer.

 Boehm aber behauptet, Israel habe in den ersten dreizehn Jahren seines Bestehens „so gut wie kein Interesse am Holocaust-Gedenken“ gezeigt. Das ist typisch für seine Arbeitsweise: Er verdreht die Geschichte so, dass die von ihm erfundenen Fakten seine Argumentation stützen. Im nächsten Teil werden wir sehen, warum es für seine Argumentation wichtig ist, dass es vor 1961 kein Holocaust-Gedenken gegeben habe; auf diese falsche Behauptung stützt Boehm nämlich seine nächste Hypothese: dass das Gedenken an den Holocaust in Israel politisch motiviert sei.

 

 

Das Holocaust-Gedenken „mit der Wurzel ausreißen“

 

Omri Boehms obsessive Angriffe auf das Holocaust-Gedenken dienen einem einzigen Zweck: der Zerstörung Israels als jüdischem Staat den Weg zu ebnen.

 

Im vorangegangenen Teil haben wir uns mit Boehms Toben gegen die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem beschäftigt. Ferner haben wir anhand von Beispielen seine Behauptung widerlegt, „dass Israel in den ersten dreizehn Jahren seines Bestehens so gut wie kein Interesse am Holocaust-Gedenken“ gezeigt habe. In seinem Buch Israel – eine Utopie verknüpft Boehm diese Behauptung mit der These, dass die Beschäftigung mit dem Holocaust in Israel erst dann (und deshalb) begonnen habe, als (bzw. weil) Ben-Gurion 1961 gesehen habe, dass sich der Eichmann-Prozess in Jerusalem für politische Zwecke nutzen lasse. Die angeblich desinteressierte Haltung der israelischen Öffentlichkeit habe sich laut Boehm dann „mehr oder weniger über Nacht“ verändert:

 

„Die Gefangennahme Adolf Eichmanns 1960 und sein Gerichtsprozess im darauffolgenden Jahr dienten nicht in erster Linie dazu, den SS-Obersturmbannführer zur Rechenschaft zu ziehen, sondern dazu, den Holocaust schließlich doch in die jüdische Geschichte einzuschreiben. Und nicht nur einzuschreiben, sondern in den primären einigenden Grundsatz der nationalen israelischen Identität zu verwandeln und entsprechend zur Geltung zu bringen.“

 

Der Prozess sei „als eine Art Nationaltheater inszeniert“ worden, so Boehm,

 

„eine Zielsetzung, aus der Ben-Gurion auch keinen Hehl machte. Wie er der israelischen Tageszeitung Jedi’ot Acharonot sagte, ‚interessiert mich das Schicksal der Person Eichmann nicht im Geringsten. Was zählt, ist das Spektakel‘.“

 

Keinen Boehm-Zitat einfach glauben

 

Hat Ben-Gurion das wirklich gesagt – und wenn ja, was meinte er damit? Da man nichts von dem glauben darf, was Boehm schreibt – schon gar nicht, wenn es um Zitate von Persönlichkeiten aus der Geschichte des Zionismus geht –, bat ich den israelischen Historiker Moran Fararo, das Zitat zu prüfen. Fararo hat einen Master of Arts-Abschluss in Middle Eastern Studies der Hebräischen Universität Jerusalem und recherchiert beruflich historische Fakten für Dokumentarfilme und Fernsehserien. Die Ausgabe der Zeitung, aus der das Zitat stammt, fand Fararo im Jedi’ot-Acharonot-Archiv der Beit-Ariela-Shaar-Zion-Bücherei in Tel Aviv. Er übersetzt den ersten Teil des Zitats Ben-Gurions wie folgt:

 

 „Das Schicksal von Eichmann, der Person, hat überhaupt keine Bedeutung.“

 

 „Interessiert mich nicht im Geringsten“ – wie Boehm das Zitat wiedergibt – habe Ben-Gurion hingegen nicht gesagt. Der zweite Teil sei schwierig zu übersetzen, sagt Fararao. Wo laut Boehm von „Spektakel“ die Rede ist, stehe im hebräischen Original das Wort Hizayon. Fararo erklärt, dass der Begriff laut Wörterbuch mit Schauspiel, Anblick, Show; (blumiger) Traum, Vision übersetzt werden könne – oder tatsächlich auch mit Spektakel. Er werde aber im modernen Hebräisch kaum mehr verwendet und sei eher aus der Bibel bekannt: „Dort steht Hizayon immer in Zusammenhang mit Prophezeiungen oder, was in der Bibel das Gleiche ist, mit Träumen.“ Ich bitte Fararo, mir eine Stelle der Bibel zu nennen, wo der Begriff auftaucht, damit ich sie in einer deutschen Bibelübersetzung nachschlagen kann. Er nennt Sacharja 13, 4. In der Luther-Bibel lautet der Vers:

 

„Und es soll zu der Zeit geschehen, dass die Propheten in Schande dastehen, ein jeder wegen seiner Gesichte [Hizayon], die er weissagt. Und sie sollen nicht mehr einen härenen Mantel anziehen, um zu betrügen.“

 

In der Elberfelder Übersetzung steht:

 

„Und es wird geschehen an jenem Tag, da werden die Propheten sich schämen, jeder über seine Vision [Hizayon], dass er als Prophet aufgetreten ist, nie mehr werden sie einen härenen Mantel anlegen, um zu lügen.“

 

Was also meinte Ben-Gurion, als er sagte, es gehe beim Eichmann-Prozess um Hizayon? Meinte er ein„Spektakel“ – im Sinne einer bombastischen Unterhaltung –, oder eine von Gott gesandte Vision? Ersteres ist, wie für Boehm typisch, die böswillige Interpretation; Letzteres ist nicht plausibel bei jemandem, der so antireligiös war wie Ben-Gurion. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Der Historiker Moran Fararo erklärt:

 

„Die wichtigste Sache, die Ben-Gurion an dem Prozess interessierte, ist die moralische und historische Bedeutung des Verfahrens. Es musste etwas sein, dass Leute mit ihren eigenen Augen ansehen können, damit die Jugend Israels etwa über den Holocaust lernen wird. In Ben-Gurions Vision des Prozesses war Eichmann ein Werkzeug. ‚Hizayon‘ ist eine erstaunliche Sache, sie kann gut oder schlecht sein, abhängig vom Zusammenhang; doch der wichtigste Aspekt ist, dass es ein erstaunlicher Anblick ist, etwas, das man mit seinen eigenen Augen sieht.“

 

Freilich sieht man auch ein Theaterstück mit seinen eigenen Augen; aber indem Boehm behauptet, es sei Ben-Gurion um ein Spektakel gegangen und er den Eichmann-Prozess als ein Theater bezeichnet, wählt er absichtlich eine Interpretation, die ein schlechtes Licht wirft auf Ben-Gurion, auf die Staatsanwälte, Richter und Zeugen im Eichmann-Prozess – und nicht zuletzt auf die israelischen Juden, die sich angeblich kaum für den Holocaust interessiert hätten, bis Ben-Gurion ihnen dieses „Spektakel“ bzw. „Theater“ vorgesetzt habe. Halten wir fest:

 

  • Boehms Behauptung, „dass Israel in den ersten dreizehn Jahren seines Bestehens so gut wie kein Interesse am Holocaust-Gedenken zeigte“ ist falsch.
  • Boehm übersetzt und interpretiert Ben-Gurions Äußerung über die Bedeutung des Hizayon absichtlich so, dass sie eine eindeutige Tendenz bekommt, die sie im Original nicht hat.

 Beides zusammen soll den Eindruck erwecken, als habe das Holocaust-Gedenken in Israel seine Ursprünge in dem Kalkül von Ben-Gurion, der im Zuge des Eichmann-Prozesses erkannt habe, dass sich daraus politisches Kapital schlagen ließe – indem man den Holocaust mittels eines „Spektakels“ zum„primären einigenden Grundsatz der nationalen israelischen Identität … verwandel[t].“

 

„Pilgerfahrten zu Konzentrationslagern“

 

Andere angebliche Belege, die Boehm anführt, um zu zeigen, dass sich die Juden in Israel nur auf eine höchst oberflächliche – und interessengeleitete – Weise mit dem Holocaust befassten, sind noch trivialer. Als einen Beleg dafür, dass den Israelis der Holocaust lange Zeit egal gewesen sei, führt Boehm etwa „ein israelisches Lehrbuch zur jüdischen Geschichte von 1948“ an, in dem der Holocaust „auf einer Seite“ behandelt worden sei, die Napoleonischen Kriege hingegen auf „zehn“. Erstaunlich sollte man finden, dass im Jahr 1948 (!), als im Mandatsgebiet Palästina bzw. dem Staat Israel 366 Tage lang Krieg herrschte, überhaupt ein Verlag es auf sich nahm, in ein – wahrscheinlich damals bereits in Schulen verwendetes – Schulbuch eine Seite zum Holocaust einzufügen, was für den Autor, der diesen Text schreiben musste, eine sehr schwierige und emotional belastende Aufgabe gewesen sein muss. Boehm hat dafür nur Missbilligung übrig.

 

Eine deutlich antisemitische Tendenz bekommt Boehms Hass auf das Holocaust-Gedenken, wo er dieses als „goldenes Kalb“ bezeichnet. Das goldene Kalb war bekanntlich laut der Bibel ein Götzenbildnis, das Moses’ Bruder Aaron und die Israeliten aus Ohrringen schmiedeten, während Moses auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote in Empfang nahm. Es steht in der Bibel für den Abfall von Gott und die Hinwendung zum Götzendienst. Tatsächlich spricht Boehm in diesem Zusammenhang davon, dass das Gedenken der Shoah von „Gedächtnisagenten“ zu einer „Götzenverehrung“ „aufgeblasen“ werde. Er schreibt:

 

„Als eine angeblich heilige Pflicht ist das Holocaust-Gedenken zu einem goldenen Kalb geworden – anders lassen sich die rituellen Pilgerfahrten israelischer Gymnasiasten zu Konzentrationslagern oder die Flugmanöver von F-15-Kampfjets der israelischen Luftwaffe über Auschwitz nicht beschreiben.“

 

Die Flugmanöver über Auschwitz? Boehm meint den kurzen Überflug dreier israelischer Piloten über die Gedenkstätte Auschwitz – für den Bruchteil einer Sekunde – im Jahr 2003, also vor fast 20 Jahren. Man kann die Idee zum damaligen Flug gut oder schlecht finden oder man kann neutral sein – in jedem Fall war er eine einmalige Sache. Es waren gewiss keine „Manöver“ und der Flug fand zu einem Zeitpunkt statt, als viele der heutigen israelischen Rekruten noch nicht einmal geboren waren. Boehm aber erweckt den Eindruck, es flögen regelmäßig israelische F-15-Jets „Manöver“ über Auschwitz. Denn er hat so wenige Belege für seine Hypothesen, dass er alles aus ihnen herausquetschen muss.

 

Boehms F-15-Beispiel ist nur läppisch. Gravierender ist seine Diffamierung der Gedenkstättenbesuche von Schulklassen als „rituelle Pilgerfahrten“. Vielen jüdischen und nichtjüdischen Schülern sind solche Besuche wertvoll und wichtig. Als ich 2019 für Mena Watch über den Schüleraustausch der Freien Christlichen Schule Ostfriesland in Moormerland im Kreis Leer berichtete, erzählte mir der pensionierte Lehrer Ingo Carl, dass ein Programmpunkt beim Besuch der israelischen Schüler in Deutschland stets der Besuch einer Holocaust-Gedenkstätte sei, etwa des ehemaligen Konzentrationslager Esterwegen. Auf Anregung der israelischen Seite werde dort auf eine besondere Weise gedacht: „Die Schüler bringen Kerzen und Gedichte mit und veranstalten eine gemeinsame Gedenkzeremonie“, so Carl. „Das schweißt sie zusammen. Die liegen sich weinend in den Armen und man steht in positiv betroffener Sprachlosigkeit daneben.“

 

Menschen gehen auf verschiedene Arten mit der Shoah und dem Gedenken um. Manche Menschen entscheiden für sich, dass sie keine KZ-Gedenkstätte besuchen wollen. Das ist legitim. Aber nur, weil Boehm das Gedenken an den Holocaust abstoßend findet, sollte er seine eigene Haltung nicht zum Maßstab für andere machen, nicht die Aufrichtigkeit ihrer Trauer und ihres Gedenkens in Frage stellen, sie verunglimpfen und verhöhnen.

 

Warum macht Omri Boehm das?

 

Es stellt sich die Frage, warum er das macht. Die Antwort liefert er selbst. Boehm hält nicht den Zionismus – den Wunsch des jüdischen Volkes nach einem selbstbestimmten Leben in seiner alten Heimat Eretz Israel – für das Fundament des Staates Israel; das wahre Fundament sei das Holocaust-Gedenken, glaubt er. Die Idee von Israel als dem Staat der Juden sei „holocaustbasiert“. Diese Idee müsse zugunsten der von Boehm angestrebten binationalen „Republik Haifa“ aufgegeben werden. Doch das Gedenken der Shoah – der „Holocaust-Messianismus“, wie Boehm es nennt – sei die „wesenhafte Verbindung zwischen Zionismus und souveränem jüdischen Staat“. Darum müsse man es auslöschen. Um „die kompromisslose gemeinsame jüdisch-palästinensische Föderation aufzubauen“, müsse der Holocaust „mit der Wurzel ausgerissen“ und „vergessen“ werden. Boehm hasst also das Holocaust-Gedenken und Holocaust-Gedenkstätten, weil er Israel hasst – und weil er dem Wahn anhängt, der Holocaust und das Gedenken an ihn seien Geheimwaffen israelischer Politik.

 

 

Literatur:

Boehm, Omri: Israel – eine Utopie, Berlin 2020.

Karsh, Efraim: Palestine Betrayed, New Haven und London 2010.

Khaled, Leila: Mein Volk soll leben. Autobiographie der palästinensischen Revolutionärin, München 1974.

Morris, Benny: 1948 – A History of the First Arab-Israeli War, New Haven und London 2009.

 

Stefan Frank, geboren 1976 in Bonn, lebt mit seiner Familie in Norddeutschland. Der unabhängige Publizist schreibt über Israel, den Nahen Osten und Antisemitismus, u.a. für Mena-Watch, Audiatur-online, Achgut.com und die Jüdische Rundschau.

 

 

 

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