Israelische Musik

 

Gastbeitrag von Michelle Wolf.

 

 

Der wandernde Israeli

 

„Von Israel in die Welt und zurück nach Israel.“ Dies ist wahrscheinlich die kürzeste Zusammenfassung der jüdischen Geschichte. Und so lautet auch das Erfolgsrezept für viele israelische Musiker, welche in ihren Werken die Diaspora im modernen Israel aufleben lassen und auf unterhaltende Weise ein eigentlich tragisches jüdisch-gesellschaftliches Erbe aufleben lassen. Für manche ist es vor persönlichem Hintergrund, manche werden in ihrem Lebenslauf dazu inspiriert; auf jeden Fall entsteht ein bedeutender Beitrag, der die Macht hat, Kulturen näher zu bringen, und vielleicht sogar, die Geschichte neu zu schreiben.

 

Dass Musik verbindet, verstand der israelische Songwriter, Musikproduzent und Sänger Idan Raichel sehr gut. Durch Rastalocken gekennzeichnet, von osteuropäischer Abstammung, rief der Tel-Aviver vor etwas weniger als 15 Jahren das „Idan Raichel Project“ in die Welt. In diesen Musikalben arbeiteten an die 100 Musiker zwischen 16 und 91 Jahren aus der ganzen Welt zusammen. Unter der Leitung von Raichel, dem musikalischen Botschafter werden die Barrieren zwischen verschiedenen Kulturen gebrochen. Sein erster Erfolgshit entstand mit äthiopischen Sängern, nach einer Reise durch Afrika, gemischt auf Hebräisch und Amharisch:

The Idan Raichel Project - Boee Live

 

Der Israeli beschreibt, wie er ohne jegliche Etikette oder Hierarchie zusammen mit den Sängern in einem Halbkreis sass, und einfach zuschaute, was passierte – jeder Musiker konnte zeigen, was er drauf hat. Mit der Erscheinung des ersten Projektes im Jahre 2006 wurde Idan praktisch über Nacht weltweit berühmt. Ihm wurde sogar die Ehre erwiesen, vor Obama aufzutreten. Er tourt bis heute international mit verschiedenen Sängern aus seinen Kompositionen – und hat eine klare Vision für seine Heimat: „Zusammen performen ist unsere politische Botschaft. Wenn wir irgendwann palästinensische Musiker und solche aus dem Iran und Syrien dabei haben, dann gäbe es hier echten Frieden, nicht nur auf dem Papier, sondern Frieden mitten aus dem Volk.“ Der Künstler hat sich nun verabschiedet vom wilden Singleleben in Tel Aviv, die Haare abgeschnitten, und zieht, zusammen mit seiner deutschen Frau, zwei Töchter groß.

 

Al-Kuwaiti Brüder

 

Das sephardische Äquivalent Dudu Tassa ist der Friedens-Botschaft einen Schritt näher gekommen. Als einer der größten Namen in israelischem Rock, der sogar mit Radiohead tourte, stößt er auf seine irakischen Wurzeln, und findet heraus, dass Musik ihm wortwörtlich im Blut liegt: Sein Großvater und dessen Bruder waren einer der erfolgreichsten Musiker im Bagdad der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bekannt als die „Al-Kuwaiti Brüder“. Mehr als das – sie haben die irakische Musikkultur neu definiert und modern gemacht. In den 50er Jahren flohen sie zusammen mit 120.000 anderen irakischen Juden nach Israel, und ihr Status als Musiklegende wurde mit einem Schlag weggenommen – in Irak wurden die Namen der Al-Kuwaiti Brüder aus der Geschichte gelöscht und im jungen Israel erhielten sie keine Anerkennung, weil die Lieder auf Arabisch geschrieben waren. Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod seines Großvaters, beschließt der bereits bekannte Rockmusiker Dudu Tassa, die Musik der vergessenen Brüder wiederaufleben zu lassen, und kommt damit zum Höhepunkt seiner Karriere. Er nennt das kulturübergreifende Projekt „Dudu Tassa and the Kuwaitis“. Bis jetzt wurden zwei Alben herausgebracht. Der sephardische Musiker verbindet dafür die irakischen Lieder mit modernen Rock- und nahöstlichen Elementen – er macht sie reif für die israelische Audienz von heute. Es wirken auch viele arabische Sänger/-innen mit. Hier ein gelungenes Beispiel:

Dudu Tassa& The Kuwaitis

 

In anderen Veröffentlichungen rockt er nach wie vor auf Hebräisch, und gibt einen einmaligen arabisch geprägten Touch hinzu:

 

Bahinu Tainu

 

Da seine Kompositionen von historischer und politischer Bedeutung sind, wurde das erste Projekt von 2011 noch im selben Jahr verfilmt: „Iraq’n’roll“.

 

Dudu findet internationale Anerkennung und Beliebtheit, sogar in der arabischen Welt. Für ihn ist das von fundamentaler Bedeutung, denn es ist die einzige Möglichkeit, zu kommunizieren: „Ich wünschte wir könnten nach Bagdad und alle anderen Orte… und für sie spielen. Aber ich denke nicht, dass wir mit unseren Pässen reingelassen werden.“

 

Madonna des Ostens

 

Im Jahre 2016 wurden die letzten jemenitischen Juden zusammen mit einer über 500 Jahre alten Tora-Rolle aus dem Bürgerkriegsland rausgeholt. Damit wurde gleichzeitig auch eine über 2.000 Jahre alte Geschichte beendet, denn Jemen beherbergte eine der ältesten jüdischen Gemeinden außerhalb Israels. Die israelische Sängerin Ofra Haza gibt diesem Nachlass ein Gesicht. In einem Album, welches ihrer Familie – sie hatte 8 Geschwister – gewidmet ist, singt die ärmlich aufgewachsene Musikerin mündlich überreichte jemenitische Gedichte und Straßenlieder. Als ein englischer Musikproduzent Mitte der 80er auf ihre Musik stoß, wunderte sich ihr israelisches Plattenlabel, ob er nicht lieber etwas von ihren Pop-Liedern oder der Musik, mit der sie beim Eurovision Contest in München teilnahm, veröffentlichen wollte. Das Londoner Label GlobeStyle antwortete: „Nein, danke. Wir hätten gerne das Jemenitische.“ Schon bald war ihr Song „Im Nin’Alu“ weltweit im Radio zu hören, und die israelische Sängerin wurde bekannt als ‚Madonna des Ostens’.

Im Nin'Alu

 

1999 spielte sie Roger Armstrong einige ihrer selbst komponierten Lieder vor. Er war begeistert, doch diese Lieder wurden nie produziert – denn tragischerweise starb Ofra kurz danach an den Folgen einer AIDS Erkrankung.

 

Die aktuellste jüdische Massenauswanderung kommt aus Frankreich, wo der Antisemitismus der muslimischen Gesellschaft immer stärker ausschreitet. Und trotz der schwierigen Umstände tragen die Immigranten dazu bei, Israel noch facetten- und kulturreicher zu machen. Bei der TV-Show „The Voice of Israel“ haben zum Beispiel vor einigen Jahren zwei junge Frauen einen französischen Klassiker vorgesungen –

Une Belle Histoire

 

Denn wie für die Beiden, endete für alle diese Künstler die Reise in Israel. Idan Raichel bezeichnet seine Heimat als „Schatz der Kulturen“ und trifft es sehr gut. Die israelische Gesellschaft ist, trotz inniger Streitigkeiten, ein Vorzeigebeispiel eines Sammelbeckens, welches sich mit traditionellen und kulturellen Unterschieden neu definieren konnte – als ein Volk. Doch dazu mehr im nächsten Artikel.

 

Wenn ich dich vergesse, oh Jerusalem

 

Über 2000 Jahre lang war das jüdische Volk in der Welt zerstreut. Von Ort zu Ort ist es gewandert, und siedelte sich stets dort an, wo man es gerade nicht auf dem Scheiterhaufen sehen wollte. Es passte sich an neue Zeitalter und Kulturen an, und entwickelte verschiedene Traditionen und Bräuche, je nachdem, wo es residierte.

 

Ohne heiligen Tempel und ohne politische Souveränität blieben die Juden trotz lokaler Ausbreitung ein einziges, vereintes Volk. Was hielt sie zusammen? Die Einhaltung der biblischen Überlieferungen, die Hoffnung auf den Messias, und der Glaube an die Rückkehr ins Heilige Land.

 

Im Eshkachech

 

Yaakov Shwekey singt aus dem Psalm 137, „Wenn ich dich vergesse, oh Jerusalem, soll meine rechte Hand verdorren.“ Der Sänger und Entertainer ist ein perfektes Beispiel für das kulturelle Erbe, welches ein Jude heutzutage tragen kann: Seine Mutter ist aschkenasisch aus Osteuropa, sein Vater mizrachi (orientalisch) mit ägyptisch-syrischem Hintergrund, und er selbst ist orthodox in Mexiko aufgewachsen. Seine weltweit erfolgreichen Musikalben, auf Englisch und Hebräisch aufgenommen, behandeln religiöse sowie kulturelle jüdische Themen. In dem Lied „We are a Miracle“ erzählt er von der langen Reise, welches sein Volk auf sich nehmen musste, um heute als selbstständige, freie Nation zu existieren. Und diese Nation unterstützt er mit Herz und Seele – 2013 singt er live in Tel Aviv ein Gebet für israelische Soldaten:

 

Mi SheBarach LeChayalim Live

 

„Der, der einst unsere Stammväter […] segnete; möge er die Kämpfer der IDF segnen, die über unser Land und die Städte des Allmächtigen wachen…“. Dieses Gebet hinterlässt solch einen enormen Eindruck, dass es nun in Synagogen auf der ganzen Welt am Schabbat und an Feiertagen vorgetragen wird.

 

Choseret Le’Tschuva – den religiösen Weg einschlagen

 

Etti Ankri ist unter ärmlichen Verhältnissen in einer tunesisch-jüdischen Familie aufgewachsen. Sie entschloss sich, ihrer Leidenschaft nachzugehen, und Musik in einer angesehenen Hochschule zu lernen. Fortan führt sie eine erfolgreiche Karriere als israelische Sängerin, Songwriterin, Komponistin und Schauspielerin, die in Israel gleich zwei Mal zur Sängerin des Jahres gekürt wurde. Ihre Melodien basieren auf moderner Mainstream-Musik, die sie mit traditionellen sephardischen Elementen vermischt. „Ya-Amena“ ist der Name ihres neuesten Albums aus dem vorigen Jahr. Das Außergewöhnliche daran ist, dass die jüdisch-religiösen Inhalte von ihr auf Arabisch gesungen werden. In einem Interview mit dem israelischen Online-Magazin „Srugim“ erzählt sie, dass sie erst vor Kurzem herausfand, dass die Muttersprache ihrer Eltern eigentlich Arabisch ist. Die Musikerin selbst ist in Israel geboren, doch die Wahrnehmung des Exils sei ein unzertrennlicher Teil von ihr. Dieses Lied zum Beispiel, welches den Schabbat willkommen heißt, wird von einer aufregenden Bildergeschichte begleitet, welche Etti selbstständig in den Sand zeichnet.

Baruch HaBa BeShabbat

 

Um die Jahrtausendwende herum drehte die Musikerin ihr Leben um und kehrte sich dem orthodoxen Judentum zu. Das hatte einen gewaltigen Einfluss auf die Musik, die sie komponierte. 2009 erschafft die Künstlerin ihren vielleicht bedeutendsten Nachlass: sie nimmt die fast 1.000 Jahre alten Gedichte, die vom Rabbiner, Arzt und Philosophen Jehuda HaLevi in biblischem Hebräisch verfasst wurden, und komponiert sanfte, authentische Melodien dazu. Das kulturellen Erbe erhält ein neues, bewegendes Gesicht.

 

Yefe Nof

Der bedeutendste sephardische Poet des Mittelalters HaLevi verließ seine Heimat Spanien, um nach Jerusalem zurückzukehren. Tragischerweise würde er die „Yefe Nof“ (schöne Aussicht) über die heilige Stadt nie bewundern können, denn auf dem Weg dahin verstarb er. Sein gleichnamiges Gedicht bedauert die bodenständige, zertrümmerte Stadt, die Jerusalem zu seiner Zeit während den Kreuzzügen war, in Kontrast zu dem himmlischen, herrlichen Reich das es zu biblischen Zeiten reflektierte und wieder werden musste.

 

Es war einmal…

 

Wir schreiben das Jahr 1905, und befinden uns in einem kleinen Ort im tiefen Osteuropa. Es ist nicht nur irgendein Ort, sondern ein Schtetl – ein Dorf, in dem sich vorwiegend Juden ansiedeln, in dem hauptsächlich auf Jiddisch gesprochen wird, in dem das Leben nach biblischen Vorschriften zum Alltag gehört. Wie die Spielregeln im Schtetl aussahen, wird im verfilmten Musical „Anatevka“ sehr spezifisch erklärt:

 

Fiddler on the roof – Tradition, englische Version

Doch ganz so geregelt ging es leider nicht. Etwa zeitgleich begann die zweite Alija-Welle, in der an die 40.000 eben dieser russischen Juden auswanderten. Die jüdische Minderheit war dem Antisemitismus, der sich in blutige, grausame Pogrome ausdehnte, hilflos ausgesetzt. Leider sollte sich die Lage in Osteuropa auch nicht verbessern. 40 Jahre später, 1945, war dieses einst florierende jüdische Leben völlig ausgelöscht. Die wenigen, die den Holocaust überlebten, flohen hauptsächlich Richtung Israel oder Amerika.

 

So auch der Vater von Mordechai Werdyger, David Werdyger, ein Krakauer Jude, der sein Leben Schindler’s Liste zu verdanken hat. In New York startete er eine erfolgreiche Karriere als Kantor für chassidische Musik, und auf diesem Nachlass wollte sein Sohn aufbauen. Er nannte sich so, wie man ihn heute weltweit als König der jüdischen Musik anerkennt: Mordechai Ben David („Mordechai, Sohn von David“). Der weltberühmte chassidische Sänger und Songwriter brachte in 40 Jahren über 30 Alben heraus. Er basiert seine Lieder auf biblischen Gedichten und Auszügen, performt auf Englisch und Neuhebräisch über religiöse Themen, oder bringt die Texte der chassidischen osteuropäischen Juden auf Jiddisch wieder zum Leben. Im Gegensatz zu seinem Vater und vielen andere Kantoren, die dieselben Texte zu den herkömmlichen, klassischen Melodien sangen, benutzt Mordechai Ben David zeitgenössischen Pop, um seine Lieder so fröhlich und lebendig aufzupeppen, wie wir sie heute von jüdischen Hochzeiten oder anderen Partys kennen:

Mashiach live

Leidenschaftlich singt er über die Sehnsucht nach dem Messias. Doch der Künstler benutzt sein Talent nicht nur zum Vergnügen, sondern auch, um in öffentlichen Affären hinter seinem Volk zu stehen. So entsteht Mitte der 80er der Hit und das gleichnamige Album „Let my people go“, dessen Titel an den Auszug aus Ägypten erinnert. Mordechai Ben David schreibt den Song als Forderung, zwei Juden aus sowjetischer Gefangenschaft zu befreien und die kommunistische Diktatur zu beenden: „Always have in mind; our brothers left behind; trapped in the iron curtain; […] Enough of your bluff and hurtin’; […] Let my people go!“ [Auszug aus dem Songtext zu „Let my people go“]. Fast zehn Jahre später protestiert der weltbekannte Musiker mit dem Lied „Yerushalayim“ gegen die geplante Teilung Jerusalems nach den ersten Osloer Verträgen. Es gibt zwei Versionen, auf Hebräisch und auf Englisch. Seine allgegenwärtige Message ist ganz klar: Jerusalem, wir werden dich nie wieder verlassen! Und sein Volk steht auch hinter ihm.

 

IDF-Soldaten marschieren zur Klagemauer mit Mordechai Ben David’s „Anachnu Maaminim“

 

 

Michelle Wolf entstammt einer Wiener Familie, ist in München aufgewachsen und lebt nun in Israel. Sie studiert Government an der IDC in Herzliya mit Spezialisierung auf Counter-Terrorism und Conflict Resolution.

 

zurück zum Inhaltsverzeichnis