von Florian Markl
Heute vor fünfzig Jahren gab Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser im Radio eine bedeutende Maßnahme bekannt: Die Straße von Tiran, der schmale Wasserweg zwischen dem Südzipfel der Sinai-Halbinsel und dem gegenüberliegenden Saudi-Arabien, sei von nun an für den israelischen Schiffsverkehr sowie für Schiffe mit strategisch wichtigen Gütern, die den Hafen im israelischen Eilat anlaufen wollten, blockiert. Die Sperre der Straße von Tiran war ein Bruch internationalen Rechts, stellte für Israel einen Kriegsgrund dar und wird allgemein als Point of no Return auf dem Weg zum Sechstagekrieg betrachtet. Die Eskalation, die zum israelischen Präventivkrieg vom 5. Juni 1967 führte, wurde zwar von Nasser auf die Spitze getrieben, hatte ihren Ursprung aber nicht in Ägypten, sondern in der Konfrontation Israels mit seinem nordöstlichen Nachbarn Syrien.
Nach dem Ende des Suezkrieges von 1956 war die ägyptisch-israelische Waffenstillstandlinie rund ein Jahrzehnt lang ein Ort relativer Ruhe. Israel hatte sich vom ägyptischen Sinai zurückgezogen, der als entmilitarisierte Zone galt; die entlang der „Grenze“ und im ägyptisch kontrollierten Gazastreifen stationierte „United Nations Emergency Force“ (UNEF) überwachte die Einhaltung der Waffenstillstandsvereinbarungen, die u.a. die Gewährleistung des freien Schiffsverkehrs in der Straße von Tiran beinhalteten.
Viel weniger ruhig war die Lage entlang der Waffenstillstandslinien zwischen Israel und Syrien. Im israelischen Unabhängigkeitskrieg war es syrischen Streitkräften gelungen, mehrere Landstriche innerhalb der Grenzen des ehemaligen Mandatsgebietes Palästina zu erobern. Israel beanspruchte diese Gebiete, die laut dem UN-Teilungsbeschluss zum jüdischen Staat gehören hätten sollen, als israelisches Territorium für sich, konnte sich mit dieser Sichtweise in den Waffenstillstandsverhandlungen 1949 aber nicht durchsetzen. Statt dem israelischen Staat zugesprochen zu werden, wurden sie zur entmilitarisierten Zone (demilitarized zone, DMZ) erklärt.
Die Folge war eine Vielzahl mehr oder minder großer Scharmützel um die Souveränität in der DMZ, die dafür sorgte, dass die israelisch-syrischen Waffenstillstandslinien ein Hort ständiger Unruhe mit großem Eskalationspotenzial blieben. Israelische Bauern fuhren in die DMZ, um dort Land zu bestellen, und wurden daraufhin von der syrischen Armee angegriffen, was der israelischen Armee den Vorwand gab, gegen syrische Stellungen vorzugehen, von denen aus immer wieder Orte innerhalb Israels beschossen wurden.
An Intensität gewannen diese Auseinandersetzungen im Zuge der zunehmenden Radikalisierung der verschiedenen syrischen Regierungen, die Putsch für Putsch zunahm und mit dem Staatsstreich des radikalsten Flügels der syrischen Baath-Partei unter Salah Jadid im Februar 1966 ihren Höhepunkt erreichte. Intern auf schwachen Beinen stehend und in der Region in innerarabische Machtkämpfe verstrickt, setzte das syrische Regime auf eine Eskalation des Konflikts mit Israel, um sich als Vorreiter im Kampf um die ‚Befreiung Palästinas‘ Prestige zu verschaffen.
Ganz in diesem Sinne verstärkte Syrien seine schon zuvor praktizierte Unterstützung palästinensischer Terrorgruppen – unter der Bedingung, dass diese ihre Angriffe auf Israel nicht von syrischem Territorium, sondern vom Libanon und vor allem von Jordanien aus unternahmen. Sosehr Syrien den palästinensischen Terror auch förderte, zum Ziel israelischer Vergeltungsaktionen wollte es nicht werden.
In den letzten eineinhalb Jahren vor dem Sechstagekrieg unternahm die Fatah unter Jassir Arafat insgesamt 122 Anschläge gegen Israel. Viele von ihnen waren Fehlschläge, aber sie stellten Nadelstiche dar, die die Abschreckungskraft der israelischen Militärmacht untergruben. Von der sogenannten internationalen Gemeinschaft hatte Israel keine Hilfe zu erwarten: Israelische Anrufungen des UN-Sicherheitsrates blieben aufgrund der sowjetischen Vetomacht ergebnislos. Derweilen verteidigte der syrische Premier Yusuf Zuayyin die Unterstützung des palästinensischen Terrors: „Wir sind nicht bereit, die palästinensische Revolution zurückzuhalten. (…) Wir werden die Region in Brand stecken, und jeder israelische Schritt wird das endgültige Grab für Israel sein.“
Mitte Oktober 1966 machte sich eine ägyptische Militärdelegation auf den Weg nach Damaskus. Deren Leiter erklärte: „Wir sind zuversichtlich, dass wir uns mit großen Schritten der Verwirklichung unseres gemeinsamen Zieles nähern, der Auslöschung Israels und völliger Einheit.“
Am 4. November 1966 schlossen Ägypten und Syrien einen Verteidigungspakt, der die komplette Wiederherstellung diplomatischer und militärischer Verbindungen bedeutete, die beim Zusammenbruch der ägyptisch-syrischen Union 1961 zerrüttet worden waren. Der Verteidigungspakt beinhaltete die Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand im Falle eines Krieges und insbesondere zu ägyptischen Militärschlägen auf den israelischen Süden, sollte Israel im Norden Syrien angreifen.
Die unmittelbare Folge des Verteidigungspakts war eine Serie von elf palästinensischen, meist von jordanischem Gebiet ausgehenden Attacken, bei der binnen weniger Tage sieben Israelis getötet und zwölf weitere verwundet wurden.
Am 10. November fuhr ein Polizeifahrzeug nahe der ‚Grenze‘ bei Hebron auf eine Mine auf. Drei israelische Polizisten wurden getötet, einer verwundet. Aus Furcht vor einem israelischen Vergeltungsangriff schrieb König Hussein einen persönlichen Kondolenzbrief an den israelischen Premier Levi Eschkol, in dem er seinen Willen zur Grenzsicherung beteuert. Der Brief sollte über die amerikanische Botschaft in Amman an die in Tel Aviv und von dort an den israelischen Regierungschef übermittelt werden. Es war aber Freitag, und in der Botschaft in Tel Aviv hatte man keine Eile. So blieb der Brief übers Wochenende auf einem Schreibtisch liegen.
Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob der israelische Vergeltungsschlag gegen Samua ausgeblieben wäre, wenn der Brief Husseins Eshkol unverzüglich erreicht hätte. Denn nach den zahlreichen palästinensischen Angriffen sah Israel die Notwendigkeit zu einer massiven Zurschaustellung militärischer Stärke gegeben. Selbst eine ausgesprochene Taube wie Außenminister Abba Eban war überzeugt, dass dringend etwas zur Wiederherstellung der zunehmend erodierenden Abschreckungskapazität unternommen werden musste.
Am 13. November drang die israelische Armee mit der größten Truppenzusammenstellung seit dem Suez-Krieg 1956 ins südliche Westjordanland ein. Ziel der Operation war das Dorf Samua, das von den Israelis als einer der wichtigsten Aufmarschgebiete der Fatah-Terroristen betrachtet wurde. In der Ortschaft zerstörte die israelische Armee zahlreiche Häuser (nach eigenen Angaben rund 40, laut den Vereinten Nationen ein Vielfaches davon). Aus dem Ruder lief die Aktion spätestens, als unerwartet jordanische Truppen auftauchten; es folgten intensive Kämpfe, Luftkämpfe zwischen jordanischen und israelischen Kampfjets eingeschlossen.
Der UN-Sicherheitsrat verurteilte das israelische Vorgehen in Resolution 228 als Verstoß gegen die UN-Charta und erklärte in Richtung Israel, „dass militärische Vergeltungsaktionen nicht toleriert werden können“ und zu Maßnahmen des Sicherheitsrates führen könnten, um ihre Wiederholung zu verhindern. Eine Verurteilung des palästinensischen Terrors hatte sich der Sicherheitsrat nicht abringen können – auch in Resolution 228 wurde mit keinem Wort erwähnt, wogegen sich die israelische Militäraktion gerichtet hatte. Die palästinensischen Angriffe auf Israel wurden von den Vereinten Nationen also nicht an den Pranger gestellt, sehr wohl aber die israelischen Reaktionen darauf – dieses einseitige Muster sollte fortan den Umgang der UNO mit anti-israelischem Terror charakterisieren.
In den Monaten nach der Samua-Operation rückte die DMZ wieder ins Zentrum der Konfrontation. Seit dem Jahresbeginn 1967 häuften sich syrische Angriffe, was Radio Damaskus am 16. Januar folgendermaßen erklärte: „Syrien hat seine Strategie geändert und ist von der Verteidigung zum Angriff übergegangen. … Wir werden unsere Operationen fortführen, bis Israel ausgelöscht ist.“
Anfang April 1967 verstärkte die syrische Armee ihre Angriffe auf israelische Farmer im umstrittenen Gebiet und auf israelische Ortschaften im Grenzgebiet noch einmal. Doch selbst vor diesem Hintergrund fielen die Attacken am 7. April außergewöhnlich heftig aus. Israelische Kampfjets stiegen auf, um syrische Artilleriepositionen auszuschalten. Als syrische Kampfflugzeuge in die Auseinandersetzung eingriffen, entwickelte sich ein heftiger Luftkampf, an dem bis zu 130 Flugzeuge beteiligt waren und der zum Teil über der syrischen Hauptstadt Damaskus ausgetragen wurde. Am Ende verlor die syrische Luftwaffe sechs Jets, ohne ihrerseits den Israelis Verluste zufügen zu können.
Die Kämpfe am 7. April waren eine krachende Niederlage für das syrische Regime, das die Blamage freilich sogleich in Angriffe auf die innerarabischen Konkurrenten ummünzte. Insbesondere gegen Ägypten richteten sich Vorwürfe, den gemeinsamen Verteidigungspakt nicht eingehalten zu haben und sich hinter den UNEF-Truppen zu verstecken, um einer Konfrontation mit Israel auszuweichen – ein Vorwurf, den Nasser immer wieder auch vom jordanischen König Hussein zu hören bekam, sobald dieser wegen seiner relativen Zurückhaltung im Kampf gegen Israel in Kritik geriet
Das syrische Regime unternahm alles, um den Druck auf Ägypten zu erhöhen. Zu diesem Zweck behauptete es mehrfach, Israel würde nahe der Grenze große Truppenverbände zusammenziehen, um eine Invasion des Landes vorzubereiten. Die Ägypter nahmen diese Meldungen nicht ernst – bis sie von der Sowjetunion bestätigt wurden: Am 13. Mai erging die Warnung aus Moskau, dass Israel an der syrischen Grenze 10 bis 12 Brigaden zusammengezogen habe. Genau das wurde auch gegenüber dem Parlamentspräsidenten und späteren Präsidenten Anwar as-Sadat bestätigt, der sich auf der Rückreise aus Nordkorea gerade in Moskau befand.
Mit der Wirklichkeit hatte dies allerdings schon allein deshalb nichts zu tun, weil die „Israel Defence Forces“ (IDF) bis heute im Wesentlichen eine Reservistenarmee sind. 12 Brigaden wären rund die Hälfte der voll mobilisierten israelischen Armee gewesen, doch eine Mobilisierung der Reservisten hatte bis zu diesem Zeitpunkt weder stattgefunden, noch hätte sie vor der internationalen Öffentlichkeit verheimlicht werden können. Der angebliche israelische Aufmarsch an der syrischen Grenze war eine glatte Erfindung, wie auch den Ägyptern spätestens klar wurde, als Generalstabschef Muhammad Fawzi am 14. Mai nach Damaskus reiste und über keinerlei ungewöhnliche Truppenbewegungen zu berichten wusste.
Zu diesem Zeitpunkt wechselte der Hauptschauplatz der Eskalation von Syrien nach Ägypten. Obwohl das ägyptische Militär über die Falschmeldungen aus Syrien Bescheid wusste, unternahm Nasser dennoch jene verhängnisvolle Reihe von Schritten, die letztlich den Krieg provozierten. Noch am 14. Mai drangen ägyptische Truppen auf der seit 1956 entmilitarisierten Halbinsel Sinai in Richtung der israelischen Grenze vor.
Am 16. Mai forderte Ägypten den UNEF-Kommandanten auf, seine Truppen von ihren Beobachterposten entlang der Grenze abzuziehen. Zwei Tage später wurde die Forderung noch deutlicher: Alle rund 3400 UNEF-Soldaten müssen das Land verlassen. Ohne Absprache mit Israel und ohne Konsultation des UN-Sicherheitsrates kam UN-Generalsekretär U Thant dieser Forderung nach. Ohne die UNEF als Puffer standen sich nunmehr zum ersten Mal seit dem Suez-Krieg ägyptische und israelische Truppen direkt gegenüber. Die Israelis hatten wenig Verständnis für den UN-Abzug. Außenminister Abba Eban kommentierte: „Das ist so, als ob die Feuerwehr jahrelang auf einen Brand wartet und in dem Moment, da das Feuer ausbricht, abzieht, ohne zu löschen.“ Die Lehre, die Israel daraus zog, war klar: Im Ernstfall war auf ausländische Truppen kein Verlass.
Am 21. Mai verließ die UNEF in Scharm el-Scheich ihre Beobachterposten, die von ägyptischen Soldaten besetzt wurden. Die ägyptische Armee hatte damit die Kontrolle über das Nadelöhr am Eingang des Golfes von Akaba übernommen.
Am 22. Mai wurde die Schließung der Straße von Tiran beschlossen. Nasser persönlich informierte ägyptische Soldaten über diese Entscheidung im Rahmen eines Besuchs der am Sinai gelegenen Luftwaffenbasis Bir Gifgafa. Am nächsten Tag wurde die Blockade im Radio verlautbart und damit auch der internationalen Öffentlichkeit bekanntgegeben. UN-Generalsekretär U Thant, der nach Kairo gereist war, hegte keine Illusionen darüber, was dieser Schritt bedeutete: Für ihn war Krieg damit unausweichlich geworden.
Begleitet wurden die zunehmende Eskalation und der Militäraufmarsch entlang der verschiedenen Waffenstillstandslinien mit Israel – bis zum 5. Juni sollten rund 250.000 arabische Soldaten, über 2000 Panzer und rund 700 Kampfflugzeuge angesammelt werden – von kriegerischer Rhetorik und Vernichtungsdrohungen gegen den jüdischen Staat. Ägyptens Präsident Nasser erklärte: „Das wird ein totaler Krieg. Unser grundlegendes Ziel wird die Vernichtung Israels sein.“ Der ägyptische Radiosender Voice of the Arabs kündigte an: „Die einzige Methode, die wir gegen Israel anwenden werden, ist der totale Krieg, der mit der Auslöschung der zionistischen Existenz enden wird.“ Der irakische Präsident Ab dar-Rahman Arif stimmte in den Chor mit ein: „Die Existenz Israels ist ein Fehler, den wir beheben müssen. (…) Unser Ziel ist klar: Israel von der Landkarte zu fegen.“ Die populäre ägyptische Sängerin Um Kalthoum schrieb einen Schlager mit dem Text:
„Wir kehren zurück durch die Kraft der Waffen.
Wir kehren zurück wie der Morgen nach der dunklen Nacht.
Gott sei mit euch, ihr Armeen der Araber.
O wie groß, wie glänzend, wie tapfer seid ihr!
Das Leid Palästinas drängt euch zu den Grenzen,
und alle sind mit euch in der flammenden Schlacht …“
Die knapp zwei Wochen nach der Sperre der Straße von Tiran sollten eine Zeit hektischer diplomatischer Bemühungen für eine friedliche Lösung der Krise werden. Sollte die sogenannte internationale Gemeinschaft überhaupt noch eine Möglichkeit zur Verhinderung des Krieges gehabt haben, so wurde diese nicht genutzt. Am Morgen des 5. Juni 1967 war die angespannte Zeit des Wartens vorüber.
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