Ein Gerücht und seine Folgen

 

Zur Vorgeschichte des Sechs-Tage-Krieges.

 

von Matthias Küntzel

 

Vor fast genau 50 Jahren, am 5. Juni 1967, begann der Sechs-Tage Krieg, der ca. 700 Israelis und mehr als 20.000 Arabern das Leben kostete. Bereits in den ersten Stunden des 5. Juni gelang es den Israelis, die Luftwaffe der arabischen Staaten auf dem Boden zu zerstören. In den Folgetagen eroberte Israel das seit 1948 von Jordanien besetzte Westjordanland sowie den zu Ägypten gehörende Gazastreifen und insbesondere die Altstadt von Jerusalem, in der unter jordanischer Herrschaft sämtliche Synagogen zerstört worden waren – erst seit Juni 1967 können Juden, Moslems und Christen an diesem historischen Ort wieder beten. Während sich der triumphale Sieg von Juni 1967 in der historischen Erinnerung verankern konnte, sind die Wochen der nackten Angst, die die Israelis während des Vormonats durchlitten, längst vergessen.

 

„Im Mai 1967“ schreibt der israelische Autor Yossi Klein Halevi, „sah ich mir die Nachrichten gemeinsam mit meinem Vater an – einem Holocaust-Überlebenden aus Ungarn, den diese Erfahrung nie wieder losließ. Wir sahen Massen von Demonstranten, die ‚Vernichtet Israel!‘ skandierten und Fahnen mit Todesschädeln und gekreuzten Knochen schwangen. Dies machte auf mich, ich war damals 14, einen tiefen Eindruck. Mein Vater und ich hatten dieselbe Furcht, dass eine Variante des Holocaust erneut geschehen könnte. Dieses Gefühl beherrschte damals die jüdische Welt zwischen Moskau und Tel Aviv.“

 

In der Tat hatte Gamal Abdel Nasser, der charismatische Führer Ägyptens, Israels Zerstörung lautstark angekündigt, während „Kairos Innenstadt mit blutrünstigen Plakaten geschmückt war, auf denen arabische Soldaten bärtige und hakennasige Juden erschossen, zerschmetterten, strangulierten und zerstückelten.“ Jitzchak Rabin, der Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, rechnete im Mai 1967 mit Zehntausenden Toten bei dem bevorstehenden Krieg und gab Anweisung, Schulen und andere öffentliche Gebäude in Israel auf eine Nutzung als Hospitäler und Leichenhallen vorzubereiten. „Zehn Rabbiner des Oberrabinats und der Bestattungsgesellschaft Chewra Kaddischa in Tel Aviv schritten öffentliche Parks ab und segneten sie als potentielle Massengräber.“

 

Warum aber wollte Nasser den jüdischen Staat 1967 vernichten? Was war der Auslöser jener Kriegsstimmung, die über Wochen hinweg wie ein Damoklesschwert über den Bewohnern Israels hing?

 

Die unmittelbare Vorgeschichte des Sechs-Tage Kriegs begann am 13. Mai. An diesem Tag übermittelte die Sowjetunion der ägyptischen Regierung die Information, dass Israel zehn bis zwölf Brigaden seiner Streitkräfte an der syrischen Grenze konzentriert habe, um Syrien anzugreifen. Am selben Tag hielt sich Anwar al-Sadat, der spätere Präsident und damalige Sprecher der ägyptischen Nationalversammlung in Moskau auf. Auch ihm teilte die sowjetische Regierung mit, dass Israel zehn Brigaden an der syrischen Grenze konzentriert habe.

 

In Syrien, das seit November 1966 mit Ägypten durch eine Militärallianz verbunden war, herrschte ein in sich zerstrittenes baathistisches Regime. Dessen einziger gemeinsamer Nenner war die Entschlossenheit, Israel zu zerstören. „Syrien hat seine Strategie von Verteidigung auf Angriff umgestellt“, erklärte Radio Damaskus am 16. Januar 1967. „Wir werden angreifen, bis Israel eliminiert ist.“ Syrien ließ inbesondere der von Jassir Arafat gegründeten Al-Fatah freie Hand, das nördliche Israel mit immer neuen Guerilla-Operationen zu terrorisieren. Als sich israelische Streitkräfte am 7. April 1967 hiergegen wehrten, eskalierte die Situation bis hin zu einem Luftwaffen-Gefecht, bei dem Israel sechs syrische MiG-Flieger über den Vororten von Damaskus abschoss.

 

Obwohl die Situation angespannt war, konnte von einem israelischen Truppenaufmarsch an der syrischen Grenze oder gar einer Angriffsabsicht keine Rede sein. Am 14. Mai, einen Tag nach dem Aufkommen dieses Gerüchts, schickte Nasser seinen Generalstabschef Mohammad Fawzi nach Damaskus, um die Situation zu prüfen. Fawzi studierte Luftbilder und flog mit einem Privatflugzeug die Grenzen ab: Von einem Truppenaufmarsch war nichts zu sehen. „Hier gibt es nichts. Keines Massierung von Streitkräften. Gar nichts“, meldete Fawzi an Nasser. Am 14. Mai hatte Nasser jedoch bereits ägyptische Truppen mobilisiert und in Richtung Sinai geschickt, um Israels angebliche Aggression zu verhindern.

 

Am 15. Mai wies auch die United Nations Truce Supervision Organization (UNTSO), die die syrischen Grenzanlagen täglich inspizierte, das Gerücht vom israelischen Truppenaufmarsch zurück.

 

Nasser aber eskalierte die Situation. Am 16. Mai forderte er den Abzug der United Nations Emergency Force (UNEF) vom Sinai. Diese aus 3.400 Soldaten bestehende Truppe wurde nach dem Sinai-Krieg von 1956 auf der Halbinsel stationiert, um das Ausbrechen bewaffneter Konflikte zu verhindern und um den 1956 geregelten freien Seeverkehr durch die Straße von Tiran sicherzustellen.

 

Am 19. Mai kehrten die UN-Friedenstruppen dem Sinai den Rücken, während dort gleichzeitig die Anzahl ägyptischer Militärs von 35.000 auf 80.000 aufgestockt wurde. Sowjetische Zeitschriften wie Trud und Izvestia berichteten erneut über „große israelische Armeeformationen, die an den Grenzen zu Syrien konzentriert wurden“, während UN-Generalsekretär U Thant dem Sicherheitsrat am selben Tag mitteilte, dass UN-Beobachter „die Abwesenheit von Truppenkonzentrationen und bedeutsamen Truppenbewegungen auf beiden Seiten der [syrisch-israelischen] Linie bestätigt haben.“

 

Am 22. Mai gab Nasser die Schließung der Straße von Tiran für israelische Schiffe bekannt, was der UN-Konvention über Hoheitsrechte auf See widersprach und Israel vom Roten Meer und Indischen Ozean abschnitt. Im Krieg von 1956 hatte Israel die Öffnung dieses Seeweges durchgesetzt. Mit seiner erneuten Sperrung und der damit verbundenen Veränderung der Machtbalance provozierte Nasser den Krieg.

 

Am 24. Mai nahmen Irak und Jordanien, aber auch die VR China und Indien demonstrativ für Ägypten Partei.

 

Am 25. Mai heizte Nasser die Stimmung weiter an. „Die Juden drohen mit Krieg“, behauptete er in einer Rede vor dem Hauptquartier der ägyptischen Luftstreitkräfte. „Wir sagen ihnen: ,Ihr seid willkommen! Wir sind bereit zum Krieg!“

 

Am 26. Mai wurde Nasser explizit. „Wir fühlen, wir sind stark genug“, erklärte er in einer Rede vor arabischen Gewerkschaftern. „Falls es zu einem Kampf mit Israel kommen sollte, könnten wir mit Gottes Hilfe triumphieren. Deshalb haben wir die aktuellen Schritte unternommen. … Unser grundlegendes Ziel wird die Zerstörung Israels sein.“

 

Am 29. Mai bekräftigte Nasser in seiner Rede vor der ägyptischen Nationalversammlung seine Absicht: „Heute geht es nicht um den Golf von Akaba, die Straße von Tiran oder den Rückzug der UNEF-Truppen, sondern um die Rechte des palästinensischen Volkes. … Wir werden siegen, so Gott will. … Wir sind jetzt bereit, es mit Israel aufzunehmen. … Wir sind jetzt bereit, die gesamte Palästinafrage zu lösen.“ Am selben Tag lud Israels Premier den sowjetischen Botschafter in Israel ein, mit ihm gemeinsam zur syrischen Grenze zu reisen, um zu überprüfen, ob dort israelische Truppen stationiert sind oder nicht. Der Botschafter lehnte die Einladung ab.

 

Am 2. Juni rief der PLO-Vorsitzende Ahmed Schukeiry seine Anhänger in der Moschee auf dem Tempelberg zum ,heiligen Krieg‘ gegen Israel auf. Nur wenige Juden würden den bevorstehenden Krieg überleben, erklärte er in einem Interview.

 

Am 5. Juni startete Israel um 7:45 Uhr seine Präventivschlag – der Sechs-Tage Krieg begann.

 

Dieser Rückblick zeigt, dass Nasser ein mehrfach widerlegtes Gerücht zum Vorwand nahm, um Israel in die Enge zu treiben. In rascher Abfolge ließ er seine Truppen auf dem Sinai aufmarschieren, entfernte die UN-Friedenstruppe und riegelte für Israel die Straße von Tiran ab.

 

Israel angreifen konnte Nasser freilich nicht. Die Sowjetunion, Ausrüster und Trainer der ägyptischen Militärverbände, hatte einen Erstschlag Ägyptens ausdrücklich untersagt. Aus dieser Einschränkung resultierte eine Strategie, die Hassanein Haykal, einer der engsten Vertrauten Nassers, in der Tageszeitung Al Ahram so beschrieb: „Israel kann das, was geschehen ist, weder akzeptieren, noch ignorieren. … Also wird der nächste Schritt von Israel kommen. Israel muss jetzt antworten. Es muss uns einen Schlag versetzen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, um dessen Wirkung so gut wie möglich zu minimieren. Dann werden wir für den zweiten Schlag an der Reihe sein. Wir werden ihn mit der größtmöglichen Effektivität ausführen. Lasst uns für den zweiten Schlag bereit sein. Lasst uns dafür sorgen, dass es ein K.O.-Schlag wird.“

 

Während Nassers Politik einer Logik der Eskalation folgte, blieb das Verhalten der Sowjetunion mysteriös. Warum manövrierte Moskau das ägyptische Regime mit seinen Gerüchten über israelische Angriffspläne in einen Krieg, den zu beginnen es Kairo gleichzeitig verbot? Der zweite Teil dieser Reihe wird versuchen, dieses Dunkel zu lichten.

 

Moskau verliert die Kontrolle.

 

1967 trug die sowjetische Führung erheblich zum Ausbruch des Sechs-Tage Krieges bei. Zum einen hatte sie seit 1955 die arabischen Staaten mit Riesenmengen an Waffen, darunter moderne Kampfflieger, U-Boote und Panzer ausgestattet. Das Gros dieser Waffen wurde geliefert, nachdem eine arabische Gipfelkonferenz im Januar 1964 in Kairo ein Programm zur „Befreiung vom Druck des zionistischen Imperialismus“ beschlossen hatte. Zum anderen trug die sowjetische Propaganda über die angeblich „pro-imperialistische Politik  Israels“ zur Kriegsstimmung bei.

 

Schließlich aber war es der Kreml, der wider besseres Wissens die verhängnisvolle Lüge von israelischen Truppenaufmärschen und Angriffsdrohungen gegen Syrien verbreitete; eine Lüge, die Nasser zum Vorwand nahm, um auf Kriegskurs gegen Israel zu gehen, eine Lüge auf die sich Präsident Nasser selbst nach der ägyptischen Niederlage zur Rechtfertigung seiner Politik noch bezog. „Am Anfang stand das feindliche [also: israelische] Vorhaben einer Invasion nach Syrien“, erklärte er am 9. Juni. „Unsere Freunde in der Sowjetunion warnten die parlamentarische Delegation, die Moskau besuchte, dass es einen vorsätzlichen Plan gegen Syrien gab. Wir hielten es für unsere Pflicht, dies nicht schweigend hinzunehmen.“

 

Doch bereits 1968 bezeichnete Shams al Badran, Ägyptens Verteidigungsminister während des Sechs-Tage Kriegs, dieses Gerücht als „Halluzination“. 1992 gaben auch Regierungsbeamte und Wissenschaftler in Moskau zu, dass das Aufmarsch-Szenario von 1967 erfunden gewesen war.

 

So sehr die sowjetische Führung den Sechs-Tage Krieg mit auszulösen half, so sehr war sie seit dem Beginn des Krieges am 5. Juni darum bemüht, ihn einzudämmen. Moskau unterstützte zwar den Aufmarsch ägyptischer Truppenverbände auf dem Sinai. Dass dann aber Nasser die UN-Friedenstruppen vom Sinai entfernen und die Straße von Tiran für den israelischen Verkehr sperren ließ, hatte auch den Kreml überrascht. Mit der Sperrung der Wasserstraße lag die Gefahr eines heißen Nahostkrieges in der Luft – eines Krieges den die Sowjetunion schon deshalb nicht wollte, weil ihr der marode Zustand der ägyptischen Streitkräfte bekannt war. So war es Moskau, das am Morgen des 5. Juni den heißen Draht nach Washington aktivierte, um die selbst gezündeten Flammen soweit wie möglich auszutreten. Nassers Aufforderung, ihm noch während des Krieges neue Waffen zu schicken, lehnte der Kreml ab.

 

Wie ist die widersprüchliche Haltung Moskaus im Sechs-Tage Krieg zu erklären? Ein Blick auf die Geschichte der sowjetischen Nahost-Politik wird bei der Beantwortung dieser Frage helfen.

 

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnete sich die sowjetische Nahostpolitik durch eine wohlwollende oder neutrale Haltung Israel gegenüber aus. Der Kreml unterstützte die Gründung des jüdischen Staates, verurteilte 1948 den Einmarsch der arabischen Armeen in Palästina und macht diese Aggression für das Los der palästinensischen Flüchtlinge verantwortlich. Später verfolgte Moskau einen neutralen Kurs. So enthielt sich die Sowjetunion zwischen 1949 und 1952 bei allen UN-Abstimmungen zum Nahostkonflikt der Stimme.

 

Die erste Krise erlebten die sowjetisch-israelischen Beziehungen Anfang 1953 im Zusammenhang mit Stalins antisemitischer Wahnidee von einer „Ärzteverschwörung“, derzufolge „zionistische Spione“ der Sowjetführung nach dem Leben trachteten. Stalin starb im März 1953. Sein Nachfolger Nikita Chruchtschow entlarvte das Ärztegerücht als Lüge und nahm die zwischenzeitlich unterbrochenen Beziehungen zu Israel wieder auf. Im Unterschied zu Stalin verfolgte Chruschtschow jedoch eine konsequent pro-arabische Linie, die den Anti-Israelismus in diesem neuen Kontext stärkte. Die großen Wende der sowjetischen Nahostpolitik fand im September 1955 statt, als Ägypten erstmals Waffenlieferungen mit der Sowjetunion und der Tschechoslowakei vereinbarte.

 

Zwar versuchte anfänglich der Kreml, jedweden Zusammenhang zwischen dem Nahost-Konflikt und dem Waffendeal zu dementieren. Mehr noch: Wann immer die sowjetischen Medien über Nasser berichteten, ließen sie dessen anti-israelischen Tiraden, so als sei ihnen dieses Kapitel peinlich, aus. Doch schloss die nun beginnende Freundschaft mit Syrien und Ägypten positive Beziehungen mit Israel aus. Ende 1955 war es schließlich soweit: Jetzt ergriff Moskau gegen Israel auch offen Partei. In einem nächsten Schritt wurde die Geschichte „korrigiert“: Moskaus Parteinahme für Israel im 1948er Krieg wurde aus der historischen Erinnerung gelöscht und mit einer neuen Lesart überschrieben. Von nun an wurde der jüdische Staat für den Ausbruch der Kämpfe von 1948 gegen „die junge arabische Nationalbewegung“ verantwortlich gemacht.

 

Es war nicht so sehr der Antizionismus, der den Kreml auf die arabische Seite trieb: Forderungen, die auf die Auslöschung Israels zielten, begegnete die Sowjetunion mit Distanz. Sondern im Vordergrund stand das Kräftemessen mit den USA, der Kalte Krieg. „Als sich Moskau zwischen den arabischen Staaten und Israel entscheiden musste, wählte es die stärkeren Bataillione“, erläutert Walter Laqueur. „Man sollte die antijüdischen Vorurteile der sowjetischen Führung nicht unterschätzen, doch was in letzter Instanz die Annäherung zwischen Moskau und Jerusalem verhinderte, war nicht der Antisemitismus, sondern die simple Tatsache, dass Israel so klein war.“

 

So ist das Hin- und Her der Sowjetunion im Kontext des Sechs-Tage Krieges zu erklären. Während Nasser dazu aufrief, den jüdischen Staat zu zerstören, verfolgte die Sowjetunion ein anderes Ziel. Sie wollte die israelische Führung durch Aufbau einer Droh- und Druckkulisse dazu zwingen, sich auf die im UN-Teilungsplan von 1947 festgelegten Grenzen zurückzuziehen. Mit seinen gezielten Falschmeldungen über israelische Truppenstationierungen an der Syrien-Grenze schuf der Kreml den Vorwand, um durch ägyptische Truppenstationierungen auf dem Sinai die Situation kalkuliert zu eskalieren.

 

Dann aber scherte Gamal Abdel Nasser aus. Mit der Entfernung der UN-Friedenstruppen und der Sperrung der Meerenge von Tiran geriet das im Kreml ausgetüftelte Szenario aus dem Ruder. Nun drohte eine unkalkulierbare Eskalation. Die Sowjetunion bekam die Quittung für ihr gefährliches Spiel und beeilte sich, die Lage, soweit noch möglich, zu entspannen.

 

Dies aber zeigt, dass der ägyptische Präsident für den Eskalationskurs von Mai 1967 verantwortlich gemacht werden muss. Warum aber wollte Nasser, der charismatische Führer der Blockfreien-Bewegung, Israel zerstören? Der dritte und letzte Teil dieser Reihe wird sich um eine Antwort bemühen.

 

 

Warum wollte Nasser Israel zerstören?

 

„Es ist Zeit, die Demagogien zu beenden – Krieg mit Israel ist unmöglich!“ So lautete im März 1965 die Botschaft des tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba an die arabische Welt. Die palästinensischen Araber sollten einen moderaten und flexiblen Ansatz verfolgen, einschließlich der Anerkennung des jüdischen Staates in den vom UN-Teilungsbeschluss von 1947 festgelegten Grenzen. Araber und Israelis würden „nach der Abkehr vom Hass in Harmonie miteinander leben können“, argumentierte Bourguiba. „Die palästinensische Frage erfordert eine friedliche Lösung ohne Sieger und Besiegte.“

 

Ein Freund des jüdischen Staates war Bourguiba nicht. Er sah in Israel eine imperialistische Macht und ermutigte palästinensische Araber, ins israelische Territorium zurückzukehren, um ihren Guerillakrieg von innen zu führen. Sein Vorschlag folgte einem humanitären Impuls. Erschrocken über das konkrete Leid palästinensischer Araber, das er im März 1965 in einem jordanischen Flüchtlingslager sah, drängte er auf praktische Ansätze, das Los der Flüchtlinge zu verbessern und bot sich als Vermittler in Verhandlungen zwischen Israel und den Flüchtlingen an. Er signalisierte, dass er bei dieser Vermittlung Gamal Abdel Nasser, den ägyptischen Präsidenten, gern an seiner Seite hätte.

 

Für Nasser galt Bourguibas Ansatz jedoch als Verrat. Der Präsident Tunesiens vertrete in seinen Erklärungen „die gleichen Positionen wie Israel und die imperialistischen Länder, die Israel stärken“, klagte Nasser 1965 in seiner Rede zum 1. Mai.

 

Zu diesem Zeitpunkt war Gamal Abdel Nasser der einzige arabische Führer, der Bourguibas reformerischen Ansatz zum Durchbruch hätte verhelfen können. Im April 1955 wurde er als einer der Sprecher der Blockfreien-Bewegung neben Jawaharlal Nehru und Josip Broz Tito weltberühmt. Im September 1955 brüskierte er den Westen durch Waffengeschäfte mit der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. 1956 sorgte er für den Abzug der Briten aus der Kanalzone und verstaatlichte den Suezkanal. Seither verehrten ihn Millionen Arabern mit religiös anmutender Ehrfurcht während ihn die übrigen politischen Führer als Sprecher der Dritten Welt hofierten. Nasser war nicht zuletzt ein charismatischer Redner. Wenn überhaupt jemand in der Lage war, die Massenstimmung gegenüber Israel zu verändern, dann er.

 

Doch auch Bourguiba war kein politisches Leichtgewicht. Noch im Februar 1965 wurde er nicht nur in Saudi-Arabien und Jordanien mit allen Ehren empfangen, sondern auch in Kairo, wo man ihn im offenen Wagen durch die Straßen fuhr. Gemeinsam hätten Nasser und Bourguiba im Sommer 1965 die arabische Haltung zum Nahost-Konflikt verändern können. Nasser aber lehnte den Kurs seines Kollegen ab – er wollte den jüdischen Staat in keiner Form akzeptieren, sondern Israel zerstören. Warum? Und warum provozierte er wenige Monate später einen Krieg, bei dem innerhalb von sechs Tagen über 20.000 Araber starben?

 

Nassers prägende Jahre

 

Nasser, 1918 geboren, wurde 1935 Mitglied der Young Egypt Society – einer radikalen nationalistischen Bewegung, die nazi-freundlich eingestellt war. „Der Zweite Weltkrieg und die kurze Zeit zuvor befeuerte den Geist unserer Jugend“, schrieb Nasser, „und orientierte unsere ganze Generation auf Gewalt.“ Zu den führenden Mitgliedern der Young Egypt Society gehörten Ali Maher und Aziz al-Misri, zwei prominente Politiker Ägyptens, die für ihre antibritische und prodeutsche Haltung bekannt waren.

 

1937 wurde Nasser Mitglied der Militärakademie. 1938 organisierte sich der Kern der „Freien Offiziere“, die 1952 die Macht übernahmen. Als 1942 „die Deutschen in der Nähe von Ägypten waren“, erinnerte sich Abdel Latif Boghdadi, ein Mitglied dieser Gruppe, „dachten wir, dass es unsere Pflicht sei, etwas gegen die Briten zu tun. Wir bildeten eine geheime Organisation in der Luftwaffe, um den britischen Rückzug aus der westlichen Wüste zu behindern und ihre Vorsorgungs- und Kommunikationslinien zu sabotieren.“

 

Von 1943 an begannen sich Nasser und einige seiner Militärkollegen mit Mahmud Labib, einem führenden Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft, zu treffen. Diese Versammlungen fanden einmal wöchentlich und „ununterbrochen bis Mai 1948 (statt), als die Mobilisierung für den palästinensischen Krieg [von 1948] begann.“ Gegen Ende der Dreißigerjahre erhielten die Muslimbrüder wegen ihrer antisemitischen Orientierung finanzielle Unterstützung aus Deutschland. In der Tat suchte Hassan al-Banna, der Führer der Bruderschaft, selbst den Palästina-Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen von 1947 antisemitisch zu erklären: Es habe sich „um ein internationales Komplott (gehandelt), den die Amerikaner, die Russen und Briten unter dem Einfluss des Zionismus ausführten.“ Dessen ungeachtet stellte die Bruderschaft 1948 mit mindestens einer Million Mitgliedern die bei weitem größte politische Organisation in Ägypten dar.

 

Nasser gehörte zu den Offizieren, die die Muslimbrüder für den Krieg von 1948 in Palästina ausbildeten. Es war kein Zufall, dass man 1949 in einem Unterschlupf der Muslimbrüder ein von Nasser gezeichnetes Handbuch über den Einsatz von Granaten fand. Im Juli 1952 fegte die Revolution der Freien Offiziere die Monarchie und die alten Machteliten hinweg. Zehn der vierzehn Offiziere, die jetzt Ägypten führten, hatten einst der Muslimbruderschaft die Treue geschworen. Mit gutem Grund verurteilte anfänglich die Sowjetunion diese „reaktionäre Offiziersgruppe“ und ihre neue „Militärdiktatur“.

 

So war es auch kein Zufall, dass Ägypten mit Beginn der Herrschaft der Freien Offiziere zum El Dorado für ehemalige Nazis-Kriegsverbrecher und Antisemiten wurde. Nehmen wir das Beispiel des Luftwaffenoffiziers Mohammad Radwan. Im Zweiten Weltkriegs schaffte er es bis nach Deutschland, wo ihn die Alliierten 1945 verhafteten. Anschließend wurde er in Ägypten zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. 1952 ließen ihn jedoch die Freien Offiziere frei und beschäftigten ihn in der Abteilung für öffentliche Angelegenheiten der ägyptischen Streitkräfte. Ein weiteres Fallbeispiel ist der neonazistische Verleger Helmuth Kramer. Er erhielt 1965 politisches Asyl in Ägypten, nachdem ihn ein deutsches Gericht für schuldig befunden hatte, „Nazi-Ideen zu verbreiten“. Kramer zufolge befasste sich Nasser persönlich mit seinem Asylantrag und gab ihm die Erlaubnis, seine Bücher weiter zu publizieren.

 

Da es Moskau 1959 abgelehnt hatte, Mittelstreckenraketen an Ägypten zu liefern, lud Nasser zudem mehr als 300 deutsche Ingenieure und Wissenschaftler ein, die sich zuvor an der Raketenforschung der Nazis beteiligt hatten. 1962 wurden deren Raketen in Kairo erstmals vorgeführt. „Das Personal der israelischen Botschaft in Paris trauert und die Juden in New York sind in Angst“, freute sich die ägyptische Tageszeitung Al-Ahram.

 

Obwohl Nasser bestritt, ein Antisemit zu sein („Ich war noch niemals antisemitisch auf persönlicher Ebene“) betonte er die große Bedeutung der „Protokolle der Weisen von Zion“ für das Verständnis der Welt und behauptete öffentlich, dass „dreihundert Zionisten (…) das Schicksal des europäischen Kontinents regieren“. Wer so etwas glaubt, muss natürlich den Holocaust leugnen. Nasser leugnete ihn direkt („Die Lüge von den sechs Millionen ermordeten Juden wird von niemandem ernst genommen“) und indirekt, indem er behauptete, dass „Ben-Gurion (…) so viele Araber tötete, wie Hitler Juden getötet hat“.

 

Wer an die „Protokolle“ glaubt, wird auch versuchen, Israel zu zerstören. Nasser sah in Israel einen Brückenkopf des westlichen Imperialismus und hielt den Zionismus für eine inhärent expansive Ideologie. „Arabische Einheit – das bedeutet, dass Israel und die Expansionsträume des Zionismus liquidiert werde“, versprach der 1965 seinen Anhängern.

 

Diese Biographie schloss einen Kurswechsel jedoch nicht aus. Nassers Freund und Mitkämpfer Anwar al-Sadat hatte Adolf Hitler noch 1953 als „unsterblichen Führer“ gelobt. Dennoch erkannte er 26 Jahre später das Existenzrecht Israels an. Warum war Nasser unfähig zu solch einem Schritt?

 

Hier nun kommt der Anti-Zionismus der „arabischen Straße“ ins Spiel. Mehr als alles andere dürfte Nasser die Massenbegeisterung dazu angestachelt haben, seinen Provokationskurs gegenüber Israel immer weiter zu eskalieren. Geradezu ekstatisch hatte die arabische Welt auf die Schließung der Meerenge von Tiran reagiert.  So fand Nassers höhnische Kriegsaufforderung an die Israelis –  „Ihr seid willkommen!“ („Ahlan Wa-sahlan!“) – überall in der arabischen Welt begeisterten Widerhall. Aus allen arabischen Hauptstädten trafen Glückwünsche und Botschaften der Unterstützung ein. Delegationen u.a. aus Irak, Syrien, Algerien und  Kuwait gaben sich in Kairo die Klinke in die Hand.Über Nacht hatte Nassers Prestige in der arabischen Welt neue Höhepunkte erreicht. Diese Begeisterung, diese massenhafte Hoffnung, in naher Zukunft einen voll etablierten Staat zu zerstören, ist aber außergewöhnlich und nicht leicht zu erklären.

 

Anti-Zionismus – der Ausnahmefall

 

Antisemitische Agitation war in den arabischen Ländern nichts Neues, wie jüngere Studien über die Nazi-Propaganda in der arabischen Welt belegen. So riefen zwischen April 1939 und April 1945 arabischsprachige Radiosendungen aus Berlin tagtäglich dazu auf, einen jüdischen Staates zu verhindern und die in Palästina lebenden Juden zu töten. Derartige Programme erreichten die analphabetisierte Masse; sie waren beliebt und wurden gehört. Im Zentrum stand die immer wiederkehrende Behauptung, dass der Zionismus als inhärent expansive Ideologie den Islam zu zerstören suche. Je deutlicher sich die militärische Niederlage der Nazis abzeichnete, desto schriller wurden die arabischsprachigen Radio-Warnungen vor dem zionistischen Projekt.

 

Es besteht kein Zweifel, dass das Echo dieser Propaganda während der ersten Nachkriegsjahre im Nahen Osten weiter nachhallte. So berichten Historiker übereinstimmend, dass es 1948 vor allem der Druck der arabischen Straße war, der die zögerlichen Vertreter der Arabischen Liga zum Krieg gegen Israel trieb. Solch Wechselbeziehung zwischen aufgepeitschter Masse und arabischer Staatsführung wiederholte sich 1967, wenn auch in veränderter Form.

 

Natürlich konnte im Jahr 1967 – 22 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – von einer unmittelbaren Nachwirkung der Nazi-Propaganda keine Rede sein. Jetzt ging es darum, die arabische Niederlage von 1948, die man in der Zwischenzeit weder reflektiert noch wirklich zugegeben hatte, zu rächen. Jetzt präsentierte die arabische Straße ihre Quittung für die Taktik arabischer Herrscher, die Wut der Masse über selbstverschuldete Versäumnisse immer wieder auf Israel, dem allseits verfügbaren Sündenbock, zu lenken.

 

Doch hatten weder Israel noch der Zionismus den Krieg von 1967 provoziert. Nassers Zerstörungswut und die damit verbundene Begeisterung seiner Anhänger lassen sich nur dann verstehen, wenn wir den antisemitischen Impuls für den Nahen Osten mit in Rechnung stellen, der von der Nazi-Periode in die Nachkriegszeit und dann an die nächste Generation weitergegeben wurde.  Nasser und die ihn umgebende Stimmung waren beim Angriff auf Israel Eins: Der Präsident wurde von den denselben zerstörerischen Gefühlen ergriffen, die er bei den Massen erfolgreich zu entflammen verstand.

 

Es sind nicht Israel und der Zionismus, die diesen außergewöhnlichen Sachverhalt geschaffen haben, den wir als Nahostkonflikt zu bezeichnen pflegen, denn es gibt viele nationale Bewegungen und Dutzende neuer Staaten, die den Vereinten Nationen seit ihrer Gründung beigetreten sind. Das einzig Außergewöhnliche, das den jüdischen Staat zum Ausnahmestaat macht, ist der unablässige Aufruf, ihn zu zerstören. Dies galt 1948 und 1967; dies gilt mit Einschränkung auch noch heute. Kein anderer Staat der Welt ist mit dem Aufruf, ihn zu zerstören, konfrontiert.

 

„Es ist Zeit, die Demagogien zu beenden – Krieg mit Israel ist unmöglich!“ Nach diesem ungewöhnlichen Appell lud Golda Meir, die damalige Außenministerin, Habib Bourguiba nach Israel ein. Eine friedliche Lösung der Palästina-Frage, erklärte Meir im Frühjahr 1965, sei auch im Interesse der Araber, die in Not und Unsicherheit lebten. „Es ist ungerecht, dass diese Völker gezwungen werden, bis zu 70% ihres Volkseinkommens zu opfern, um sich auf einen Krieg vorzubereiten, der mörderisch ist und kein Problem löst.“ Diese prophetischen Worte, kurz vor dem Sechs-Tage Krieg ausgesprochen, gelten auch jetzt noch.

 

 

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