Krieg gewonnen - und nun?

 von Marcel Serr

 

Israel und die Westbank

 

Kaum ein militärischer Konflikt stellte die politischen Verhältnisse einer Region in so kurzer Zeit so fundamental auf den Kopf wie Israels Sechstagekrieg vor 50 Jahren. Der junge jüdische Staat sah sich im Mai 1967 mit einem drohenden Angriff Ägyptens, Jordaniens und Syriens konfrontiert. Am Morgen des 5. Juni führte die israelische Luftwaffe einen Präventivangriff durch, der in wenigen Stunden die gesamten gegnerischen Luftstreitkräfte neutralisierte. Gleichzeitig eroberten die israelischen Streitkräfte (IDF) den Sinai und den Gazastreifen von Ägypten, die Westbank (einschließlich Ost-Jerusalemer mit der Altstadt) von Jordanien und die Golanhöhen von Syrien. Damit besetzte Israel in sechs Tagen ein Gebiet, das mehr als dreimal größer war als das eigene Staatsterritorium.

 

Nun stellte sich die Frage: Was sollte Israel mit den eroberten Gebieten anfangen? Dabei fanden die israelischen Entscheidungsträger für die verschiedenen Territorien unterschiedliche Antworten. Diese entstammten weniger einem strategischen Masterplan, sondern entstanden – ganz typisch für Israels Politik – eher spontan und inkrementell.

 

Die Eroberung der Sinaihalbinsel gab Israel nach dem Prinzip „Land für Frieden“ die Möglichkeit, mit Ägypten, dem militärisch stärksten Nachbarstaat, den ersten Friedensvertrag mit einem arabischen Staat zu schließen (1979). Israel zog sich daraufhin bis 1982 vollständig aus dem Sinai zurück.

 

Die Besatzung der Golanhöhen bedeutete eine wesentliche Verbesserung der strategischen Lage für Israel. Syriens Artillerie war es stets möglich gewesen, Galiläa unter Beschuss zu nehmen. Mit der Eroberung war dieses Sicherheitsrisiko beseitigt. Im Dezember 1981 annektierte Israel die Golanhöhen formell. Friedensverhandlungen über eine Rückgabe an Syrien scheiterten 1999; auch weil ein Abzug in Israel sehr unpopulär war und bis heute ist. Seit dem Kollaps Syriens im Bürgerkrieg erweist sich der Golan als strategisches Asset für Israel. Eine Rückgabe steht daher nicht in Aussicht.

 

Der Gazastreifen war deutlich schwerer zu kontrollieren. Das dicht bevölkerte, schmale Gebiet war unter der ägyptischen Besatzung in Armut versunken. Es bot keine strategischen Vorteile für Israel und war ein Hort des palästinensischen Widerstands. Israels Premierminister Ariel Sharon entschied sich daher 2005 zum unilateralen Rückzug, was allerdings der Machtergreifung der Hamas den Weg ebnete.

 

Am stärksten beeinflusste Israels weitere Entwicklung jedoch die Eroberung des Westjordanlandes bzw. Judäas und Samarias (nach israelischem Verständnis). Israel annektierte Ost-Jerusalem 1980 und kontrolliert heute noch 60 Prozent der Westbank, weshalb es unter massiver internationaler Kritik steht. Die UN-Resolution 2334 vom Dezember 2016 rückte diesen Sachverhalt wieder einmal in den Fokus und warf Israels Siedlungspolitik vor, gegen internationales Recht zu verstoßen.

 

Was bezweckt Israel mit der fortdauernden Präsenz in der Westbank? Ohne die gemeinhin vorgebrachte religiös-nationale Motivation gänzlich von der Hand zu weisen, soll hier gezeigt werden, dass Israels Präsenz im Westjordanland jedoch primär sicherheitspolitischen Erwägungen folgt. Einem historischen Überblick schließt sich eine Betrachtung der völkerrechtlichen und sicherheitspolitischen Perspektive an.

 

Die Annexion Jerusalems

 

Einen Tag nach der Gründung Israels am 14. Mai 1948 erklärten fünf arabische Länder dem jüdischen Staat den Krieg. Im folgenden israelischen Unabhängigkeitskrieg eroberte Jordanien das Westjordanland mitsamt dem östlichen Teil Jerusalems, einschließlich der Altstadt. Die gesamte jüdische Bevölkerung des von den Jordaniern eroberten Gebietes wurde vertrieben. Damit war Juden der Zugang zum wichtigsten jüdischen Heiligtum, der Klagemauer, verwehrt. Die israelische Eroberung der Altstadt im Sechstagekrieg markiert daher eine Zäsur in der jüdischen Geschichte. Gleichzeitig beherbergt die Altstadt mit dem Haram ash-Sharif die drittheiligste Stätte des Islam. Der Weitsicht des israelischen Verteidigungsministers Moshe Dayan ist es zu verdanken, dass Israel einen tragfähigen Kompromiss fand: Zwar sollte es allen ungeachtet ihrer Glaubenszugehörigkeit möglich sein, den Ort zu betreten, aber nur Muslimen war es gestattet, auf dem Plateau zu beten. Den Juden war es dagegen erlaubt, an der westlichen Umfassungsmauer des Tempelbergs zu beten (Nach jüdischer Tradition war die Präsenz Gottes nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer 70 n. Chr. auf die nächstgelegene, westliche Umfassungsmauer des Tempelberges übergegangenen – der West- bzw. Klagemauer). Außer in Sicherheitsfragen gestand Dayan in allen Angelegenheiten dem Waqf, der verantwortlichen religiösen Stiftung, weitgehende Autonomie zu. Dieser Status Quo gilt bis heute.

 

Israel annektierte Ost-Jerusalem de facto im Juni 1967, indem es die eigenen Gesetze und Souveränität über den ehemals jordanischen Sektor ausdehnte. Formalisiert wurde die Annexion durch das sog. Jerusalemgesetz 1980, das jedoch international nicht anerkannt ist.

 

Westbank: Unsichtbare Besatzung?

 

Moshe Dayan wurde zum Architekten der israelischen Besatzung in der Westbank. Er schärfte den IDF ein, dass sie nicht in das alltägliche Leben der Araber intervenieren sollen: „Gebt ihnen das Gefühl, der Krieg sei vorbei und nichts hat sich verändert.“ Die israelische Militäradministration beschäftigte tausende Palästinenser als Lehrer, Sozialarbeiter, Mediziner, Polizisten und Beamte. Tatsächlich begegneten die Palästinenser im alltäglichen Leben daher in erster Linie Landsleuten und nur selten Israelis.

 

Als zentrales Kontrollmerkmal der israelischen Administration entstand ein rigides System von Genehmigungspflichten. Die Araber mussten nun für viele Handlungen eine israelische Einwilligung einholen, sei es für den Hausbau oder eine Auslandsreise. Dazu war häufig ein Gespräch mit Vertretern des israelischen Inlandsgeheimdienstes notwendig, was eine weitgehende geheimdienstliche Durchdringung der palästinensischen Gebiete ermöglichte.

 

Ein weiteres Merkmal ist die israelische Siedlungspolitik. Yigal Allon, stellvertretender Premierminister 1967-74, sah in den Siedlungen eine wesentliche Komponente für Israels Sicherheit. Er schlug vor, einen 10 bis 15 km breiten Landstreifen entlang des westlichen Jordanufers zu annektieren und dort einen dichten Siedlungsgürtel zu etablieren. Dieser würde Israel mit der notwendigen Pufferzone bei einem Angriff versorgen. Dayan plädierte dafür, auf strategischen Höhenlagen der Westbank israelische Siedlungen zu errichten und diese durch Infrastruktursysteme an Israel anzubinden. Beiden Ansätzen war in klassisch-zionistischer Manier gemein, durch den Bau wehrhafter Siedlungen Israels strategische Lage zu verbessern. Doch erst mit dem Wahlsieg Menachem Begins 1977, der die Westbank – das biblische Judäa und Samaria – als integralen Bestandteil Israels betrachtete, nahm der Siedlungsbau einen deutlichen Aufschwung.

 

Israels Besatzung führte zu einem erheblichen Modernisierungsschub in der Westbank. Unter israelischer Anleitung führten die arabischen Bauern moderne Impfungen für Nutztiere, Bewässerungssysteme und landwirtschaftliches Equipment ein. Darüber hinaus führte die Öffnung des israelischen Arbeitsmarktes für die Palästinenser zu einem erheblichen Rückgang der Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Aufschwung in der Westbank.   

 

Mit dem Ausbruch der Ersten Intifada im Dezember 1987 war es mit der verhältnismäßigen Ruhe in den palästinensischen Gebieten zu Ende. Israel sah sich mit einem Aufstand konfrontiert, dessen Ursachen vor allem in sozioökonomischen Faktoren wurzelten. Die Lebensbedingungen der Palästinenser hatten sich zwar erheblich verbessert, doch nach wie vor klaffte eine erhebliche Lücke zu den Israelis. Für gut ausbildete palästinensische Jugendliche gab es zudem zu wenige qualifizierte Jobs. Daneben spielten auch islamistische Gruppen wie die Hamas eine Rolle in der Radikalisierung der Palästinenser. Die IDF griffen zu harten Gegenmaßnahmen: Kollektivstrafen wie Ausgangssperren und Hauszerstörungen nahmen dem Aufstand zusehends den Wind aus den Segeln.

 

Im Juli 1988 entschied Jordaniens König Hussein, die Verantwortung über die Westbank vollständig der Palestine Liberation Organization (PLO) zu übertragen und gab damit seine territorialen Ansprüche auf. Jassir Arafat nutzte am 15. November die Gunst der Stunde und erklärte, „die Gründung des Staates Palästina“ in der Westbank, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem. Damit akzeptierte er erstmals implizit das Existenzrecht Israels. Wenig später bestätigte Arafat dies auf einer Pressekonferenz und schwor dem Terror ab.

 

Das Gaza-Jericho-Abkommen

 

Dieser Schritt eröffnete den Weg zu geheimen Gesprächen zwischen der PLO und Israel in Oslo 1993, die zur gegenseitigen Anerkennung führten. 1994 unterzeichneten Israel und die PLO das Gaza-Jericho Abkommen, das den Rückzug Israels aus einem Großteil des Gazastreifens sowie aus Jericho vorsah. Arafat übernahm als Kopf der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) die Macht in Gaza.

 

Anfang 1995 begannen die Verhandlungen über den weiteren Rückzug Israels. Die Westbank wurde in 3 Bereiche eingeteilt. In den sogenannten A-Gebieten mit den palästinensischen Bevölkerungszentren war allein die PA verantwortlich. In den B-Gebieten war die PA in zivilen Angelegenheiten zuständig, teilte sich aber den Sicherheitsbereich mit Israel. In den C-Gebieten, wo sich die israelischen Siedlungen befanden, hatte Israel die volle Kontrolle. Heute erstrecken sich die A und B-Gebiete auf 40 Prozent der Westbank und über 90 Prozent der palästinensischen Bevölkerung, die dort unter Verwaltung der PA leben. Parallel dazu ging der israelische Siedlungsbau in den C-Gebieten (60 Prozent der Westbank) weiter: Von 1993 bis 2000 erhöhte sich die Zahl der Siedler in der Westbank von 117.000 auf 200.000 und im Gazastreifen von 3.000 auf 6.700. Gleichzeitig kam es zu verheerenden Terroranschlägen der Palästinenser gegen Israel, die 1993 bis 2000 über 260 Israelis das Leben kosteten.

 

Camp David und die Folgen

 

Mit dem Regierungsantritt Ehud Baraks 1999 nahm der Friedensprozess wieder Fahrt auf. Barak drängte auf ein Gipfeltreffen mit Arafat. Israels Sicherheitskreise warnten ihn jedoch, dass Arafat nicht an einem Kompromiss interessiert wäre und ein Scheitern der Gespräche für eine gewaltsame Eskalation missbrauchen würde. Barak ging das Risiko ein. In einem dramatischen Vorstoß schlug Israels Premierminister bei den Verhandlungen in Camp David im Juli 2000 vor, sich aus den palästinensischen Gebieten zurückzuziehen und lediglich 9 Prozent der Westbank zu annektieren, wofür die Palästinenser mit Land beim Gazastreifen kompensiert würden. Jerusalem sollte geteilt werden. Barak ging damit so weit wie kein israelischer Premier vor ihm. Clinton war begeistert; Arafat hingegen lehnte ohne Gegenvorschlag ab – die Gespräche waren gescheitert.

 

Wenige Wochen später wurde der Besuch Ariel Sharons auf dem Tempelberg zum Auslöser der Zweiten Intifada. Mit palästinensischen Terroranschlägen in Cafés, auf Märkten und in Geschäften rückten nun israelische Zivilisten ins Visier. Premierminister Sharon ließ die IDF zeitweilig wieder in die palästinensischen Städte einmarschieren. 2005 brach der Aufstand sukzessive zusammen. Rund 1.000 Israelis waren palästinensischen Terroranschlägen zum Opfer gefallen; auf palästinensischer Seite starben 5.000 Menschen.

 

Sharon setzte auf die Separierung von Israelis und Palästinensern mit dem Bau einer Sicherheitsbarriere, die Israel massive internationale Kritik einbrachte. Dabei erwies sich insbesondere der Verlauf der Barriere meist auf palästinensischem Gebiet als größter Kritikpunkt.

 

2005 entschied sich Sharon zudem zur unilateralen Räumung der 21 Siedlungen im Gazastreifen, womit er internationale Anerkennung erntete. Als „Belohnung“ verfasste Präsident Bush einen Brief, indem er Israel zugestand, dass es aufgrund der israelischen Siedlungsblöcke in der Westbank unrealistisch sei, zu erwarten, dass sich Israel vollständig auf die Grenzen vor dem Sechstagekrieg zurückziehe.

 

Die Lage an der Gaza-Front

 

Doch der Rückzug erwies sich als Pyrrhussieg für Israel: Bei den Wahlen zum palästinensischen Parlament im Januar 2006 fuhr die Hamas einen überraschenden Sieg ein. Die Wahl löste einen palästinensischen Bürgerkrieg aus, der mit der Machtergreifung der Hamas im Gazastreifen im Juni 2007 endete. Damit wurden jährlich hunderte Raketenangriffe zur primären Sicherheitsbedrohung für Israel an der „Gaza-Front“. Aufgrund der anhaltenden Raketenangriffe führte Israel mehrere Militäroperationen gegen die Hamas im Gazastreifen durch. Trotz Bemühungen Israels die Zahl ziviler Opfer so gering wie möglich zu halten, kam es dabei zu erheblichen Verlusten und Zerstörungen, da die Hamas die Zivilbevölkerung als Schutzschilde missbrauchte.

 

2015/16 waren ruhige Jahre an der Gaza-Front. Doch die Hamas rüstet sich bereits zum nächsten Waffengang, sodass eine erneute Eskalation nur eine Frage der Zeit ist. Dagegen kam es in der Westbank und Jerusalem zu einer erneuten palästinensischen Terrorwelle.

 

Die Siedlungen in der Westbank

 

Derzeit leben rund 380.000 Menschen in 121 offiziellen Siedlungen in der Westbank, der Großteil in den Siedlungsblöcken. Seit Anfang der 1990er Jahre entstanden keine neuen legalen Siedlungen mehr. Doch bestehende Siedlungen werden weiter ausgebaut und die Siedlerbewegung etabliert nach wie vor illegale „Außenposten“. Dennoch nimmt die Bebauung der Siedlungen lediglich 1,7 Prozent der Westbank ein.

 

Während die Obama-Administration ihre Ablehnung des Siedlungsbaus deutlich zum Ausdruck brachte, scheint Donald Trump eine gemäßigtere Linie zu verfolgen. Ob sich dieser Eindruck bestätigt, bleibt noch abzuwarten. Derweil hat die Regierung Netanyahu Ende Januar/Anfang Februar den Bau von 6.000 neuen Wohneinheiten in bestehenden Siedlungen angekündigt.

 

Das Westjordanland im Völkerrecht

 

Häufig wird Israels Präsenz in der Westbank als völkerrechtswidrig bezeichnet (so jüngst auch in der UN-Resolution 2334). Dabei wird meist die besondere Vorgeschichte des Westjordanlandes außer Acht gelassen. Zuletzt war dessen Zugehörigkeit im britischen Mandatsgebiet Palästina zweifelsfrei geregelt (1922 bis 1948). Die UN hatte im November 1947 in der Resolution 181 empfohlen, das Mandatsgebiet in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen. Während die jüdischen Vertreter diesen Vorschlag akzeptierten, lehnten die Araber ihn ab. Am 14. Mai 1948 rief David Ben-Gurion den Staat Israel aus. Einen Tag später marschierten Ägypten, Jordanien, Syrien, Libanon und Irak mit dem Ziel in Israel ein, den jüdischen Staat zu vernichten. Israel schlug die Invasoren zurück und der Krieg endete mit bilateralen Waffenstillstandsabkommen; die Waffenstillstandslinien (Grüne Linie) wurden Israels temporäre Grenzen. Jordanien besetzte die Westbank in einem Angriffskrieg und annektierte sie 1950, ungeachtet der UN-Resolution, die das Gebiet für einen palästinensischen Staat vorgesehen hatte. 1988 gab Jordanien die Ansprüche auf das Gebiet auf.

 

Aufgrund dieser Vorgeschichte kam die Levy-Kommission, die 2012 von Israels Regierung beauftragt worden war, den rechtlichen Status der Westbank zu klären, zu dem Ergebnis, dass das Westjordanland nicht als besetztes Gebiet gelten kann, da es zuvor nicht der rechtmäßigen Souveränität eines anderen Staates unterstand. Insofern lässt sich die Westbank adäquater als umstrittenes Territorium beschreiben, auf das sowohl Israel als auch die Palästinenser Ansprüche erheben. Die Klärung dieser territorialen Streitigkeiten obliegt bilateralen Verhandlungen der Konfliktparteien.

 

Unabhängig davon, ob man dieser Argumentation folgt, ist der häufig vorgebrachte Verweis auf Art. 49 der 4. Genfer Konvention, der es einer Besatzungsmacht untersagt, eigene Bevölkerung in das besetzte Gebiet zu transferieren, irreführend. Diese Regelungen entstanden unter direktem Eindruck der NS-Bevölkerungspolitik in Ost-Europa. Derartige gewaltsame Bevölkerungstransfers lassen sich nur schwer mit der freiwilligen Ansiedlung von Juden vergleichen. Zumal es sich dabei um ein Gebiet handelt, das die historische, kulturelle und religiöse Wiege der jüdischen Geschichte darstellt, die 3.000 Jahre zurückreicht.

 

Darüber hinaus gilt zu berücksichtigen, dass die bilateralen Abkommen zwischen Israel und den Palästinensern kein Verbot des Siedlungsbaus vorsehen. Die Problematik der Siedlungen und Grenzen sind einem finalen Friedensabkommen vorbehalten. Im israelisch-palästinensischen Interims-Abkommen kamen beide Parteien überein, dass die PA keine Jurisdiktion und Kontrolle über die israelischen Siedlungen hat und dass die Siedlungen allein israelischer Jurisdiktion unterliegen.

 

Ob Israel ein wie auch immer geartetes Recht auf die Präsenz in der Westbank hat, ist letztlich ein akademisches Problem. Die wichtigere Frage lautet: Was ist Israels Interesse an der Präsenz im Westjordanland? Zweifelsohne spielen dabei religiöse Überzeugungen eine Rolle – vorangetrieben insbesondere im zivilgesellschaftlichen Bereich durch die national-religiöse Bewegung. Doch der Kern der israelischen Präsenz im Westjordanland ist Israels Sicherheit – konkret: Israels Streben nach Grenzen, die im Falle eines Angriffs eine effektive Verteidigung zulassen.

 

Die historischen Hintergründe für die besondere Sensibilität Israels in Sicherheitsfragen liegen auf der Hand. In der Shoa stand das jüdische Volk vor der Vernichtung, drei Jahre später kämpfte der junge jüdische Staat gegen fünf arabische Staaten um sein Überleben. Azzam Pasha, Generalsekretär der Arabischen Liga, hatte im Mai 1948 unzweideutig ausgerufen: „Dies wird ein Vernichtungskrieg sein…“ In den folgenden Jahren musste Israel 1967 einen Dreifrontenkrieg ausfechten und sah sich 1973 mit einem Überraschungsangriff an zwei Fronten konfrontiert. Bis heute existiert Israel in einer äußerst feindlichen Umwelt. Darüber hinaus sind die politischen Entwicklungen im Nahen Osten volatil und nur schwer vorhersehbar. Es ist also kaum verwunderlich, dass sicherheitspolitische Bedürfnisse absolute Priorität in Israels Politik genießen.

 

Mit Blick auf die Westbank ist das Konzept der „verteidigbaren Grenzen“ entscheidend. Israel kann es sich nicht leisten, eine große Armee ständig unter Waffen zu halten. Daher verfügen die IDF über einen kleinen Kern an Berufssoldaten. Ein wesentlicher Teil der Streitkräfte stellen Wehrdienstleistende; zum Großteil besteht die Armee allerdings aus Reservisten, die im Ernstfall mobilisiert werden. Im Falle eines Angriffes müssen die Berufssoldaten und Wehrdienstleistenden die Angreifer solange aufhalten, bis die Reserve mobilisiert ist (24 bis 48 Stunden). Angesichts des militärischen Übergewichts der arabischen Nachbarstaaten ist es für Israel notwendig, über einen günstigen Grenzverlauf zu verfügen, der topografische und taktische Vorteile bietet und den Streitkräften Manövrierspielraum im Inneren lässt.

 

Die Notwendigkeit der strategischen Tiefe

 

Es ist unmöglich vorherzusagen, wer mittelfristig die palästinensische Entität in der Westbank regieren wird. Die Regierung Abu Mazens (Mahmud Abbas) ist von Korruption, Nepotismus und Machtmissbrauch geprägt. Daher ist eine Machtergreifung der Hamas durchaus vorstellbar. Damit besteht die Gefahr, dass die Westbank (ähnlich wie der Gazastreifen) zum Ausgangspunkt für Raketenangriffe auf Israel wird. Ein solches Szenario wäre fatal, denn Israels Bevölkerungszentren an der Mittemeerküste lägen damit in unmittelbarer Reichweite selbst einfacher Mörser und Raketen.

 

Eine Rückkehr zur „Grünen Linie“ (der Waffenstillstandslinie von 1949) ist daher sicherheitspolitisch inakzeptabel für Israel, da sie Israel keine strategische Tiefe bot. 1955 schrieb Moshe Dayan, damals IDF-Stabschef, das ganze Land sei ein Grenzgebiet. An der schmalsten Stelle ist die Distanz zwischen der Westbank und der dicht besiedelten israelischen Mittelmeerküste 14 km. Ein militärischer Vorstoß an dieser Stelle würde Israel mit Leichtigkeit zweiteilen. Daher wundert es nicht, dass bislang keine israelische Regierung die vollständige Rückkehr zu den Waffenstillstandslinien ins Auge fasste. Dies gestand selbst die UN-Resolution 242 als Reaktion auf den Sechstagekrieg zu. Sie forderte Israel auf, sich aus einigen eroberten Gebieten zurückziehen, nicht aber aus allen.

 

Israel geht es in der Westbank nicht um die Annexion von Territorium per se, sondern um unverzichtbare Sicherheitsbedürfnisse. Israel war in der Vergangenheit bereit zu territorialen Kompromissen (siehe Sinai und Gaza), aber in Sicherheitsfragen besteht wenig Spielraum. Mit Blick auf die Westbank sind drei Punkte aus israelischer Sicht entscheidend:

 

1. Die Kontrolle des Jordangrabens ist ein strategischer Imperativ für Israels Sicherheit, um zum einen das Eindringen von Kämpfern und Waffen zu verhindern (wie an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen); zum anderen bietet der Jordangraben eine optimale topographische Verteidigungslinie.

 

2. Eine zukünftige palästinensische Entität muss demilitarisiert sein. Eine ähnliche Situation wie derzeit im Gazastreifen gilt es in der Westbank zu vermeiden.


3. Israel wird die großen Siedlungsblöcke vermutlich annektieren, denn sie gewährleisten ein Minimum an strategischer Tiefe und in ihnen konzentrieren sich ca. 80 Prozent aller Siedler.

 

 

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