Eva Mozes Kor hat Auschwitz überlebt. Heute, mit 82, will sie den Tätern von einst vergeben. Dafür schlägt ihr Unverständnis entgegen - manchmal sogar blanker Hass.
Eine alte Frau und ein alter Mann. Sie geht auf ihn zu und legt ihre Hand um seine Schulter, er zieht ihren Kopf zu sich, um sie auf die Wange zu küssen. Die beiden wirken, als würden sie sich schon lange kennen, sie ist 81, er 94 Jahre alt. Später werden sie noch kurz plaudern, eine Szene, wie sie normaler nicht sein könnte. Wie in einem Seniorentreff oder beim Kirchenkaffee.
Dass die Bilder der beiden 2015 um die Welt gingen, liegt daran, wie die Geschichte ihre Leben miteinander verknüpft hat. Der Mann war bei der SS und hatte Dienst an der Rampe von Auschwitz. Er nahm die Menschen, die aus den Viehwaggons stiegen, in Empfang und sorgte dafür, dass sie taten, was man ihnen befahl. Die Frau war damals ein Kind, zehn Jahre alt. Zusammen mit ihrer Zwillingsschwester stand sie auf der Rampe, sie trugen das gleiche rote Kleid. Zwei von 430 000 ungarischen Juden, die im Frühsommer 1944 in Ausschwitz ankamen und von denen die meisten sofort in den Tod geschickt wurden, unter den Augen des Mannes.
Dass sie die Hand zur Versöhnung reicht, finden nicht alle gut
Der Prozess gegen den Auschwitz-Wachmann Oskar Gröning 2015 in Lüneburg hat Geschichte geschrieben. Weil der Mann überhaupt vor Gericht kam, in Deutschland, 70 Jahre nach Kriegsende. Weil er als Helfer schuldig gesprochen wurde, ein Rädchen im Getriebe, ohne das die Vernichtungsmaschinerie nicht funktioniert hätte.
Soeben hat der Bundesgerichtshof die vierjährige Haftstrafe bestätigt und den Weg dafür geebnet, weitere Handlanger des NS-Regimes vor Gericht zu bringen, die von der deutschen Justiz über Jahrzehnte verschont wurden. Und weil da diese Frau war, Eva Mozes Kor, eine der letzten Zeitzeuginnen. Sie erzählte im Gerichtssaal erst, wie sie durch Männer wie Gröning ihre Familie verlor, ihre Gesundheit und ihre Menschenwürde. Dann stand sie auf, ging auf den Mann zu und reichte ihm die Hand zur Versöhnung.
Eine Überlebende, die einem Täter vergibt, sich von ihm umarmen und küssen lässt. Wie kommt sie dazu und was will sie damit erreichen? Und wer ist diese Frau?
November 2016. Eva Mozes Kor ist aus den USA nach Berlin geflogen, um über ihr Leben zu erzählen und das Buch, das sie gerade geschrieben hat. "Die Macht des Vergebens" heißt es. Zum Interview bittet sie in eine Hotellobby auf dem Potsdamer Platz. Sie trägt ein türkisblaues Kostüm und einen Seidenschal, ihre Fingernägel sind pink lackiert. Aufrecht sitzt sie auf ihrem Rollator, wie eine Dame, die Freundinnen zum Kaffeeklatsch erwartet.
Nur wenn sie ihre Sitzposition verändern will, merkt man, wie schwer ihr jede Bewegung fällt. Die Folgen von Auschwitz trägt sie bis heute in ihrem Körper. Eva Mozes Kor und ihre Schwester Miriam gehörten zu jenen Kindern, an denen der KZ-Arzt Josef Mengele seine Zwillingsexperimente durchführte. Er spritzte ihnen Stoffe und infizierte sie mit Keimen, bis sie sterbenskrank wurden, Eva Mozes Kor injizierte er vermutlich auch noch Tuberkulose-Bakterien. Genaues weiß sie nicht, die alten Unterlagen sind verschollen. Nur, dass sie täglich viele Pillen schlucken muss, um überhaupt atmen zu können.
Sie spricht ohne Pause, Englisch mit osteuropäischem Akzent. Jede ihrer Geschichten hat eine Einleitung, einen Mittelteil und eine Schlussfolgerung, manchmal stellt sie eine Frage, um sie sogleich zu beantworten: "Habe ich die Nazis gehasst? Natürlich habe ich sie gehasst, aber erst nach dem Krieg. In Auschwitz brauchte ich meine Kraft zum Überleben." Alles an ihr strahlt eine sehr amerikanische Art von zupackender Resolutheit aus. Eine Frau, die durchdrungen ist von der Überzeugung, dass man sein Schicksal in jeder Phase des Lebens in die Hand nehmen kann.
Alle fragen: Wie kann man den Tätern nur verzeihen? Ich antworte dann immer mit einer Gegenfrage: Habe ich als Opfer nicht das Recht, frei zu sein von dem, was die Nazis mir angetan haben?"
Und das hat sie getan. Nach der Befreiung von Auschwitz schlug sie sich mit ihrer Schwester erst in ihr Dorf in Siebenbürgen durch, dann nach Palästina. Dort lernte sie einen Amerikaner kennen, die beiden heirateten, gingen in die USA, bekamen zwei Kinder. Eva Mozes Kor machte sich als Immobilienmaklerin selbständig, kaufte ein Haus im Mittleren Westen. Sie zog die Kinder groß, finanzierte deren Studium, ihr Sohn ist heute Arzt. "Ich war wirklich ein vorbildliches Opfer", sagt Eva Mozes Kor. Über die Vergangenheit wurde nicht gesprochen, Mozes Kor funktionierte und lebte einen amerikanischen Traum.
Sie weiß noch, wie sie das erste Mal nach Deutschland kam, ins Land der Täter. Anfang der Neunzigerjahre war das, sie sollte mit ihrer Schwester in einer Fernsehdokumentation über den Holocaust auftreten. Am Flughafen in Berlin kaufte sie sich ein deutsches Wörterbuch, sie wollte die Sprache lernen, "damit mich das Deutsche nicht mehr erschreckt". Die Fernsehleute brachten sie und ihre Schwester nach Auschwitz, "wir fuhren in einem Mercedes dorthin, das war schon komisch". Die Schwestern stellten sich auf die Rampe, genau gleich angezogen, so wie damals, als sie mit ihren Eltern und zwei Geschwistern da gestanden hatten. Wenige Minuten später waren sie von ihnen getrennt und sahen niemanden aus der Familie wieder.
Während die Aufnahme lief, sagte jemand aus dem deutschen Filmteam aus irgendeinem Grund: "Halt!" Beide Schwestern rissen sofort die Hände über den Kopf und standen still. So, als seien sie wieder die zehn Jahre alten Mädchen, die Mengele zynisch "meine Kinder" nannte, bevor er sie quälte und zu töten versuchte. In diesem Moment sei ihr bewusst geworden, dass ihr Leben so nicht weitergehen könne, sagt Eva Mozes Kor. Sie und ihre Schwester waren ständig krank, Miriam spuckte Blut, ihre Nieren waren kaputt. Sie konnte mit niemandem über ihre Vergangenheit reden, und als Miriam kurz nach ihrer Deutschlandreise an Blasenkrebs starb, war Eva Mozes Kor ganz allein mit ihrer Geschichte, der Sprachlosigkeit und ihrem unterdrückten Hass.
Sie nutzt alle Medien, twittert, chattet und hält Vorträge
Sie beschloss, zumindest herauszufinden, was ihrem Körper angetan worden war. Die Fernsehleute stellten Kontakt zu einem Arzt namens Hans Münch her, der ebenfalls in Auschwitz gearbeitet hatte, als Kollege Mengeles. Er lebte unbehelligt von der deutschen Justiz in einem Dorf im Allgäu und lud Eva Mozes Kor und ein Kamerateam 1993 zu sich nach Hause ein. So wie man eine alte Bekannte zum Kaffee bittet.
Und wie war das? Mozes Kors Stimme wird resolut. Nun ja, sie habe die Gelegenheit beim Schopf gepackt, sagt sie. Um Informationen von Münch einzuholen, Details über die Gaskammern. Dass Zyklon B etwa das Aussehen von hellem Kies hatte und dass manchmal sogar Parfüm versprüht worden sei, um die Leute glauben zu machen, sie gingen zum Duschen. Sie bat Münch, ihr das alles schriftlich zu bestätigen. "Viele Leute halten die Gaskammern für eine Erfindung. Wenn ich als Überlebende über Gaskammern rede, heißt es oft, die ist Jüdin, die hat eine Agenda. Aber wenn es ein Nazi sagt, dann glauben die Leute es."
Als Münch ihr ein solches Papier versprach, sagte Eva Mozes Kor, sie würde ihn nun nicht länger beschuldigen. Mehr noch: Sie vergebe ihm. Als sie diese Worte aussprach und in das verdatterte Gesicht des Mannes sah - da habe sie plötzlich ein Gefühl verspürt, das sie nicht kannte: Macht. Als Opfer etwas zu tun, wogegen ein Täter sich nicht wehren könne. Vergeben sei ja nicht Vergessen, sagt Eva Mozes Kor. Sondern eine Form, sich von etwas loszusagen, unabhängig zu werden. Das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen.
Darum will Eva Mozes Kor verzeihen
Faszinierend sei das gewesen, sagt Eva Mozes Kor. Sie hält inne und blickt zu den beiden jungen Leuten, die auf dem Boden vor ihren Laptops sitzen. Eine Betreuerin und ein Assistent, die sie auf ihren Reisen begleiten. Und Eva Mozes Kor ist viel unterwegs. Sie spricht bei Tagungen, gibt Interviews, allein in diesem Jahr hatte sie 160 Auftritte. Sie nutzt alle Medien, die ihr zur Verfügung stehen, twittert, chattet auf der Internetplattform Reddit, tritt in Talkshows auf. In ihrem Wohnort in Indiana betreibt sie ein Holocaust-Museum, und jedes Jahr reist sie mit Studenten nach Auschwitz. Fährt stundenlang mit einem Wägelchen über das holprige Gelände, erzählt, erklärt. Als wolle sie der Todesmaschinerie von einst ihre eigene Maschine entgegensetzen. Eine des Redens und Vergebens.
Sie werde oft gefragt, wie sie verzeihen könne, sagt Mozes Kor. "Ich antworte dann immer mit einer Gegenfrage: Habe ich nicht das Recht, frei zu sein von dem, was die Nazis mir angetan haben?" Man müsse dafür nicht religiös sein, "man muss nur erkennen, dass man die Macht hat und sich selbst retten kann". Was sagt sie dazu, dass die meisten Täter nie bereut haben? Dass der Arzt Hans Münch sie später einen "pathologischen Fall" nannte und noch kurz vor seinem Tod in Interviews über Juden schimpfte? Eva Mozes Kor richtet sich auf. "Mein Vergeben hat nichts mit ihm zu tun. Würde ich warten, bis diese Leute bereuen, wäre ich ja wieder abhängig, und der Täter das handelnde Subjekt. Die handelnde Person aber bin ich."
Wie nimmt sie die Entwicklung in den USA wahr, das Erstarken einer neuen Rechten seit der Präsidentenwahl? Fürchtet sie vielleicht ein Wiedererwachen des Faschismus? "Baloney!", ruft Eva Mozes Kor, Quatsch! Das seien keine Faschisten, das seien Leute, die alles tun würden, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie sehe Trump kritisch, aber sie finde es gut, dass er Jobs schaffen und Terroristen attackieren wolle statt nur darüber zu reden. "Denn was hat die Nazis seinerzeit stark gemacht? Die Wirtschaftskrise und das Wegschauen der restlichen Welt."
Hier könnte die Geschichte eigentlich enden. Mit der Botschaft einer Überlebenden, die sich nicht vorschreiben lassen will, was sie zu denken und zu empfinden hat. Aber wo Vergebung ist, herrscht nicht immer Eintracht. Eva Mozes Kor schlägt viel Unverständnis entgegen, manchmal sogar blanker Hass. Als sie dem Angeklagten Gröning in Lüneburg die Hand gab, distanzierten sich die anderen Nebenkläger öffentlich von ihr, nannten ihr Verhalten widersprüchlich. Immer wieder höre sie, dass man nicht vergeben könne, was unverzeihbar sei, sagt Mozes Kor. Das mache sie traurig. "Ich frage dann, warum seid ihr wütend auf mich? Ich habe euch doch nichts getan, ich habe nur den Nazis vergeben. Dann sagen sie: Du verletzt uns. Aber warum?"
Wobei die Deutschen besonders ungnädig mit ihr verfahren. In der deutschen Presse musste sie sich vorwerfen lassen, eine Show abzuziehen, sich selbst zu inszenieren. Hinter solcher Kritik verbirgt sich oft ein altes Ressentiment: Dass es eine bestimmte Art gibt, wie Opfer sich zu verhalten haben. Ein Opfer, das nicht mehr ohnmächtig sein will, passt da nicht ins Bild.
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin anschauen?
Eva Mozes Kor sagt, sie würde sich gerne mit Oskar Gröning zusammensetzen. Sie habe viele Fragen an ihn. Wie hat er seinen Dienst in Auschwitz über Jahre ausgehalten? Hat er ständig Alkohol getrunken wie andere SS-Männer? Was weiß er von Mengele, hat er die Zwillinge gesehen? Leute wie Gröning gehörten nicht ins Gefängnis, glaubt Eva Mozes Kor. Sie sollten dazu verpflichtet werden, in Schulen und Universitäten aufzutreten, vor Neonazis und Holocaust-Leugnern. Und erzählen, was sie gesehen haben, aufklären, was noch im Dunkeln liegt.
Sonst denkt sie nicht über die Täter nach. Darüber, dass sie nach dem Krieg einfach weitermachen konnten, Hans Münch als Arzt, Oskar Gröning als Buchhalter, während sie selbst immer auf ihre Geschichte als Opfer festgelegt sein wird. Sie habe "ein so interessantes, hoffnungsfrohes und sinnvolles Leben", sagt Eva Mozes Kor, "selbst in meinem Alter, in dem die meisten Menschen gelangweilt und unglücklich sind. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber ich bin dankbar dafür."
Sie guckt zu ihren Leuten. Was könne sie sich in Berlin angucken, wenn sie schon mal hier seien? Der junge Mann tippt etwas in sein Smartphone und schlägt das Brandenburger Tor vor. Oder vielleicht das Holocaust-Mahnmal? Lieber nicht das Mahnmal, sagt Eva Mozes Kor. Wenn sie etwas unternehme, dann solle das etwas Fröhliches und Positives sein. Das sei ihr Grundsatz bei allem. "Ich kann auch meine Geschichte mit einem Lächeln erzählen, und es ist noch immer meine Geschichte - warum also weinen?"
Allerdings können viele bei dieser Geschichte oft nicht anders, als zu weinen. Und dann macht Eva Mozes Kor das, was sie immer macht, wenn Leute in ihrer Gegenwart zu Tränen gerührt sind. Erst letztens wieder in Auschwitz, als sie von einer Gruppe deutscher Studentinnen umringt war, und alle hatten rotgeweinte Augen. Mozes Kor legt den Leuten dann immer eine Hand auf den Arm. Und während da eine kleine, federleichte Hand mit pinken Fingernägeln liegt, sagt sie: "Ihr seid nicht schuld daran, was in Auschwitz passiert ist. Aber es ist eure Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich so etwas nicht wiederholt."
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