Ein Gastbeitrag von Tal Leder
Als junger Mensch musste ‚Mule‘ (Shmulik) Feingold mit ansehen, wie seine gesamte Familie ermordet wurde. Mit großem Überlebenswillen und besessen von dem Gedanken sich an den Deutschen und deren Kollaborateuren zu rächen, überlebte er den Holocaust und machte dabei zu seiner eigenen Überraschung eine erfreuliche Entdeckung.
Am 08. Mai 2018 werden es 73 Jahre sein als der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. In Asien werden sie diesen Tag erst am 02. September gedenken, denn erst an diesem Tag kapitulierte Japan, welches mit Nazi- Deutschland verbündet war. Nachdem die USA die Atombomben auf Hiroshima- und Nagasaki abwarfen, wurde auch das Kaiserreich im Fernen Osten in die Knie gezwungen.
Hitler und seine Schergen planten ein Großdeutsches Reich. In ihrer kranken Fantasie sollte die sogenannte „arische Rasse“ nach absoluter Weltherrschaft streben und dafür wurde ein brutaler Vernichtungskrieg geführt. Schreckliche Verbrechen passierten damals im Namen der Menschheit, mit über 60 Millionen Toten weltweit. Davon waren 40 Millionen Zivilisten. Große Teile Europas waren verwüstet.
Mit dem Holocaust-, oder besser Schoah, wie es im hebräischen für „Vernichtung“ heißt, wurde ein noch nie da gewesener industrieller Massenmord von Nazi- Deutschland und seinen willigen Helfern betrieben. Die jüdische „Rasse“ wie es schon in Hitlers „Mein Kampf“ stand, sollte ein für alle Mal vernichtet werden und auf der berüchtigten „Wannseekonferenz“ vom 20. Januar 1942, wurde die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen.
Unzählige Einzelschicksale wurden damals geschrieben. Viele sind erzählt worden. Manche bleiben aber für immer unausgesprochen.
Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 01. September 1939 begann nicht nur der Zweite Weltkrieg, es sollte auch das Ende des polnischen Judentums besiegeln. Eine Kultur, die ungefähr seit dem frühen 10. Jahrhundert dort ansässig war. Von den über 3,3 Millionen Juden, die bis zum Ausbruch der Kampfhandlungen in Polen lebten, wurden ca. 90 % umgebracht.
Wechselvolles Schicksal
Zu diesen Opfern zählte auch die gesamte Familie von ‚Mule‘ (Shmulik) Feingold, der aus Bialystok stammte. Dort wurde er 1916 in eine sehr religiöse Familie geboren. Durch seinen Vater, der ein bekannter Rabbiner und Kabbalist war, genoss er eine sehr traditionelle jüdische Erziehung. Trotzdem besuchte er ein hebräisches Gymnasium und interessierte sich vor allem für Geschichte und Philosophie. Ab 1936 studierte er dann auch diese Fächer an der Universität von Warschau und wollte irgendwann einmal als Professor in diesem Bereich arbeiten. Während seiner Studienzeit wurde er Mitglied der linkssozialistischen Jugendbewegung „HaShomer HaZa’ir (der junge Wächter) in Polen.
Die Juden Bialystoks erlitten im Zweiten Weltkrieg ein wechselvolles Schicksal. Bei Ausbruch des Krieges stellten sie mit 46.000 Menschen die Hälfte der Bevölkerung. Bialystok wurde am 15. September 1939 von deutschen Truppen erobert und eine Woche später an die Sowjetunion abgetreten. Nur fünf Tage nach Ausbruch des deutsch- sowjetischen Krieges wurde die Stadt am 27. Juni 1941 – welches in der jüdischen Gemeinde als „Roter Freitag“ bekannt wurde – abermals und diesmal für 21 lange Monate besetzt. Mit den Truppen kamen auch Kommandos der Einsatzgruppen und richteten sofort unter den Juden ein Blutbad an.
Das deutsche Polizeibataillon 309 unter Major Ernst Weis versammelte sich an der großen Synagoge im jüdischen Viertel und trieb die Einwohner in die Synagoge, um sie anschließend in Brand zu setzen. Mindestens 700 Menschen verbrannten bei lebendigem Leib. Darunter auch 27 Mitglieder von Mule’s Familie, welches er und sein kleiner Bruder ‚Shlojme (Salomon)‘ mit ansehen musste. Seine Mutter und Schwester wurden vorher noch von mehreren SS-Offizieren vor seinen Augen vergewaltigt.
Insgesamt kamen in den ersten zwei Wochen der deutschen Besatzung 4.000 jüdische Einwohner durch Übergriffe oder Massenerschießungen unter anderem auf direkten Befehl von SS-Führer Himmler ums Leben.
Widerstand
In das am 1. August 1941 eingerichtete Ghetto wurden Mule und Shlojme mit weiteren 50.000 Juden aus den umliegenden Gemeinden eingepfercht. In den dort eingerichteten Fabriken mussten beide im Textilbereich unter schwersten Bedingungen arbeiten. Sie schworen sich, sich eines Tages bei ihren Peinigern zu rächen und planten mit vielen anderen den Ausbruch, um sich Partisanengruppen im Wald anzuschließen. Noch aus der Vorkriegszeit gab es eine Reihe von politischen Gruppierungen, die unter der jüdischen Bevölkerung eine Anhängerschaft besaßen, wie Bundisten, Kommunisten, Zionisten, usw. Die Diskussionen drehten sich von Anfang an vor allem um die Frage, ob man im Ghetto oder bei den Partisanen Widerstand leisten solle.
Die Feinberg-Brüder zählten zu den Gründungsmitgliedern der Widerstandsorganisation, „Antifaschistes Bialystok,“ unter der Führung der sehr charismatischen Chaika Grossman, welche später Vizepräsidentin der Knesset in Jerusalem werden sollte. Im Laufe der nächsten Monate organisierten sich diese Gruppen und schmuggelten Waffen und Munition in das Ghetto.
Während der landesweiten “Aktion Reinhard” fand im Februar 1943 die erste Welle von Massendeportationen in das Vernichtungslager Treblinka statt. Als am 15. August 1943 das Schicksal der Juden von Bialystok besiegelt war, umstellten starke, mit Kanonen ausgerüstete Kräfte der Waffen-SS sowie Kollaborateure aus Weißrussland, Lettland und Ukraine das Ghetto, in welchem noch ungefähr 30.000 Juden lebten. Es hieß, das sich die Juden zur freiwilligen Umsiedlung, angeblich nach Lublin, stellen sollten.
Als sich am Morgen eine Menge von Juden auf dem Sammelplatz einfand, bezog eine Gruppe von bis zu 500 Widerstandskämpfer die vorher bestimmten Positionen und eröffneten, ausgestattet mit Maschinengewehren und Hunderten von Pistolen sowie hausgemachten Molotowcocktails, den ungleichen Kampf. Mule und Shlojme konnten gleich zu Beginn ein deutsches Artilleriegeschütz ausschalten. Der Plan war, eine Bresche in den Ghettozaun zu schlagen, durch den die Bewohner in den Wald entkommen konnten.
Die Kämpfe dauerten fünf Tage an, vom 16. bis zum 20. August 1943, wobei die Aufständischen große Verluste erlitten. Doch auch viele Nazis und ihre Helfer waren unter den Toten. Die Deutschen mussten sogar Panzer und Panzerspähwagen einsetzen, um den Widerstand zu brechen. Shlojme gehörte zu den Ersten, die es über den Zaun schafften. Gerade als Mule auch darüber kletterte, musste er mit ansehen, wie ein verletzter deutscher SS-Offizier wieder aufstand und seinen kleiner Bruder von hinten, aus zwei Metern Abstand, in den Kopf schoss. Mit einem Messer in der Hand sprang er auf den Deutschen und stach wie ein wildes Tier auf sein Gesicht, Kopf und Augen. Viele Jahre später erzählte er, dass er von diesem Moment an, bis zum Ende des Krieges, die Menschlichkeit verlor und von Hass besessen war. Auch sollte der Drang nach Rache bis zur Niederlage Nazi-Deutschlands ein Großteil seines Lebens bestimmen.
Mule gehörte zu den ungefähr 150 überlebenden Kämpfer, die aus dem Ghetto fliehen konnten und sich zunächst der polnischen Partisanengruppe „Volojs” (Vorwärts)und kurze Zeit später der Widerstandsgruppe um Abba Kovner, der nach dem Krieg ein berühmter israelischer Dichter und Schriftsteller wurde, anschließen.
Diese „Vereinigten Partisanen Organisation (jiddisch: „Fareynikte Partizaner Organizatsye“, oder auch FPO), war eine von vier überwiegend jüdischen Gruppen, die unter dem Kommando der von den Sowjets geführten Partisanen operierten und u. a. von Kovner im Ghetto von Wilna gegründet wurde. Sie organisierte während des Zweiten Weltkriegs den bewaffneten Widerstand gegen die Nazis.
In den Wäldern zwischen Polen und Litauen wurde Mule von Abba Kovner zum Kommandeur einer kleinen Gruppe innerhalb der FPO ernannt, die sich auch „Nokmim“ (hebräisch: „die Rächer“) nannte und diese führte sehr viele Sabotage- und Guerillaangriffe gegen die Deutschen und ihre lokalen Kollaborateure aus. Dabei gingen sie äusserst brutal vor und vor allem Mule kannte keine Gnade. Jeder in der Gruppe hatte den Befehl, alle „Judenmörder“ zu töten. Niemand sollte davon kommen. Dabei enthauptete er jedes Mal mehrere SS-Offiziere und steckte die Köpfe auf Pfähle als Warnung.
Mein Name ist Gitalle, die Gute
Als die „Nokmim“ einmal im Frühjahr 1944 ein deutsches Bataillon überfielen und töteten, welche einige Stunden vorher ein ganzes Dorf – als kollektive Bestrafung um die Moral der Partisanen zu brechen – samt seiner hauptsächlich jüdischen Bevölkerung auslöschten, sah sich Mule mit großem Entsetzen den niedergebrannten kleinen Ort an. Plötzlich schien es ihm als ob er einige Hilfeschreie vernahm. Er folgte den Rufen und bemerkte einen kleinen Brunnen. Als er hineinsah, entdeckte er ein kleines jüdisches Mädchen. Als er sie auf Jiddisch ansprach, antwortete sie ihm sofort: „Mein Name ist ‚Gitalle (jiddisch: die Gute)‘ und ich bin 11 Jahre alt. Als die Deutschen und ihre polnischen Verbündeten kamen, versteckte mich meine Mutter in den Brunnen. Danach hörte ich nur noch Schüsse und Schreie. Als es plötzlich ganz ruhig wurde, vernahm ich den Geruch von Feuer und verbranntem Fleisch.“
Mule wusste zunächst nicht, was er machen sollte. Das kleine Mädchen zu seiner Kampftruppe zu bringen wäre für alle zu gefährlich gewesen. Trotzdem entschloss er sich ihr zu helfen. Er befahl ihr sich für eine Zeit in den Brunnen zu verstecken, da sie alleine im Wald nicht weit kommen würde. Außerdem wimmelte es dort nur so von Feinden. Auch den Wölfen wäre sie ein leichtes Opfer gewesen. Er versprach ihr, mehrmals die Woche, so oft es möglich wäre, mit Essen und Verpflegung vorbei zu kommen, bis sich die Lage in der Umgebung verbessern würde.
Und Mule hielt sein Versprechen. Neben den Kampfhandlungen suchte er 3- 4 Mal die Woche den Brunnen auf, der auch nicht so weit vom Stammlager der Partisanen entfernt war. Jedes Mal wenn er Gitalle besuchte, hatte er genug zu essen und trinken für sie dabei und erbeutete auch einige warme Decken und Kleider, die er ihr brachte.
Bis zur Befreiung von Vilnius und seiner Umgebung durch die Sowjetarmee im Juli 1944 musste sich Gitalle über 4 Monate im Brunnen verstecken und wurde so lange von Mule versorgt.
Auswanderung ins Heilige Land
Als der Krieg zu Ende war, wollte Gitalle bei Mule bleiben. Er sollte sie als seine Tochter adoptieren, was er dann auch tat. Als er in das völlig zerstörte Bialystok wieder kam, konnte er seine einst so geliebte Stadt nicht mehr wiedererkennen. Zum ersten Mal nach langer Zeit kamen ihm die Tränen und erst recht als er seine Jugendliebe ‚Esther‘ wiedersah. Sie und ihre gesamte Familie waren nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden und Esther kam als einzige Überlebende zurück.
Sie spürten, dass obwohl der Krieg zu Ende war, der Antisemitismus in Polen weiter lebte. Sie entschlossen sich, zusammen mit Gitalle für immer zusammenzubleiben und nach Palästina auszuwandern.
Als Partisane hatte er weiterhin gute Kontakte zu Chaika Grossmann und den Kämpfern der „Jüdischen Brigade“ aus Palästina, die als komplett jüdische Einheit in der 8. Britischen Armee, vor allem in Norditalien gegen die Deutschen kämpfte und nach dem Krieg vielen Holocaustüberlebenden bei der illegalen Auswanderung ins Heilige Land halfen.
So dauerte es nicht lange, bis Mule, Esther und Gitalle nach Italien eintrafen und kurze Zeit später mit dem Schiff im März 1946 in Haifa ankamen.
Zunächst wohnten sie einige Monate in einem Kibbuz am See Genezareth, bis sie sich entschlossen nach Tel Aviv zu ziehen. Dort heirateten Mule und Esther und adoptieren gleich danach Gitalle, die sich jetzt „Tova (hebräisch für ‚die Gute‘)“ nannte, ganz offiziell. Selber bekamen sie noch eine Tochter, der sie den Namen Liora gaben und einen Sohn Shlomo (benannt nach Mule’s getöteten Bruder).
Nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948, wo Mule durch seine Zeit bei den Partisanen wichtige Erfahrung in die erst neu gegründete jüdische Armee einbringen konnte, kämpfte er an vorderster Front. Nach dem Krieg gründete er ein Textilunternehmen und wurde sehr wohlhabend. Die Ausbildung seiner Kinder war ihm wichtig und so finanzierte er u. a. das Medizinstudium von Tova, die noch bis vor Kurzem als Chefärztin im Hadassa-Krankenhaus tätig war.
Leider sollte es das Schicksal mit Mule und Esther aber nicht so gut meinen. Als der Jom- Kippur Krieg im Oktober 1973 ausbrach, war ihr Sohn mit 21 Jahren Hauptmann einer Panzereinheit auf der Sinai-Halbinsel. Während der ersten Tage der Kampfhandlungen wurden seine Soldaten bei einem ägyptischen Artillerieangriff aufgetrieben und sein Panzer von einer Rakete in mehrere Einzelteile zerschmettert.
Den Verlust seines Sohnes ging Mule sehr zu Herzen und in seinem Schmerz plante er sogar, in seiner Vorstellung, die Ermordung von Mosche Dayan. Seine Freunde aus der Partisanenzeit hielten ihn davon ab.
Den trauernden Eltern ging es danach nicht mehr so gut. Esther erkrankte an Krebs und Mule bekam Diabetes. Sie erlebten zwar noch die Hochzeiten ihrer beiden Töchter, doch Esther verstarb im Juni 1983 und Mule im August 1984.
Tal Leder ist Doktorand der Politischen Wissenschaften an der Humboldt Universität Berlin und beschäftigt sich in seiner Dissertation u. a. mit dem Syrischen Bürgerkrieg. Er ist als Sohn israelischer Eltern in Deutschland geboren und in Nürnberg und Frankfurt/ M. aufgewachsen. In den 1990er Jahren leistete er freiwillig seinen Armeedienst bei der Nahal- Brigade in der IDF und lebt seit Dezember 2006 mit seiner Belgischen Frau in Tel Aviv. Tal Leder schreibt regelmäßig für verschiedene Medien, unter anderem für die „Jüdische Rundschau“ und „Jüdische Allgemeine.“ Zudem ist er auch als Freiberuflicher Producer bei Dokumentarfilmen, sowie auch für israelische und deutsche TV- Sender tätig.
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