Künstliche Befruchtung

 

"Seid fruchtbar und mehret euch!"

 

 

 

Wie Israel zu einem internationalen Hotspot der Reproduktionsmedizin geworden ist. Ein Gastbeitrag von Mareike Enghusen.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf zeit.de

 

In Israel wird die In-vitro-Fertilisation (IVF) von der öffentlichen Krankenkasse bezahlt.

 

Im oberen Kühlschrankfach von Sarit Ohayon und Haggai Anson steht ein Stapel weißer Medikamentenschachteln. Darin liegen Hormonpräparate, von denen sich die Israelin Sarit Ohayon morgen eines in den Bauch spritzen wird. Die Hormone sollen ihre Eierstöcke stimulieren, mehrere Eizellen zugleich reifen zu lassen, und damit ihre Chance erhöhen, sich einen Lebenstraum zu erfüllen: endlich ein Kind zur Welt zu bringen.

 

Sarit Ohayon, 38, und ihr Partner Haggai Anson, 42, leben in Herzlia, einer Küstenstadt nördlich von Tel Aviv. Seit anderthalb Jahren wünschen sie sich ein Kind, seit einem Jahr gehen sie dafür in eine Fruchtbarkeitsklinik. Die Hormonbehandlung, der Ohayon sich unterzieht, ist Bestandteil der In-vitro-Fertilisation (IVF), einer Methode zur künstlichen Befruchtung, bei der ein Arzt der Frau Eizellen entnimmt, sie im Labor mit den Samenzellen des Partners zusammenführt und, bei erfolgreicher Befruchtung, den Embryo in die Gebärmutter der Frau einsetzt. Oft sind mehrere Versuche notwendig, die Prozedur zieht sich hin und zehrt an Körper und Nerven. "Die Hormone schlagen mir auf die Stimmung", sagt Ohayon. "Und ich leide dann darunter!", ergänzt Anson.

 

Doch wenigstens um einen Aspekt müssen die beiden sich nicht sorgen: die Finanzierung. Die Kosten der Behandlungen trägt die öffentliche Krankenkasse, so lange, bis Sarit Ohayon schwanger wird, so verlangt es das israelische Gesetz. Eine Regelung, die einzigartig ist auf der Welt.

 

Zum Vergleich: In Deutschland kostet eine einzige IVF-Behandlung einschließlich Medikamente um die 5.000 Euro. Krankenkassen übernehmen einen Teil der Kosten, die Patienten müssen dennoch pro Versuch mehrere Tausend Euro hinlegen. In Israel dagegen zahlt die Krankenkasse, bis eine Frau zwei Kinder geboren hat – sogar wenn sie selbst oder ihr Partner schon Kinder aus einer früheren Partnerschaft haben. Selbst alleinstehende Frauen können sich kostenfrei behandeln lassen. Das "Recht auf Elternschaft" ist ein gängiges Konzept in israelischer Rechtsprechung und öffentlicher Debatte.

 

Gemessen an der Einwohnerzahl werden in Israel deshalb mehr IVF-Behandlungen durchgeführt als in jedem anderen Land der Welt. Auch andere Formen künstlicher Befruchtung sind weit verbreitet und sozial akzeptiert. Als erstes Land überhaupt erlaubte Israel 1996 verheirateten Paaren, ihr Kind von einer Leihmutter austragen zu lassen. Im Juli dieses Jahres weitete die Knesset, das israelische Parlament, das Gesetz auf alleinstehende Frauen aus. Und seit 2011 erkennt die Rechtsprechung sogar ein Recht auf Großelternschaft an: In jenem Jahr entschied ein israelisches Gericht, dass ein Paar das eingefrorene Sperma seines verstorbenen Sohnes zur Zeugung eines Enkelkindes nutzen darf. Der Verstorbene hatte zuvor seine schriftliche Einwilligung gegeben.

 

"Seid fruchtbar und mehret euch!" heißt es in der biblischen Schöpfungsgeschichte. Um die beispiellosen Maßnahmen zu begründen, mit denen der moderne israelische Staat seinen Bürgern bei der Fortpflanzung hilft, wird gern darauf verwiesen. "Die jüdische Religion ist familienorientiert", schreibt etwa Liubov Ben-Nun, Medizinerin und emeritierte Professorin der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva. "Vor dem Hintergrund des ersten biblischen Gebots besteht die Pflicht, Kinder zu haben." Zwar nehmen es die meisten jüdischen Israelis mit vielen Geboten nicht so genau, diesem einen folgen sie jedoch pflichtbewusst: Mit 3,1 Kindern pro Frau hat Israel die höchste Fruchtbarkeitsrate unter allen Industriestaaten. Gewiss treiben ultraorthodoxe und arabische Großfamilien den Schnitt in die Höhe, doch selbst säkulare Israelis bekommen mehr Kinder (2,1 pro Frau) als durchschnittliche EU-Bürger (1,6).

 

Der Gang zur Fertilitätsklinik mag niemandem leichtfallen, folgt er doch der schmerzhaften Einsicht, dass der eigene Körper sich einer seiner grundlegendsten Aufgaben verweigert. Jüdische Israelis können sich, sofern sie gläubig sind, immerhin mit dem Gedanken trösten, dabei den Segen ihrer geistlichen Autoritäten zu genießen: Das israelische Oberrabbinat befürwortet künstliche Befruchtung ausdrücklich. In einem Land, in dem Religion das öffentliche Leben und die politische Debatte viel stärker prägt als in Westeuropa, spielt das eine wichtige Rolle.

 

 

Religiöse Medizinethik und Stammzellenforschung

 

Dass das ultraorthodoxe Rabbinat, ansonsten nicht eben als Hort der Progressivität bekannt, die moderne Reproduktionsmedizin begrüßt, liegt in der jüdischen Ethik begründet. Anders als im Christentum gilt ein Embryo im Judentum nicht als vollwertiger Mensch. So heißt es im zweiten Buch Mose: Stößt ein Mann eine schwangere Frau, sodass diese eine Fehlgeburt erleidet, muss er lediglich eine Geldstrafe zahlen – der Verlust des Ungeborenen gilt als Schaden an der Mutter, nicht als Mord eines Menschen. Im babylonischen Talmud wird ein Embryo bis zum 40. Tag nach der Befruchtung gar mit Wasser verglichen. "Das Konzept, den Embryo als Teil der Mutter und nicht als eigenständiges Wesen zu betrachten, zieht sich durch den Talmud und die rabbinischen Schriften", schreibt Fred Rosner, Medizinprofessor und Spezialist für jüdische Ethik in New York. Erst mit der Geburt erhält der Säugling den Status eines vollwertigen Menschen.

 

Für die meisten christlichen Strömungen dagegen steht fest: Beseeltes menschliches Leben entsteht, sobald ein Spermium die Eizelle befruchtet. Die katholische Kirche lehnt IVF ab, weil dabei oft überflüssige Embryos entstehen. Auch diese hätten "ein Recht auf Leben", erklärte der damalige Papst Benedikt XVI. im Jahr 2006.

 

Religiöse Medizinethik prägt in Israel auch den Umgang mit der kontroversen Stammzellforschung. Embryonale Stammzellen werden wenige Tage alten Embryonen, den sogenannten Blastozyten, entnommen. In der Regel handelt es sich dabei um Embryonen, die bei In-vitro-Verfahren übrig geblieben sind. Anders als Stammzellen, die erwachsenen Menschen entnommen werden, teilen sich embryonale Stammzellen sehr schnell und können sich in jede Art von Körperzelle verwandeln. Forscher hoffen, mit ihrer Hilfe eines Tages krankes Gewebe ersetzen und bisher unheilbare Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Parkinson besiegen zu können. Doch die Entnahme der Stammzellen wirft moralische Fragen auf, weil dabei Embryos sterben, die zu einem Menschen hätten heranwachsen können. Die meisten christlichen Strömungen lehnen die Forschung an embryonalen Stammzellen denn auch kategorisch ab. Und das deutsche Embryonenschutzgesetz verbietet es, Embryonen für Forschungszwecke herzustellen oder zu zerstören, und legt strenge Bedingungen für ihren Import aus dem Ausland fest.

 

In Israel dagegen dürfen Wissenschaftler Stammzellen von Embryos entnehmen, die bei IVF-Verfahren übrig bleiben. In einem Gutachten, das das Bioethische Beratungskomitee der israelischen Akademie der Wissenschaften 2001 verfasste, unterscheiden die Experten zwischen Embryos, die sich im Uterus eingenistet haben, sowie solchen, die sich außerhalb des Mutterleibs befinden. Im zweiten Fall, urteilen die Wissenschaftler, sei die Stammzellenentnahme zu Forschungszwecken angesichts der "immensen Wichtigkeit dieses Themas" erlaubt. Während deutsche Forscher oft klagen, ihnen seien die Hände gebunden, zählt Israel heute zu den führenden Nationen in Sachen Stammzellforschung.

 

Dass die Religion bei alldem einen wichtigen Einfluss nimmt, steht außer Frage. Als alleinige Erklärung reicht sie jedoch nicht aus. Der israelische Staat investiert von jeher stark in Forschung, israelische Wissenschaftler spielen auf vielen Feldern in der ersten Liga, längst nicht nur in der Stammzellforschung. Und die große Nachfrage nach künstlicher Befruchtung wird auch von kulturellen, politischen und historischen Gründe getrieben. "Die Religion enthält viele Anweisungen, und längst nicht alle werden so konsequent von der Politik verfolgt wie das Gebot zur Fortpflanzung", merkt Daphna Birenbaum-Carmeli an, Soziologin an der Universität Haifa. Auch die Erfahrung des Holocausts, die Vorstellung eines demografischen Wettstreits mit den Palästinensern und die Furcht, ein Kind im Krieg zu verlieren, befördern den Wunsch nach großen Familien. Zudem ermutige der Staat längst nicht jede Art von Elternschaft, stellt die Soziologin fest. Entscheide sich ein Paar für eine Adoption, könne es keinerlei Förderung erwarten. "Der Staat hilft Menschen, Kinder zu haben, die genetisch mit ihnen verwandt sind", sagt Birenbaum-Carmeli. "Jüdische Israelis sind nicht nur eine soziale Gruppe wie Kanadier oder Australier, sondern ein genetisch verwandtes Kollektiv. Die Finanzierung von IVF sendet deshalb eine starke Botschaft: Tue alles, um dein eigenes Kind zu bekommen

 

Diese Botschaft kann allerdings auch Druck ausüben, wie Sarit Ohayon und Haggai Anson derzeit erleben müssen. Kein Tag vergehe, an dem nicht ein wohlmeinender Bekannter, eine mitfühlende Kollegin ihnen Tipps gebe oder Mut zuspreche. "Dieser Prozess ist nicht leicht", sagt Ohayon, "er beeinflusst alles, auch die Partnerschaft. Niemand hat uns darauf vorbereitet." Auch die Betreuung in der Fertilitätsklinik sehen die beiden kritisch. "Der ganze Prozess orientiert sich stark an der Frau", beschwert sich Anson, "der Mann ist nur Beiwerk. Niemand spricht mit mir, niemand erklärt mir etwas. Aber klar", schiebt er nach, "das sind alles Erste-Welt-Probleme. Tatsache ist, der Staat hilft."

 

Kürzlich sind die beiden von einer öffentlichen in eine private Klinik gewechselt. Nun müssen sie zuzahlen, doch die bessere Betreuung ist es ihnen wert. Sie wollen weitermachen, bis es klappt. Und retten sich in der Zwischenzeit mit Humor: "Wenn das Kind dann endlich da ist", sagt Sarit Ohayon und lacht, "können wir ihm wenigstens sagen: Du warst kein Unfall, wir haben dich definitiv gewollt!"

 

 

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