Jom Kippur

 

Jom Kippur (hebräisch יוֹם כִּפּוּר, auch Jom ha-Kippurim יוֹם הכִּפּוּרִים, wörtlich übersetzt ‚Tag der Sühne‘), deutsch zumeist Versöhnungstag, ist der höchste jüdische Feiertag. Er wird im Herbst im September oder Oktober am 10. Tischri, im siebten Monat des traditionellen bzw. im ersten Monat des bürgerlichen jüdischen Kalenders, als Fasttag begangen. Zusammen mit dem zehn Tage davor stattfindenden zweitägigen Neujahrsfest Rosch HaSchana bildet er die Hohen Feiertage des Judentums und den Höhepunkt und Abschluss der zehn Tage der Reue und Umkehr. Jom Kippur wird von einer Mehrheit der Juden, auch nicht religiösen, in mehr oder weniger strikter Form eingehalten.

 

 

Geschichte

 

Der in der Bibel Jom ha-Kippurim und Schabbat Schabbaton genannte Versöhnungstag geht gemäß moderner Bibelkritik auf die Zeit nach dem Babylonischen Exil zurück, trotz Parallelen zu hethitischen Ritualen, die auf ein höheres Alter hinweisen, und war bereits in der früheren Zeit des zweiten Tempels der bedeutendste Feiertag der Israeliten. Die umfangreichste Darstellung des Feiertages findet sich im 3. Buch Mose: „Am zehnten Tage des siebenten Monats sollt ihr fasten und keine Arbeit tun, weder ein Einheimischer noch ein Fremdling unter euch. Denn an diesem Tage geschieht eure Entsühnung, dass ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn.“

 

 

Zeit des Zweiten Tempels

 

Die zur Zeit des Zweiten Tempels am Versöhnungstag praktizierten Tempelzeremonien könnten sich aus einer bereits früher durchgeführten Zeremonie zur Reinigung des Tempels entwickelt haben, die dann nach dem Babylonischen Exil ihre in der Bibel beschriebene Form erhielten und sich zum jährlich am zehnten Tag des siebten Monats gefeierten Versöhnungstag entwickelten. Hinweise darauf, dass der Feiertag erst in der nachexilischen Zeit entstanden ist, sind das Fehlen in den Aufzählungen der Feiertage im 2. und 5. Buch Mose und in den Büchern Esra und Nehemia, die Bezeichnung Aarons als Hohepriester, die nachexilisch ist, sowie die Kleidervorschrift für den Hohepriester, „leinene Beinkleider“ zu tragen. Hosen waren eine persische Erfindung, die den Israeliten vor dem 6. Jahrhundert v. Chr. kaum bekannt gewesen sein dürfte.

 

Im Jerusalemer Tempel wurden an diesem Tag besondere Opfer dargebracht, es war der einzige Tag, an dem der Hohepriester – allein und streng abgeschirmt – das Allerheiligste im Tempel betreten durfte, um stellvertretend für das Volk die Vergebung der Sünden zu empfangen. Dort besprengte er die Bundeslade mit dem Blut von zwei Opfertieren. Ebenso wurde über zwei Böcken das Los geworfen. Der eine wurde geopfert zur Reinigung des Tempels, der andere lebend als Sündenbock zu Asasel in die Wüste gejagt, nachdem ihm der Hohepriester die Sünden des Volkes auferlegt hatte.

 

 

Der Sündenbock

 

Laut Gesenius, Hoffmann und Oxford Hebrew Dictionary ist Asasel ein seltenes hebräisches Nebenwort, das „Entlassung“ oder „gänzliche Entfernung“ bedeutet. Es ist ein alter Ausdruck für die völlige Beseitigung von Sünde und Schuld der Gemeinschaft, die durch Fortsendung des Bockes in die Wildnis symbolisiert wurde. Zur Erklärung der Bedeutung dieses Wortes sind verschiedene Theorien aufgestellt worden. Im Talmud wird Asasel mit „steiles Gebirge“ übersetzt und auf den Felsen in der Wüste bezogen, von dem in späterer Zeit das Tier herabgestürzt wurde. Schon frühzeitig wurde jedoch das Wort Asasel personifiziert, ebenso wie die hebräischen Worte für Unterwelt (Scheol) und Zerstörung (Abbadon). Laut dem apokryphen Buch Henoch ist Asasel oder Asalsel der vornehmste unter den gefallenen Engeln, die die Menschenkinder die Sünde lehrten. Gemäß dieser Interpretation scheint die Idee der Zeremonie darin zu liegen, die Sünden an den bösen Geist zurückzusenden, dessen Einfluss sie ihr Entstehen verdankten. Ähnliche Sühneriten haben sich auch in anderen Völkern erhalten. Moderne Bibelkritiker ordnen die obigen Passagen dem Priesterkodex zu und datieren sie auf ein nachexilisches Datum; sie sehen die Entsendung des Sündenbocks zu Asasel als Einbeziehung einer früher bestehenden Zeremonie.

 

Einige konservative Bibelexegeten weisen darauf hin, dass der Platz, zu dem der Bock geschickt wird, die „Wildnis“ außerhalb des bewohnten Gebiets ist (und nicht eine lebensfeindliche Wüste), und dass Asasel weder ein Orts- noch ein Personenname ist. Nach ihrer Meinung wurde der „Bock der Entfernung“ einfach in die Freiheit „entlassen“.

 

 

Kapparot

 

Ein von ultraorthodoxen Juden noch heute praktiziertes Ritual am Vortag des Versöhnungstages ist die rituelle Schlachtung eines Huhnes als Sühneopfer (hebr. kaparot), das weder in der Thora noch im Talmud zu finden ist. Dazu wird ein weißes, gesundes, lebendes Huhn – ein Hahn für einen Mann, eine Henne für eine Frau – genommen. Für eine schwangere Frau nimmt man einen Hahn und eine Henne, da das ungeborene Kind ein Knabe sein kann. Mit einem Gebet werden dann die persönlichen Sünden auf das Tier übertragen. Das Huhn wird dann drei Mal über den Kopf geschwungen, wobei jedes Mal gesprochen wird: „Das ist mein Stellvertreter. Das ist mein Auslöser. Das ist meine Sühne. Dieses Huhn geht in den Tod, ich aber gehe einem guten Leben und Frieden entgegen.“ Danach wird das Tier mit einem Schnitt durch die Kehle getötet. Nach dem Ausbluten erhalten Arme das Huhn zum Verzehr.

 

 

Halacha

 

Auch nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jüdischen Krieg (70) wurde der Versöhnungstag beibehalten. „Auch ohne dargebrachte Opfer bewirkt der Tag an sich Versöhnung“ (Midrasch Sifra, Emor, XIV). Nach der jüdischen Lehre ist der Tag nutzlos, solange er nicht von Reue begleitet ist. Das reuevolle Eingeständnis von Sünden war eine Bedingung zur Sühne. „Der Versöhnungstag befreit von Sünden gegen Gott, jedoch von Sünden gegen den Nächsten erst, nachdem die geschädigte Person um Verzeihung gebeten worden ist“ (Talmud Joma VIII, 9). Daher stammt der Brauch, am Vorabend des Fasttages alle Streitigkeiten beizulegen. Am Versöhnungstag erhalten auch die Seelen der Toten Vergebung. Im Gebet Jiskor wird in der Synagoge der Verstorbenen gedacht.

 

Gemäß talmudischer Überlieferung öffnet Gott am ersten Tag des Jahres drei Bücher: eines für die ganz Schlechten, ein zweites für die ganz Frommen, das dritte für die Durchschnittsmenschen. Das Schicksal der ganz Schlechten und der ganz Frommen wird sogleich entschieden; die Entscheidung über die Durchschnittsmenschen wird jedoch bis Jom Kippur aufgehoben, an dem das Urteil für alle gefällt wird. Im Gebet Unetaneh tokef, von dem sich Leonard Cohen für sein Lied Who by Fire inspirieren ließ, heißt es:

 

„Am Neujahrstag werden sie eingeschrieben und am Versöhnungstag besiegelt, wie viele dahinscheiden sollen und wie viele geboren werden, wer leben und wer sterben soll, wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit, wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Schwert und wer durch Hunger, wer durch Sturm und wer durch Seuche, wer Ruhe haben wird und wer Unruhe, wer Rast findet und wer umherirrt, wer frei von Sorgen und wer voll Schmerzen, wer hoch und wer niedrig, wer reich und wer arm sein soll. Doch Umkehr, Gebet und Wohltun wenden das böse Verhängnis ab.“

 

Gemäß Maimonides „hängt alles davon ab, ob die Verdienste eines Menschen die von ihm begangenen Fehler überwiegen“. Deshalb sind zahlreiche gute Taten vor dem Urteil am Versöhnungstag angebracht. Wer von Gott als wertvoll erachtet wird, wird ins Buch des Lebens eingeschrieben, und so wird im Gebet gesagt: „Schreibe uns ins Buch des Lebens ein.“ Auch begrüßt man sich mit den Worten: „Mögest du (im Buch des Lebens) für ein glückliches Jahr eingeschrieben werden.“

 

 

Jom Kippur heute

 

Jom Kippur ist der heiligste und feierlichste Tag des jüdischen Jahres. Für Frauen ab 12 und Männer ab 13 Jahren ist er ein Fasttag, an dem 25 Stunden gefastet wird, d.h. von kurz vor Sonnenuntergang des Vortags bis zum nächsten Sonnenuntergang wird weder flüssige noch feste Nahrung eingenommen. Jom Kippur ist der einzige Fasttag, der auch an einem Sabbat begangen wird – die anderen Fasttage werden verschoben, sollten sie auf einen Schabbat fallen. Über die an Schabbatot und allen Feiertagen nicht erlaubten Tätigkeiten hinaus – und im Gegensatz zu diesen – kommt an Jom Kippur das Verbot der sexuellen Betätigung hinzu. Streng religiöse Juden tragen an Jom Kippur keine Lederschuhe und kleiden sich in Weiß. Jom Kippur wird auch heute von einer Mehrheit der Juden, auch nicht religiösen, in mehr oder weniger strikter Form eingehalten.

 

In Israel sind an diesem Tag alle Restaurants und Cafés geschlossen (ausgenommen arabische). Sämtliches öffentliche Leben steht still. Alle Grenzübergänge (auch der Flughafen) sind geschlossen. Obwohl es kein behördliches Fahrverbot gibt, sind die Straßen fast vollständig autofrei, nur Krankenwagen, Feuerwehr und Polizei verkehren. Dafür sind viele Radfahrer und Inline-Skater unterwegs. Es gilt als unhöflich, an diesem Tag in der Öffentlichkeit zu essen oder Musik zu hören. Es gibt weder Radio- noch Fernsehprogramme. Dass Israel an diesem Tag quasi gelähmt und extrem verwundbar war, nutzten Syrien und Ägypten im Oktober 1973 aus und begannen den Jom-Kippur-Krieg. Aufgrund dieser Erfahrung wird die militärische Einsatzfähigkeit an Jom Kippur voll aufrechterhalten; es gibt „stilles“ Radio und Fernsehen, die kein Programm ausstrahlen, sondern nur im Notfall Mitteilungen senden.

 

 

Gottesdienst

 

Der ernste Charakter, der diesen Tag prägt, hat sich bis heute erhalten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen dauert der Gottesdienst in den jüdischen Gemeinden aller Richtungen beinahe den ganzen Tag.

 

Das Abendgebet beginnt mit dem Gebet „Kol Nidre“, das vor Sonnenuntergang gelesen wird. Im Zentrum der Liturgie steht das Sündenbekenntnis, das in der jüdischen Tradition im Unterschied zur Beichte in christlichen Kirchen stets in der kollektiven Wir-Form abgelegt wird und die Bitten um Vergebung, die hebräisch Selichot genannt werden. „Denn wir sind nicht frechen Angesichtes und hartnäckig, vor dir zu sagen, wir seien Gerechte und hätten nicht gesündigt, in Wahrheit haben wir gesündigt.“

 

Die traditionellen Melodien und Klagegesänge drücken gleichermaßen die Unsicherheit des einzelnen Menschen angesichts eines ungewissen Schicksals aus wie auch die kollektive Erinnerung an vergangene Größe. Am Versöhnungstag suchen Juden die ausschließliche Beschäftigung mit geistigen Dingen. In der Haftara des Morgengottesdienstes wird ein Abschnitt aus dem Buch Jesaja vorgelesen, in dem der biblische Prophet die Bedeutung des echten Fastens erläutert. „Das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke der Unterdrückung zu lösen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen. Wenn du einen Nackten siehst, bekleide ihn, und dem, der deines Fleisches ist, entziehe dich nicht. Dann wird wie die Morgenröte dein Licht anbrechen und deine Heilung rasch aufsprießen, deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen und die Herrlichkeit des Ewigen wird dich aufnehmen.“ Eine weitere Besonderheit des Versöhnungstages ist das Gebet Neïlah, worin der Abschluss des Tages thematisiert wird. Es wird feierlich und kraftvoll gesprochen, während der Thoraschrein geöffnet bleibt. Der endgültige Abschluss von Jom Kippur wird mit dem Schofar bekanntgegeben.

 

 

Jom Kippur in der Literatur

 

In der jüdischen Literatur spielt Jom Kippur eine große Rolle, so beispielsweise bei dem jiddischen Autor Scholem Alejchem. Franz Kafkas Kurztext Vor dem Gesetz, den er selbst als Legende bezeichnete, kann als Variation einer talmudischen Parabel gedeutet werden.

 

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