Die Geschichte der Juden in Deutschland

Die Geschichte der Juden in Deutschland ist die einer konfessionellen Minderheit im deutschen Sprachraum Mitteleuropas und je nach Epoche sehr unterschiedlich dokumentiert. Juden leben seit mehr als 1700 Jahren in den Ländern und Regionen Mitteleuropas. Trotz zahlreicher Verfolgungen, die wie im übrigen Mitteleuropa ihren ersten Höhepunkt zur Zeit der Pest im Mittelalter erreichten, wurde die jüdische Präsenz im deutschen Sprachgebiet in den folgenden Jahrhunderten kaum je unterbrochen. In dieser Zeit erlebten sie sowohl Toleranz als auch antijudaistische, später antisemitische Gewalt, die im Holocaust gipfelte.

 

Umstritten ist die Frage, ob es in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus zulässig ist, Juden in Deutschland als „deutsche Juden“ zu bezeichnen. Im Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933–1945 des Bundesarchivs werden die in Deutschland 1925 bzw. 1933 lebenden Menschen mit jüdischer Religionszugehörigkeit als „deutsche Juden“ bezeichnet.

 

Antike, Völkerwanderung und Frankenreich

 

Juden lebten bereits in der römischen Provinz Germania inferior. Für einige römische Siedlungen sind im 4. Jahrhundert auch jüdische Gemeinden nachgewiesen. Erste jüdische Gemeinden bildeten sich an der rheinischen Nord-Süd-Straße (Köln, Trier, Mainz, Worms, Speyer). Für die Berufung in ein städtisches Amt waren hier Grundbesitz und ein ausreichendes Ansehen der Person Bedingungen. Doch auch wenn Juden diese erfüllten, blieb der Zugang zu öffentlichen Ämtern verwehrt. Ihre Religion war als religio licita (erlaubte Religion) anerkannt. Damit waren sie vom Kaiserkult und den Opfern an die römischen Staatsgötter befreit. Diese waren jedoch vorausgesetzt, um ein öffentliches Amt zu bekleiden. In der Spätantike verweigerte sich jedoch die römische Oberschicht zunehmend diesen kostspieligen Ämtern, so dass die römische Verwaltung in eine Krise geriet. So gilt das an den Kölner Stadtrat ergangene Dekret Kaiser Konstantins des Jahres 321, das auch Juden die Berufung in die „curia“ erlaubte bzw. diese auch gegen ihren Willen in die Pflicht nahm, als frühester Beleg für die Existenz einer jüdischen Gemeinde in der Stadt Köln. Das kaiserliche Dekret ist im Codex Theodosianus überliefert mit folgendem Wortlaut:

 

„Allen Stadträten gestatten Wir durch allgemeines Gesetz, Juden in die Kurie zu berufen. Damit ihnen aber eine gewisse Entschädigung für die frühere Regelung verbleibt, lassen Wir es zu, dass immer zwei oder drei das Vorrecht genießen sollen, durch keinerlei Berufung (zu Ämtern) in Anspruch genommen zu werden.

 

Ob es in den rheinischen Städten durchgehend jüdische Siedlungen gab, ist ungewiss. Möglicherweise bestanden nach dem Abzug der Römer und der germanischen Landnahme einige jüdische Siedlungen weiter. Ihre rechtliche Stellung war während der römischen Zeit gesichert und Juden besaßen das volle Bürgerrecht. Auf der germanischen Seite des Rheins und nördlich der Donau lebten dagegen keine Juden; zumindest sind sie in der Antike historisch nicht nachweisbar.

 

Wie Juden nach der Völkerwanderung in die Gebiete rechts des Rheins und nördlich der Donau gelangten, ist weitgehend unerforscht. Erst in den letzten Jahren wird das Material anhand des Zentralarchivs zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland durchforscht. Für das Ostfrankenreich sind jüdische Gemeinden auf ehemals römischem Boden sicher nachweisbar. Der erste namentlich bekannte Jude ist der Großkaufmann „Isaak“ am Hof Karls des Großen, den er 797 bis 802 in einer Gesandtschaft nach Bagdad zum Kalifen Harun al-Raschid schickte und der einen Elefanten namens Abul Abbas von dort mitbrachte. Von Ludwig dem Frommen sind um 825 gegebene Privilegien überliefert, die den Juden Vergünstigungen einräumten und unter anderem deren Aktivitäten im Sklavenhandel zwischen Böhmen und Spanien regelten. Als Gegner des Judentums, seiner Rechte und Rolle im Frankenreich positionierte sich Agobard, der Erzbischof von Lyon.

 

Die von Arthur Koestler im Sachbuch Der dreizehnte Stamm popularisierte These, dass die östlichen Aschkenasim mehrheitlich nicht von den antiken Israeliten, sondern von den Chasaren abstammten, einem Turkvolk, das im 8. oder 9. Jahrhundert die jüdische Religion annahm, ist mittlerweile widerlegt. Zwar kann es sein, dass infolge der Zerschlagung des Chasarenreichs durch den Kiewer Großfürsten Swjatoslaw I. auch einige chasarische Flüchtlinge Mitteleuropa erreichten, wo sie auf aschkenasische Gemeinschaften trafen. Doch muss ihr Anteil sehr gering gewesen sein, da er genetisch nicht nachweisbar ist. Gleichzeitig haben diese Untersuchungen eine starke genetische Verwandtschaft zur heutigen Bevölkerung des Nahen Ostens gezeigt, so dass anzunehmen ist, dass die jüdische Bevölkerung im mittelalterlichen Europa mehrheitlich von den Juden des historischen Israel abstammte.

 

Mittelalter

Blütezeit im Frühmittelalter

 

Zwischen dem 10. und 11. Jahrhundert stieg die Zahl der Juden stark an. Betrug sie im 10. Jahrhundert noch um 5.000, hatte sie sich bis ins 11. Jahrhundert auf 20.000 vervierfacht. Im 10./11. Jahrhundert wanderten aus Italien und Südfrankreich jüdische Kaufleute in rheinische Städte ein. Die dortigen jüdischen Gemeinden erlebten ihre Blütezeit. Juden gingen Ende des 10. Jahrhunderts auch weiter ostwärts nach Magdeburg und Merseburg. Überall erhielten sie sehr günstige Privilegien durch die ottonischen und salischen Herrscher (z. B. Kaiser Heinrich IV.), die ihre Wirtschaftskraft nutzten. Das rheinisch-süddeutsche Gebiet hieß hebräisch Aschkenas, was bald ganz Deutschland (dt. Sprachraum) bezeichnete. In den größeren Gemeinden Worms, Mainz, Speyer und Regensburg wurden auf hohem Niveau jüdische Studien betrieben. Der Gelehrte Raschi (1040–1105) absolvierte sein Studium in Mainz und Worms vor seiner Lehrzeit in Troyes. Das bischöfliche Privileg für die in Speyer aufgenommenen Juden von 1084 übernahm 1090 Kaiser Heinrich IV. für Worms und wurde zum weiteren Vorbild: 1157 übertrug es Kaiser Friedrich I. auf weitere Fälle. Die ersten Synagogen entstanden in Köln 1012, Worms 1034 und Trier 1066, daneben standen bald Schul- und Lehrhäuser (Jeschiwa). Auch jüdische Friedhöfe wurden angelegt. Der älteste in situ erhaltene ist der Heilige Sand in Worms. Judenquartiere (Judengasse) wuchsen weniger aus Zwang als aus praktischen Gründen (Sabbatgebot, Mikwe). Unter Duldung der christlichen Obrigkeit entstand eine Selbstverwaltung (Kehillah), die sich um Steuern, Kultus und Schule kümmerte und Statuten erlassen durfte. Familien von jüdischen Kaufleuten knüpften Verbindungen bis nach Italien und weiter. Im 12. Jahrhundert betrieben Juden zunehmend das Kreditgeschäft als Folge des auf Christen beschränkten Zinsverbots. Auch sind jüdische Ackerbürger und Handwerker bekannt, die allerdings nicht in die christlichen Zünfte hineinkamen. Das Verhältnis der Juden zum Umfeld war entspannt, einzelne Schutzjuden oder ganze Gemeinden hatten Schutzbriefe des Königs.

 

Verfolgungen und Entwicklung eines Sonderrechts

 

Dies änderte sich nach den Pogromen gegen jüdische Gemeinden, die während des Ersten Kreuzzugs ab 1096 unter Papst Urban II. stattfanden. Vor Beginn der Kreuzzugspogrome gab es im Reich nur wenig mehr als ein Dutzend jüdischer Gemeinden. Die Juden in den rheinischen Städten fanden nur unzureichenden Schutz vor den Kreuzfahrern bei den bischöflichen Stadtherren wie dem Trierer Bischof Engelbert von Rothenburg. Viele zogen den Selbstmord der Zwangstaufe vor. Im 1. Mainzer Reichslandfrieden 1103 wurde Juden unter anderem das Recht, eine Waffe zu tragen, abgesprochen. Sie bildeten nun eine schutzbedürftige Gruppe im Personenstand minderen Rechts. Am Ende stand (zuerst 1236 nach dem Fuldaer Judenprozess) die Kammerknechtschaft, die die Juden geschlossen als unfreie Kammerknechte des Kaisers Friedrich II. definierte. Dies garantierte ihnen zwar Schutz von Leben und Eigentum sowie eine autonome Gerichtsbarkeit in innerjüdischen Angelegenheiten, auf der anderen Seite war damit der Verlust von persönlicher Freiheit und eine Belastung mit Sondersteuern verbunden. So entstand ein Sonderrecht für eine begrenzte Minderheit. Die Einnahmen aus der Kammerknechtschaft vergab der Kaiser teilweise an Reichsfürsten oder Städte. Juden lebten in dieser Zeit weniger vom Warenhandel als von kleineren Darlehensgeschäften, auch als Ärzte und Techniker. Sie durften christliche Bedienstete und sogar Sklaven halten. Süßkind von Trimberg gehörte als Jude zu den mittelhochdeutschen Minnesängern. Gleichzeitig radikalisierte sich die kirchliche Haltung gegenüber den Juden, was zum Beispiel im 4. Laterankonzil 1215 zum Ausdruck kam. Das Konzil schrieb eine Kennzeichnung von Juden vor (Judenhut/Gelber Fleck), was sich jedoch erst im 14./15. Jahrhundert durchsetzte, und verbot in der Folge der kirchlichen Reformbewegungen des 11. Jahrhunderts Christen die Zinsleihe. Der einflussreiche Franziskaner Berthold von Regensburg nahm die Vorstellung von den Juden als Gottesmörder in die Predigt auf. Der Schwabenspiegel um 1275 forderte bereits eine striktere Trennung im Alltag, die aber bis 1350 nicht üblich wurde. Ritualmordvorwürfe betrafen Juden erstmals 1234/1235 in Lauda und Fulda. Kaiser Friedrich II. bekämpfte die Legenden um Ritualmorde. Parallel kam der Vorwurf des Hostienfrevels auf. Der marodierende verarmte Ritter (?) Rintfleisch zerstörte deshalb 1298 über 140 Gemeinden im mittel- und süddeutschen Sprachraum. 1336–1339 zogen die Armlederbanden durch Franken und das Elsass und töteten 5000 Juden. In Colmar wurden alle umgebracht.

 

Die Pogrome, die die Große Pest um 1350 begleiteten, markierten einen tiefen Einschnitt. Sie begannen 1348 in der Schweiz unter dem Vorwurf der Brunnenvergiftung durch die Juden. In 85 von 350 Städten mit jüdischen Einwohnern wurde gemordet (z. B. in Straßburg), fast überall wurden Juden ausgewiesen. Im Elsass wurde mit 29 Orten die Hälfte aller jüdischen Siedlungen ausgelöscht, am Mittelrhein rund 85 von 133 Siedlungen. Ihr Untergang brachte vielen materielle Vorteile, allen voran dem Kaiser Karl IV.. Nur zu schlechteren Bedingungen wurden Juden wieder aufgenommen, weil Fürsten und Städte letztlich ihrer bedurften. Ihre Aufenthalte waren nun auf wenige Jahre beschränkt und eine Verlängerung war nicht immer selbstverständlich. Diese Aufnahmeprivilegien galten nicht mehr für ganze Gemeinden, sondern nur noch für einzelne Personen mit ihrer Familie (sogenannte Einzelprivilegien). Zusätzliche Abgaben wurden auferlegt, so der „Goldene Opferpfennig“ (siehe Beichtgeld). Daneben setzte die Auswanderung nach Polen-Litauen ein, wo das Jiddisch als Mischsprache aus hebräischen, mittelhochdeutschen und slawischen Teilen entstand. Auch in Erfurt wurden die Juden 1349 vertrieben. Ihre Synagoge, die Alte Synagoge Erfurt, aus dem Jahr 1094 blieb jedoch erhalten und ist heute die älteste Synagoge Europas. 1998 wurde in ihrer Nähe ein 28 Kilogramm umfassender jüdischer Schatz aus dem 13./14. Jahrhundert gefunden.

 

Die Feindschaft gegenüber jüdischen Geldverleihern führte immer wieder zu Ausschreitungen, deren Opfer hauptsächlich jüdische Einwohner wurden. Jüdische Geschäftsleute wurden in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft in eine Außenseiterrolle gedrängt, weil sie einerseits keinen Zugang zu Zünften und somit zu anerkannten Handwerksberufen hatten, andererseits jedoch das Zinsverbot für sie nicht galt. Für viele verschuldete Personen waren die Schulden erdrückend. Zins und Tilgung in Verbindung mit Neid führten zu Feindlichkeit, die dann zu Unrecht auf die gesamte jüdische Bevölkerung generalisiert wurde und sich in grausamen Judenpogromen entlud. Der Hass auf den „Judenwucher“ übertraf häufig den auf Klerus und Adel. König Wenzel führte 1385/1390 eine „Juden-Schuldentilgung“ durch, die Städte und Fürsten entlastete. Kaiser Sigismund legte den Juden die Kosten für das Konzil von Konstanz und das Konzil von Basel auf. Auch entstanden erste christliche Banken, weil das Zinsverbot nicht mehr eingehalten wurde. Am Ende mussten viele jüdische Geldleiher aufgeben und wanderten ab. Als Erwerb blieben nur die kleine Pfandleihe und der Trödelhandel. Eine Auswanderung konnten sich meist jedoch nur die vermögenderen Juden leisten, wodurch dem Reich zum einen erhebliche Geldquellen verloren gingen und es zum anderen zu einer Verarmung der verbleibenden Juden kam.

 

Immer fanden sich neue Anlässe zu neuen Morden und Vertreibungen. Während der Hussitenkriege wurden die Juden in Österreich, Böhmen, Mähren und Schlesien verfolgt. Aus dem Stift Trier wurden sie 1419 für hundert Jahre, aus Köln 1424 (bis 1798) vertrieben, aus Konstanz 1431, aus Würzburg 1434, aus Speyer 1435 und aus Mainz 1473 endgültig vertrieben, 1442 aus München und ganz Oberbayern. Johannes Capistranos Predigten lösten in Breslau 1453 eine Verbrennung mit 41 Opfern aus. Auch in Erfurt predigte Capistrano, hier kündigte der Rat 1453 den Schutz der Juden auf.

 

1492 starben bei dem Sternberger Judenpogrom 27 Juden auf den Scheiterhaufen. Noch im gleichen Jahr wurden alle Juden aus Mecklenburg vertrieben. Daraufhin verhängten die Jüdischen Gemeinden außerhalb Mecklenburgs einen Bann über das Land. Dieser verbot es den Juden fortan, sich in Mecklenburg niederzulassen. Erst als Anfang des 18. Jahrhunderts der Bann seine Wirkung verloren hatte, siedelten sich wieder jüdische Familien in Mecklenburg an.

 

Am 19. Juli 1510 wurden in Berlin im Ergebnis des Berliner Hostienschänderprozesses 38 Juden auf einem großen Gerüst verbrannt, zwei weitere Juden – diese waren durch Taufe zum Christentum übergetreten – wurden enthauptet. Ihnen war Hostienfrevel und Kindsmord vorgeworfen worden; den Anlass dafür bot der Einbruch in die Kirche von Knoblauch und der damit verbundene Diebstahl einer vergoldeten Monstranz und zweier geweihter Hostien. 60 weitere Juden mussten, nachdem sie Urfehde geleistet hatten, im Laufe des Jahres die Mark Brandenburg verlassen.

 

Bis 1520 waren Juden weitgehend aus den großen Städten verschwunden. Allerdings bot das territorial zersplitterte Reich oft Zuflucht beim nächsten Kleinfürsten, und bald setzte eine Rückwanderung ein. Juden überlebten teilweise auch in Wäldern als Vagabunden und Bettler. In Frankfurt am Main und Worms wurden Ghettos eingerichtet. Die Predigt der Bettelmönche verbreitete antijüdische Vorstellungen, z.B. vom angeblichen Ritualmord am Knaben Simon von Trient. Der Holz- und Buchdruck verbreitete das Bild vom Schwein als Mutter der Juden („Judensau“). Nach dem Untergang der Regensburger Gemeinde 1519 blieb vielen nur noch das Wanderjudentum oder der befristete Aufenthalt in einer Stadt. Neue jüdische Zentren entstanden in Böhmen, Polen und Osteuropa.

 

Frühe Neuzeit

Karl V. und das „Große Speyrer Judenprivileg“ 1544

 

Unter den Humanisten war allein Johannes Reuchlin ein Verteidiger der Juden, als er im Streit mit Johannes Pfefferkorn die geforderte Verbrennung des Talmuds ablehnte. Er bezog das Hebräische in die humanistischen Studien ein. Josel von Rosheim erreichte bei Kaiser Karl V. neue Schutzbriefe für die Juden und verteidigte sie auf dem Augsburger Reichstag 1530 gegen erfundene Angriffe des übergetretenen Antonius Margaritha.

 

Auf dem Reichstag 1544 in Speyer beklagten sich die Juden des Reiches bei Kaiser Karl V., sie würden misshandelt und ihnen zugestandene Rechte verwehrt. Auslöser für die zunehmende Missachtung der Rechte der Juden waren u. a. judenfeindliche Schriften Martin Luthers von 1543.

 

Kaiser Karl erneuerte daher den Schutz der Juden und bestätigte ihre Privilegien. Niemand sollte fortan das Recht haben, ihre Schulen und Synagogen zu schließen, sie daraus zu vertreiben oder sie an ihrem Gebrauch zu hindern. Wer Juden im Widerspruch zum verkündeten kaiserlichen Landfrieden an Leben oder an Hab und Gut schädige oder sie beraube, soll von jeder Obrigkeit bestraft werden. Jeder Jude soll das Recht haben, seinen Geschäften im Reich nachzugehen, und jede Obrigkeit soll ihm Geleit gewähren und ihn nicht mehr als bisher mit Zoll- oder Maut belasten. Die Juden waren nicht verpflichtet, außerhalb ihrer Wohnorte „judische zeichen“ zu tragen, und kein Jude soll ohne ausdrückliche Zustimmung des Kaisers von seinem Wohnort vertrieben werden. Da Juden höher besteuert wurden, sie aber weder liegende Güter noch „statliche handtierung, ampter oder handtwerkh“ hatten und die Abgaben nur von dem, „so sy von ieren parrschafften zuwegen bringen“, bestreiten konnten, wurde ihnen gestattet, dass sie „iere paarschafften und zinß … umb sovill desto höcher und etwaß weitters und mehrers, dann den cristen zuegelassen ist, anlegen“. Ohne hinreichende Beweise und Zeugen war jedem untersagt, die Juden des Gebrauchs von Christenblut zu beschuldigen oder sie deswegen gefangen zu nehmen, zu foltern oder hinzurichten, denn diese Verdächtigung wurde bereits durch die Päpste verworfen und durch eine Deklaration Kaiser Friedrichs untersagt. Wo solche Beschuldigungen erhoben wurden, waren sie vor den Kaiser zu bringen. Verstöße gegen dieses Privileg sollten mit 50 Mark lötigen Goldes geahndet werden, die halb der kaiserlichen Hofkammer, halb der geschädigten Judenschaft zukommen sollten

Vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg

 

Um 1600 lebten in Deutschland etwa 8.000 bis 10.000 Juden, davon gut 3.000 in Frankfurt am Main. In einer neuen Periode jüdischer Zuwanderung siedelten sie sich in Städten und Gebieten an, aus denen sie vorher vertrieben worden waren. Seit dieser Zeit bis zu ihrer Emanzipation waren die Juden in Landesjudenschaften organisiert, Gesamtverbänden aller Juden eines Herrschaftsgebietes, die die jüdischen Angelegenheiten wie etwa Steuerverteilung und Gerichtsbarkeit autonom verwalteten. Der Versuch einer reichsweiten Zusammenarbeit scheiterte im Zuge der sogenannten Frankfurter Rabbinerverschwörung. Eine Besonderheit bildete die Ansiedlung portugiesischer Juden (Sephardim) im handelsbewussten Hamburg etwa ab 1600, während dort die deutschen Juden nach Altona ausweichen mussten. Trotz des judenfeindlichen Martin Luther, der das deutsche Luthertum antijudaistisch prägte, entspannte sich das Verhältnis etwas. In den katholischen geistlichen Territorien und einigen Reichsstädten ging es den Juden relativ am besten. Auf dem Lande war die kleine Geldleihe an Bauern eine Verdienstquelle, die aber immer wieder zu Vorwürfen von „Judenwucher“ führte. In den Städten waren die Zunftbürger oft antisemitisch eingestellt, in Frankfurt am Main kam es 1614 zu Aufstand und Plünderung unter Anführerschaft des Lebkuchenbäckers Vincenz Fettmilch gegen das Getto. Mitunter konnten Juden wichtige Positionen an fürstlichen Höfen erreichen. Doch die damit verbundene Sicherheit als Hofjude blieb vage, insbesondere dann, wenn ein neuer Herrscher den Thron bestieg. So ließ Kurfürst Johann Georg am 28. Januar 1578 den ehemaligen jüdischen Hoffinanzier seines Vaters Joachim II., den Hofjuden und Münzmeister Lippold aus Prag, mit der Axt vierteilen. Die Hinrichtung erfolgte aufgrund einer Anklage wegen Hexerei und Zauberei, welche erhoben worden war, weil Johann Georg trotz intensiven Suchens keine Unregelmäßigkeiten finden konnte. Am unteren Ende der sozialen Skala standen umherziehende Räuberbanden, die teilweise oder gänzlich aus völlig verelendeten Juden bestanden, eigentümliche soziale Strukturen aufwiesen und zur geschützten Verständigung das Rotwelsch benutzten.

 

Erst mit dem Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg wendete sich die Lage der Juden zum Besseren. Seit 1648 waren sie den Landesherren unterstellt, die mit Judenordnungen das Zusammenleben regelten. Zur Rückwanderung in das aufnahmebereite Brandenburg trug das Pogrom im polnischen Chmelnyzkyj bei. Ausgangspunkt war das noch halbherzige Edikt des Großen Kurfürsten von 1671 mit dem Titel „Edikt wegen aufgenommenen 50 Familien Schutz-Juden, jedoch daß sie keine Synagogen halten“. Von 1700 bis 1750 folgten vier Judenordnungen, in denen unter anderem die Höchstzahl von Kindern geregelt wurde, die man „ansetzen“ durfte. Erlaubt waren erst drei, später nur noch eins, die übrigen Söhne mussten auswandern. Zu diesen Judenordnungen gehörten das General-Reglement von 1730 und das Revidierte General-Privileg von 1750. 1714 wurde die Synagoge in Berlin in Anwesenheit der Königin eröffnet. Hoffaktoren wie Süß Oppenheimer in Württemberg wurden an den absolutistischen Höfen üblich. Auch Vertreibungen wie in Wien 1670 und Pogrome kamen noch vor wie in Bamberg 1699. Im zunehmend judenfreundlichen Berlin lebten um 1700 etwa 1.000 Juden, im ganzen Alten Reich um 25.000 Juden. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren es bereits 60.000 bis 70.000. Eine herausragende Quelle für das jüdische Leben dieser Epoche ist die erste in jiddischer Sprache verfasste Autobiografie der Hamburger Kauffrau Glückel von Hameln.

Im Zeitalter der Aufklärung

 

Die Frage nach der Integration und Gleichberechtigung der Juden, bisher nur unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet, stellte sich in der Aufklärung neu. In Preußen galt unter Friedrich II. begrenzte Toleranz gegenüber den Schutzjuden. Bedeutende Intellektuelle wie Moses Mendelssohn beteiligten sich am geistigen Leben in Deutschland, jüdische Frauen (Rahel Varnhagen) gehörten zum Kern der deutschen Romantik. Für die Juden stellte sich wiederum die Frage der Assimilation an die christliche Umwelt. Der Jurist Christian Wilhelm Dohm verfasste 1781 die Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“, die allerdings bis zur Krise Preußens wenig zur jüdischen Emanzipation bewirkte. Dagegen setzte Kaiser Joseph II. mit dem Toleranzpatent 1782 im Habsburgerreich umfangreiche Erleichterungen in Kraft, die jedoch mit einer antijüdischen Erziehungsabsicht einhergingen.

 

Noch im 18., teilweise sogar im 19. Jahrhundert trugen die Juden im Deutschen Reich jüdische Familiennamen, welche sie sofort als Juden erkennbar machten. Gewöhnlich trugen sie als Familiennamen den Namen des Vaters; eine Patrynomie, wie sie bis in die Neuzeit noch bei manchen slawischen Völkern oder den Isländern üblich war. Aufgrund der häufigen Kombination aus jüdischem Vor- und Familiennamen waren sie sofort als Juden zu erkennen.

 

Im 18. Jahrhundert veranlassten in den verschiedenen deutschen Territorien nach und nach Edikte der Landesfürsten die selbstgewählte Annahme von festen Familiennamen.

 

Von der Napoleonischen Zeit bis zur Reichsgründung (1789–1871)

 

Napoleon und preußische Reformen

 

Die Französische Revolution vollzog 1791 die Emanzipation der Juden in Frankreich, und Napoleon I. trug dieses Prinzip mit dem Code civil in die besetzten und abhängigen Staaten hinein (z.B. in das Königreich Westfalen). In den Rheinbundstaaten wurden Juden zuerst gleichgestellt, wenn auch unter einigen Einschränkungen. Doch 1808 erließ Napoleon das sogenannte „schändliche Dekret“, das ihre Freizügigkeit aufhob und die Gewerbetätigkeit nur mit einem speziellen Patent zuließ.

 

Im Königreich Preußen stellte sich nach der völligen Niederlage 1806 die Frage nach staatlichen Reformen. Mit dem Preußischen Judenedikt von 1812 wurden die in Preußen lebenden Juden Inländer und preußische Staatsbürger. Einige wurden Offiziere in der preußischen Armee. Das Edikt enthielt aber empfindliche Einschränkungen und war z.B. in der Provinz Posen, wo die meisten Juden wohnten, nicht gültig, sodass kein gleiches und einheitliches Recht entstand. Viele Sonderregelungen machten die Gleichstellung nach 1815 in der Restauration wieder zunichte. Das galt auch für das hinzugewonnene Schwedisch-Pommern mit Stralsund, wo später die ersten Kaufhäuser der Familien Wertheim und Tietz standen. König Friedrich Wilhelm III. verharrte im Konservativismus. Die romantische Lehre vom „christlichen Staat“, der Friedrich Wilhelm IV. anhing, stellte den neuen Status wieder infrage und ließ Juden in Führungspositionen nicht zu. Auch Universitätsprofessuren waren jüdischen Gelehrten wie Eduard Gans nicht zugänglich. Die als Juden geborenen Schriftsteller Heinrich Heine und Ludwig Börne emigrierten nach Frankreich. Erst 1847 wurde ein einheitlicheres Judengesetz geschaffen.

 

Wiener Kongress und Restauration

 

Auf dem Wiener Kongress wurde im Artikel 16 der Bundesakte den Juden eine Verbesserung in Aussicht gestellt und der Status quo für von den Bundesstaaten erlassene Gesetze bestätigt. Dies bezog sich nicht auf die französischen Besatzungsregelungen, wofür besonders die Hansestädte sich eingesetzt hatten. Die Rechtslage musste neu geregelt werden und wurde sehr unübersichtlich. Der Lübecker Anwalt Carl August Buchholz vertrat etliche deutsche Jüdische Gemeinden in dieser Sache sowohl in Wien wie auch 1818 beim Aachener Kongress.

 

Eine wichtige Schrift Über die Stellung der Bekenner des mosaischen Glaubens in Deutschland steuerte 1831 der jüdische Jurist Gabriel Riesser zur Judenemanzipation bei, in der er auf eine Debatte in Baden einging. Es ging um das volle Bürgerrecht ohne christliche Taufe als Zugang zur deutschen Nation, den er als Jude für sich beanspruchte.

 

Religiöse Reformen

 

Anfang des 19. Jahrhunderts regten sich die ersten Bestrebungen einer religiösen Reform des Judentums, die der Synagoge das Gepräge ihrer christlichen und deutschen Umwelt geben sollte. Die neue Stellung der Juden als Staatsbürger brachte manchen zu der Überzeugung, die jüdische Religion sollte ihrer Umwelt etwas weniger fremd erscheinen. In dem Maße, wie Juden nähere Bekanntschaft mit der christlich-religiösen Praxis machten, sahen viele in ihr ein Vorbild für alle Religionen im modernen religiösen Rahmen. Eine Reform wurde aber auch angestrebt, weil religiöses Empfinden sich geändert hatte und alte religiöse Bräuche bedeutungsleer geworden waren. Einer der ersten Reformer war David Friedländer, welcher gleich nach dem preußischen Emanzipationsedikt von 1812 Reformvorschläge machte. Ein weiterer war Israel Jacobson.

 

Anfänglich umstrittene Änderungen im Gottesdienst betrafen:

  • eine Synagogenordnung,
  • die Einführung einer Predigt in Deutsch,
  • ein der christlichen Konfirmation nachempfundenes Glaubensgelöbnis für Kinder,
  • die Einführung deutscher Gebete und Gesänge in den Gottesdiensten sowie
  • die Verwendung von Musikinstrumenten im Gottesdienst.

Revolution 1848/1849

 

Juden beteiligten sich bereits an der Revolution 1848, und einige gehörten zu den „Märzgefallenen“. Bei den bäuerlichen Unruhen kam es auch zu antijüdischen Exzessen in ungefähr 80 Orten in Süddeutschland und Posen. Doch die baldige jüdische Emanzipation schien gewährleistet, da in den neuen Parlamenten viele namhafte Juden mitarbeiteten, z.B. Johann Jacoby, oder die zum Christentum übergetretenen Johann Gustav Heckscher und Eduard von Simson.

 

In der Frankfurter Paulskirche kam es am 28. August 1848 zu einer Debatte über die Grundrechte und ihre Geltung für Juden, die Moritz Mohl aus Württemberg wegen ihrer „Fremdstämmigkeit“ bezweifelt hatte. Der bekannte Lauenburger Abgeordnete Gabriel Riesser wies dies mit Erfolg zurück.

 

In die Unruhen der Revolution mischten sich weitere antijüdische Exzesse außerhalb Deutschlands, so in Prag, Preßburg und Budapest. Trotz der Niederschlagung der Revolution blieben danach in einigen Staaten Verbesserungen für Juden bestehen.

 

 

Einzelstaaten im Deutschen Bund ab 1815

 

Baden

 

Durch Gebietsvergrößerungen wuchs die Zahl der badischen Juden von 2.265 im Jahr 1802 bis 1808 auf 14.200. Karlsruhe und Mannheim entwickelten sich seit dem 18. Jahrhundert zu jüdischen Zentren. Im liberalen Großherzogtum Baden stellte das Konstitutionsedikt vom 13. Januar 1809 die Juden staatsbürgerlich gleich, beseitigte aber auch die bisherige traditionelle jüdische Gemeindeverfassung. Die staatliche Schulpflicht betraf auch die jüdischen Kinder, ebenso die Wehrpflicht, erbliche Familiennamen wurden vorgeschrieben. 1815 folgte die Aufhebung der Schutzgelder. Die Verfassung von 1818 machte wieder erhebliche Einschränkungen im Staatsdienst und passiven Wahlrecht. Zu den antisemitischen Gegnern gehörte der Heidelberger bzw. Jenaer Philosoph Jakob Friedrich Fries, dessen Hetzschrift von 1816 die Regierung konfiszieren ließ. Die Hep-Hep-Unruhen 1819 erfassten Nordbaden und mussten mit Militäreinsatz beruhigt werden. Trotz vieler Einzelerfolge blieben vor allem die Landjuden, die sich selbst einer Assimilation widersetzten, angefeindet. Weitere Fortschritte machten die Liberalen, voran der Heidelberger Theologe Heinrich Eberhard Gottlob Paulus in einer Denkschrift 1831, von einer Kultreform abhängig, die u.a. die Verlegung des Sabbats auf den Sonntag, die Aufhebung der Speisegesetze und den Verzicht auf die Beschneidung einschließen sollte. 1848 traten erneut antisemitische Übergriffe besonders im Kraichgau und Odenwald auf. Die staatsbürgerliche Emanzipation gelang nach langer Diskussion erst 1849, die völlige Gleichstellung als Gemeindebürger landesweit 1862 und damit erstmals in Deutschland. Moritz Ellstätter stieg 1868 als erster Jude zum Finanzminister in einer deutschen Landesregierung auf.

 

Bayern

 

1816 trat in Bayern das drei Jahre zuvor erlassene Judenedikt in Kraft. Die Juden wurden damit den Christen rechtlich weitgehend gleichgestellt. Das Edikt, ein Meilenstein in der Geschichte der Assimilation der bayerischen Juden, verfügte die Aufhebung der jüdischen Gerichtsbarkeit, erlaubte Juden, Grundbesitz zu erwerben, und öffnete ihnen den Zugang zu allen Universitäten des Landes. In einem „Matrikelparagraphen“ regelte das Edikt jedoch auch die Erfassung wohnberechtigter Juden mit einem Schutzbrief (Matrikel) in Listen. Da für jeden Ort eine Höchstzahl jüdischer Familien festgelegt wurde, die möglichst noch gesenkt werden sollte, beeinträchtigte die Regelung nicht nur die Freizügigkeit der Juden, sondern auch die Möglichkeiten der Juden, eine Familie zu gründen.

 

Bevölkerungsstatistik:

Jahr

Juden in Bayern

1813

ca. 30.000

1840

>4.100

1867

>9.200

1900

>23.700

 

 Ein vehementer Antisemitismus entlud sich 1819 in den Hep-Hep-Unruhen in Würzburg und anderen bayerischen Städten.

 

Mit dem Heranwachsen der nächsten Generation wurde das Problem der Höchstzahl Mitte der 1830er Jahre so drängend, dass die jungen Leute Bayern in großen Zahlen verließen; Tausende wanderten in die Vereinigten Staaten aus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Lebensbedingungen der Juden in Bayern jedoch schrittweise besser: 1848 erhielten sie das aktive und passive Wahlrecht, 1849 wurde mit David Morgenstern erstmals ein jüdischer Abgeordneter in den bayerischen Landtag gewählt. 1850 durften Juden sich erstmals wieder in Nürnberg, woraus sie 1499 vertrieben worden waren, ansiedeln. 1861 schließlich wurde der Matrikel-Paragraph aufgehoben.

 

Nachdem der jüdische Siedlungskern zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Fürther Raum gelegen hatte, zogen im Zuge der Emanzipation und der Urbanisierung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Juden in die Großstadt München. Die vollständige rechtliche Gleichstellung der Juden in Bayern folgte mit der Verfassung des 1871 gegründeten Deutschen Reiches.

 

 

Freie und Hansestädte Lübeck, Hamburg, Bremen

 

Nachdem Lübeck von 1811 bis 1813 zum napoleonischen Frankreich gehört hatte, galt hier wie in den anderen Hansestädten die Emanzipation der Juden. Nach dem Wiener Kongress wurden die dort ansässig gewordenen Juden aus der Stadt Lübeck wieder vertrieben, und es bestand ein Ansiedlungsverbot bis 1848. Gleiches gilt für Bremen bis zur Verfassung von 1849. Über die Wahlrechtsreform von 1848, eine Verfassungsrevision und Modernisierung des Staates wurden alle Juden aus Moisling und Lübeck dauerhaft emanzipiert. In Hamburg, wo mit etwa 3000 Juden lange die größte deutsche Gemeinde bestand, führten die neuen Verfassungen von 1849 und endgültig von 1860 die strikte Trennung von Staat und Kirche ein und stellten damit die Juden gleich. Durch die Überseeauswanderung über die Häfen Bremen und Hamburg strömten dorthin neue Mitglieder.

 

 

Hannover

 

Im Königreich Hannover, das großenteils zum progressiven Königreich Westphalen gehört hatte, wurde zunächst das alte Recht der Schutzjuden wiederhergestellt. Erst 1842 erhielten Juden das Bürgerrecht („Gesetz über die Verhältnisse der Juden“). Moritz Stern wurde 1859 zum ersten Ordinarius an einer deutschen Universität ernannt, in Göttingen zum Mathematikprofessor.

 

 

Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz

 

Bemerkenswert war die Teilnahme von 26 Juden an den Befreiungskriegen, unter ihnen Löser Cohn aus Güstrow, der seine Memoiren veröffentlichte. Von 1813 bis 1817 galt in Mecklenburg-Schwerin die „Landesherrliche Constitution“, die in 19 Paragraphen de facto die Juden rechtlich gleichstellte. Auf Druck der konservativen Landstände hob Großherzog Friedrich Franz I. sie wieder auf und stellte so die Zustände nach dem Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich von 1755 wieder her. Dennoch entwickelten sich jüdische Zentren in Schwerin, Güstrow, Parchim und Neustrelitz/Strelitz. Für Handwerker und Schulen traten später auch Verbesserungen in Kraft, jüdische Rechtsanwälte wurden zugelassen. 1839 regelte ein Statut die Gemeindeverfassung, 1840 wurde ein Landesrabbiner gewählt. Nur kurzzeitig führte die Revolution 1848 die Gleichstellung ein bis zur Aufhebung der revolutionären Verfassung 1850.

 

Erst 1868 wurde in beiden Mecklenburg auf Druck des Norddeutschen Bundes die Gleichstellung der Juden ohne Ausnahme durchgeführt. Die Freizügigkeit aller Bürger erstreckte sich nun auch auf die alten Hansestädte Wismar und Rostock. Der linksliberale Abgeordnete Moritz Wiggers brachte 1869 im Norddeutschen Bund gegen den Widerstand beider Mecklenburger Regierungen das Bundesgesetz über die Gleichberechtigung der Konfessionen auf den Weg, das die Rechtsgleichheit definitiv garantierte. Dennoch sank die Zahl der Juden infolge Abwanderung in Industriezentren von 1848 mit 3248 „Israeliten“ bis 1905 auf 1482. Erst durch jüdische Zuwanderung aus dem Osten stieg sie dann wieder an.

 

Sachsen

 

Im Königreich Sachsen blieb die rechtliche Situation der Juden fast ebenso lange ungeklärt wie in Hannover. Bereits um 1800 war der Anteil jüdischer Kaufleute hoch unter den Besuchern der Leipziger Messe, vor allem aus Polen. 1814 wurde der israelitische Friedhof in Johannistal bei Leipzig genehmigt, 1834 entstand die „Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig“ mit der Wahl eines provisorischen Religionsvorstandes. Erst 1838 erlaubte ein Gesetz, dass Juden sich in den Städten Leipzig und Dresden niederließen. Der Grundstückserwerb wurde teilweise erlaubt und so ein Synagogenbau möglich. 1843 wurde der als Christ erzogene Felix Mendelssohn Bartholdy Ehrenbürger Leipzigs. Selbst dort blieben ihre Bürgerrechte eingeschränkt; außerhalb dieser beiden Städte wurden Juden nicht geduldet. 1855 wurde die Leipziger Gemeindesynagoge („Tempel“) eingeweiht. 1874 zog Moritz Kohner als erster jüdischer Abgeordneter in den Stadtrat von Leipzig ein. 1871 lebten in Sachsen 3357 Juden (insgesamt 2,5 Mio. Einwohner).

 

Württemberg

 

In Württemberg, wo von 1498 bis 1805 keine Juden dauerhaft wohnen und arbeiten durften, wurde 1828 ein erstes Judengesetz erlassen. In Ludwigsburg und in Stuttgart entstanden daraufhin jüdische Gemeinden, die mit den großen jüdischen Zentren derzeit – wie Breslau, Hamburg oder Berlin – jedoch nicht vergleichbar waren. Die Emanzipation der Revolution 1848 wurde wieder rückgängig gemacht, doch 1861 fanden ihre bürgerlichen Rechte endlich Anerkennung. Die bürgerliche Gleichstellung der Juden auf lokaler Ebene wurde in Württemberg erst 1864 gesetzlich verankert.

 

 

Die Juden in Braunschweig

 

Die Geschichte der Juden in Braunschweig begann im Jahre 1282. Nach der Vertreibung 1546 bildete sich erst im 18. Jahrhundert wieder eine jüdische Gemeinde in der Stadt. Aus dieser gingen in der Zeit bis 1933 unter anderem bedeutende Gelehrte und Unternehmer hervor. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden mindestens 196 Braunschweiger Juden Opfer des Holocaust. Die neue Jüdische Gemeinde entstand 1946 und zählt heute ca. 600 Mitglieder.

 

Mittelalter

 

Der erste Jude in der Stadt Braunschweig ist für das Jahr 1282 urkundlich nachgewiesen. Ab 1296 standen Juden unter dem Schutz Herzog Albrechts, wofür sie Schutzgelder entrichteten. Im Jahr 1320 sind 22 hauszinszahlende jüdische Familien, eine jüdische Schule und ein Fleischscharren in der Jodhen strate, der heutigen Jöddenstraße, im Weichbild Neustadt, neben dem Neustadtrathaus urkundlich genannt. Die Herkunft dieser Familien lässt sich aus den Namen erschließen: Helmstedt, Magdeburg, Goslar, Hildesheim, Prenzlau, Stendal und Meißen. Jede Familie zahlte dem Rat der Neustadt einen Zins für die überlassenen Wohnungen. Am 15. Mai 1345 gewährte Herzog Magnus dem Juden Jordan von Helmstedt und dessen Erben befriedeten Aufenthalt in der Stadt und setzte ihre zu Michaelis und Ostern fälligen Zinszahlungen fest. In einer Urkunde vom 6. Dezember 1346 nahm der Herzog die Juden unter seinen Schutz. Die gerichtliche Zuständigkeit wurde am 23. März 1349 geregelt. Neben den Schutzgeldern an den Herzog oder die Stadt hatten die Juden als „des Kaisers und des Reiches Kammerknechte“ auch an den Kaiser Zahlungen in Form des „goldenen Opferpfennigs“ oder „Kronengeldes“ (aurum coronarium) zu entrichten. Die Erhebung dieser Gelder übertrug König Ruprecht 1403 an die Braunschweiger Herzöge.

 

Die Juden siedelten hauptsächlich im nördlichen Teil der Altstadt und in der Neustadt in der Nähe der Märkte, wobei ihre Wohnquartiere durch Tore von der umliegenden Stadt abgetrennt waren. Ihre Haupterwerbsquelle waren Geldverleih und Pfandgeschäfte, da einerseits die christlichen Kaufleute dem Zinsverbot unterworfen waren und andererseits die christlichen Zünfte keine Juden zuließen. Beispiel für eine überregional tätige Unternehmerpersönlichkeit ist der aus Halle stammende und seit den 1450er Jahren in Braunschweig tätige Israhel von Halle († um 1480). Er verlieh Geld an Erzbischöfe, Adlige und Städte und stand in Prozessangelegenheiten unter dem Schutz des Braunschweiger Rates.

 

 

Antijudaismus im Mittelalter

 

Im Zuge der großen Pest von 1350 kam es in Braunschweig zu Pogromen gegen Juden als vermeintlichen „Brunnenvergiftern“. Die Ausschreitungen forderten etwa 100 Opfer, wodurch die Zahl der jüdischen Bevölkerung auf 50 Personen sank. Seit 1435 war das Tragen einer besonderen Judentracht vorgeschrieben. Weitere Anfeindungen fanden ihren Ausdruck in Anschuldigungen des Jahres 1437 wegen eines vermeintlichen Ritualmords, worauf es zur Verbrennung zweier Juden kam. Im Jahre 1510 wurde die jüdische Bevölkerung Braunschweigs aufgrund des Vorwurfs der Hostienschändung in Haft genommen. Ihnen wurde die Beteiligung an einem Vergehen märkischer Juden vorgeworfen. Während diese nach einem Prozess in Berlin Opfer einer Massenverbrennung wurden, ließ man die Braunschweiger Juden frei und vertrieb sie kurz darauf.

 

 

Vertreibung 1546

 

In der seit 1528 lutherischen Stadt waren mehrere Gilden seit 1530 bestrebt, die Juden auszuweisen. Nach judenfeindlichen Übergriffen der Jahre 1543 und 1545 kam es 1546 im Zuge der Reformation zu einer religiös motivierten Vertreibung der Juden durch den Rat der Stadt Braunschweig, wobei man sich unter anderem auf Luthers Judenschriften berief. Nach der protestantischen Stadt erließ 1557 auch der katholische Landesherr Herzog Heinrich der Jüngere eine Ausweisungsverordnung für das umgebende Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, nachdem sein welfischer Vetter Erich II. bereits 1553 die Juden aus dem von ihm regierten Fürstentum Calenberg vertrieben hatte. Aus wirtschaftlichen Gründen erteilte jedoch der lutherische Herzog Julius († 1589), der Sohn Heinrichs des Jüngeren, den Juden im Sommer 1578 Geleit. Daraufhin siedelten diese sich vor den Toren der dagegen protestierenden Stadt im Dorf Melverode an. Im Zuge einer landesherrlichen „Peuplierungspolitik“ ließ der Herzog für die kapitalkräftigen Neubürger zwölf Doppelhäuser für ungefähr 100 Personen errichten. Südwestlich von Melverode entstand 1584 der erste nachweisbare jüdische Friedhof Braunschweigs. Julius’ Nachfolger Herzog Heinrich Julius († 1613) hob die Rechte wieder auf und verwies die Juden am 6. Januar 1590 erneut.

 

Vereinzelte Juden, die sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in Stadt und Land Braunschweig aufhielten, besaßen keinen Rechtsschutz. Dieser wurde ihnen lediglich während der zweimal jährlich stattfindenden Braunschweiger Messen gewährt. Eine bekannte Besucherin dieser Messen war die durch ihre Autobiografie bekannt gewordene jüdische Kauffrau Glückel von Hameln (1646–1724).

 

Neugründung der jüdischen Gemeinde 1707

 

Der aus Halberstadt stammende Alexander David (1687–1765) kam 1707 nach Braunschweig, wo er als Kammeragent unter dem Schutz Herzog Anton Ulrichs († 1714) und dessen Nachfolger August Wilhelm († 1731) stand. Um den herzoglichen Bankier und privilegierten Hofjuden entstand die neuere jüdische Gemeinde. In seinem Wohn- und Geschäftshaus am Kohlmarkt 16 besaß David einen Betraum, den er sich auf Fürsprache des Pastors von St. Martini vom Rat genehmigen ließ. David erwarb das benachbarte Haus Kohlmarkt 12 zur späteren Einrichtung einer Synagoge, die zu seinen Lebzeiten vom Rat nicht genehmigt wurde. Bei seinem Tod besaß die 30 Familien zählende jüdische Gemeinde weder eine Synagoge noch einen eigenen Friedhof. David wurde in seinem Geburtsort Halberstadt beerdigt, wo damals eine der größten jüdischen Gemeinden Europas bestand. Sein Nachfolger als herzoglicher Kammeragent wurde 1782 der aus Wolfenbüttel stammende Bankier Herz Samson (1738–1794), dessen Großvater Marcus Gumpel Moses Fulda (1660–1733) die dortige jüdische Gemeinde neu gegründet hatte. Herz Samson unterstützte durch sein finanzielles Geschick Herzog Karl Wilhelm Ferdinand († 1806) bei der Abwendung des drohenden Staatsbankrotts. Dieser von der Aufklärung beeinflusste Herrscher, der unter anderem mit dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn bekannt war, hob in seinem Herzogtum veraltete diskriminierende Bestimmungen wie den Judeneid oder den Leibzoll auf, wobei jedoch noch keine volle Gleichberechtigung hergestellt wurde. Während seiner Herrschaft konnte die jüdische Gemeinde eine Synagoge im Hof des Hauses Kohlmarkt 12 einrichten. Im Jahre 1797 wurde der Rat durch Herzog Karl Wilhelm Ferdinand zu der Zustimmung zur Einrichtung eines jüdischen Friedhofs in der Stadt gedrängt.

 

 

Jüdische Emanzipation im Königreich Westphalen

 

Während der napoleonischen Besatzung zwischen 1807 und 1813 war das ehemalige Herzogtums Braunschweig-Lüneburg als „Département Oker“ Teil des neu entstandenen Königreiches Westphalen. Dieses wurde von König Jérôme Bonaparte, einem Bruder Napoleon Bonapartes, regiert. Juden besaßen in diesem Königreich das volle Bürgerrecht. Jérôme Bonaparte bestimmte am 27. Januar 1808 in einem Dekret, dass „… unsere Untertanen, welche der Mosaischen Religion zugetan sind, […] in unseren Staaten dieselben Rechte und Freiheiten genießen [sollen] wie Unsere übrigen Untertanen.“

 

Bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der jüdischen Gemeinden in Stadt und Land Braunschweig hatte zu dieser Zeit der aus Halberstadt stammende Bankkaufmann Israel Jacobson (1768–1828), der Schwiegersohn des herzoglichen Kammeragenten Herz Samson. Der Vertreter eines liberalen Judentums gründete ein Handelshaus in Braunschweig, dessen Bürgerrecht er 1804 erhielt, und war für den Braunschweiger sowie mehrere andere deutsche Höfe tätig. 1801 eröffnete er mit herzoglicher Genehmigung in Seesen eine jüdische Reformschule, die ab 1805 einen überkonfessionellen Status besaß. Von 1807 bis 1813 war er Lieferant der napoleonischen Armee und Finanzberater König Jérômes, dem er hohe Staatsanleihen gewährte. In Kassel, Regierungssitz des Königreichs Westphalen, wirkte Jacobson als Präsident des Konsistoriums der Israeliten. Er setzte einerseits die rechtliche Gleichstellung der Juden im Königreich Westphalen durch und stand andererseits an der Spitze einer innerjüdischen Reformbewegung.

 

Jacobsons Ziel war die Reform des jüdischen Gottesdienstes und Gemeindelebens. In Anlehnung an den protestantischen Gottesdienst sollte dieser musikalisch von einer Orgel begleitet und die Predigt in deutscher Sprache gehalten werden. Es sollte eine Konfirmation nach protestantischem Vorbild eingeführt werden. Gegen den Widerstand aus konservativen jüdischen Kreisen weihte er 1810 in Seesen eine Reformsynagoge ein, in der er als Landesrabbiner in der Amtstracht eines protestantischen Geistlichen die erste Predigt hielt. Nach dem Sturz Napoleons ging Jacobson nach Berlin, wo er weiter als Reformer wirkte. Auf Jacobsons Vorschlag war 1809 der wiederum aus Halberstadt stammende Samuel Levi Egers (1769–1842) als Rabbiner nach Braunschweig berufen worden. Er predigte in deutscher Sprache, war den Reformbewegungen gegenüber jedoch kritisch eingestellt. Von 1827 bis 1842 war Egers Landesrabbiner für die Gemeinden des Herzogtums Braunschweig.

 

 

Jüdische Assimilation im Herzogtum Braunschweig

 

Nach dem Ende der napoleonischen Besatzung 1813 wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden im 1814 neu gegründeten Herzogtum Braunschweig zunächst wieder aufgehoben. 1821 erhielten die Juden das Recht zur Aufnahme in Gilden und Zünften. Die allgemeine Schulpflicht für jüdische Kinder wurde 1827 eingeführt. Im Herbst 1828 wurde eine jüdische Schule errichtet. Im Zuge der Revolutionen von 1830 und 1848 folgten weitere Rechte, wie 1832 das Wahlrecht und das Recht in städtische Ämter gewählt zu werden. Im Jahre 1845 wurde der Kaufmann Ludwig Helfft (1793–1867) zum ersten jüdischen Stadtverordneten gewählt. Seit 1848 waren jüdisch-christliche Mischehen erlaubt. Trotz der hiermit erreichten rechtlichen Gleichstellung existierten weiterhin Diskriminierungen. Juden fanden praktisch keine Anstellung im herzoglichen Staatsdienst und jüdischen Anwälten blieb das Notariat, mit dem die Berechtigung zur Beurkundung von Rechtsvorgängen verbunden war, verwehrt. Erstmals 1908 wurde das Notariat dem jüdischen Rechtsanwalt Victor Heymann durch den Regenten Johann Albrecht erteilt. Dieser wies das folgende Gesuch des jüdischen Justizrats Spanjer-Herford jedoch zurück. Berufliche Diskriminierungen von Juden wurden 1919 mit der neuen Reichsverfassung abgeschafft.

 

Max Jüdel

 

Der erfolgreichste Braunschweiger Unternehmer in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war der jüdische Kaufmann Max Jüdel (1845–1910), der 1873 zusammen mit Heinrich Büssing die international tätige Eisenbahnsignal-Bauanstalt Max Jüdel & Co gründete. Im Jahre 1908 zählte das 20 Jahre darauf in der Firma Siemens aufgegangene Unternehmen 1300 Mitarbeiter. Jüdel war Präsident der Industrie- und Handelskammer, Mitglied der Stadtverordnetenversammlung und verschiedener technischer und geselliger Vereinigungen und wurde 1905 mit dem selten verliehenen Titel eines Geheimen Kommerzienrates geehrt. Der Stadt Braunschweig vererbte er sein beträchtliches Privatvermögen.

 

Reformjudentum

 

Von 1842 bis 1884 war Levi Herzfeld (1810–1884) Rabbiner der Stadtgemeinde Braunschweig und seit 1843 Landesrabbiner. Er vertrat eine gemäßigt reformerische Richtung. Im Jahre 1844 fand in Braunschweig die von Abraham Geigers Reformplänen geprägte „Allgemeine deutsche Rabbinerkonferenz“ statt. Unter Herzfelds Rabbinat wurde 1875 die „Neue Synagoge“ eingeweiht. Auf Herzfeld folgte 1884 der Reformrabbiner Gutmann Rülf, der 1915 starb. Die weiteren Braunschweiger Landesrabbiner waren Paul Rieger (1915–1922), Hugo Schiff (1922–1925) und Kurt Wilhelm (1925–1929). Vom 1. April 1930 bis zum 31. März 1938 war Eugen Gärtner (Geb. 1885; Gest. 1980) letzter braunschweigischer Landesrabbiner und Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Braunschweig. Er wanderte am 13. April 1938 in die USA aus.

 

 

Russische Einwanderung

 

Der Anteil der jüdischen Bevölkerung sank von ungefähr 1,2 Prozent zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf 0,5 Prozent vor dem Ersten Weltkrieg. Im Jahr 1905 zählte die Jüdische Gemeinde der Stadt 853 Mitglieder. Auf die zwischen 1903 und 1906 in Russland wütenden Pogrome folgten in der Zeit bis 1910 mehrere Einwanderungswellen, die die Zahl der jüdischen Bevölkerung Braunschweigs zusammen mit der bestehenden Landflucht um rund 200 Personen erhöhte. Dieser Anteil von ca. 20 Prozent „Ostjuden“ war in Lebensstil und Kleidung der Kultur des osteuropäischen „Schtetl“ verbunden. Ein Großteil der assimilierten Braunschweiger Juden, die unter anderem als Rechtsanwälte, Hochschullehrer oder Kaufleute tätig waren, fühlten sich durch die Zuwanderer in ihrer gesellschaftlichen Integration gefährdet. Diese Spaltung wurde durch das von den „Ostjuden“ in der Echternstraße errichtete „Ostjüdische Bethaus Bet-Israel“ vertieft.

 

 

Stadt und Freistaat Braunschweig in der Zeit des Nationalsozialismus

 

Bei den Wahlen zum 6. Braunschweigischen Landtag am 14. September 1930, erhielt die NSDAP 22,16 Prozent der Stimmen und stellte damit die drittgrößte Fraktion nach der SPD und der Bürgerlichen Einheitsliste (BEL), einem Zusammenschluss nationalkonservativer (DNVP) und bürgerlich-konservativer (DVP, Zentrumspartei) Parteien und diverser Wirtschaftsverbände. Als Folge dieses Ergebnisses wurde am 1. Oktober 1930 eine Koalitionsregierung aus NSDAP und DNVP unter Ministerpräsident Werner Küchenthal (BEL, später NSDAP) gebildet. Innenminister wurde zunächst Anton Franzen (NSDAP), der aber wegen eines Skandals bereits wenige Monate später von NSDAP-Parteimitglied Dietrich Klagges abgelöst würde. Spätestens von diesem Zeitpunkt an wuchsen Druck auf und Repressalien gegenüber der jüdischen Bevölkerung, die jetzt massiven öffentlichen Übergriffen z. B. durch SA oder SS ausgesetzt war. Aus diesem Grunde entschieden sich viele Braunschweiger Juden noch vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, auszuwandern.

 

 

Ausgrenzung

 

Im Jahre 1933 zählte die Jüdische Gemeinde Braunschweig rund 950 Mitglieder. Die Zahl der sogenannten Rassejuden, wozu nach nationalsozialistischer Auffassung auch getaufte Juden oder Atheisten gehörten, lag bei rund 1150 Personen. Bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme im Deutschen Reich kam es am 11. März 1933 in der Stadt zum – von der NS-Propaganda so genannten – „Warenhaussturm“, der sich gegen jüdische Geschäfte richtete und als „spontaner Ausdruck des Volkszorns“ inszeniert wurde. Dabei warfen SS-Männer in Zivilkleidung bei den Kaufhäusern Frank, Karstadt, Hamburger & Littauer zahlreiche Schaufenster ein und zerstörten Teile der Inneneinrichtungen. Diese von SS-Führer Friedrich Alpers organisierte und geleitete Aktion sollte „den Kommunisten“ angelastet werden. Damit die SS freie Hand für ihre Aktion hatte, hatte Innenminister Klagges vorab den Kommandeur der Schutzpolizei instruiert, Polizeistreifen von den Orten des Geschehens fernzuhalten, was auch geschah. Den Ausschreitungen in Braunschweig folgten ähnliche am 13. März in Breslau und am 15. in Leipzig. Am 1. April kam es zu einem reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte. In der Folge kam es zu „Arisierungen“ jüdischer Geschäfte, Banken und Praxen, wobei deren Eigentümer zum Verkauf an Nichtjuden, häufig NSDAP-Mitglieder, genötigt wurden. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 schloss die meisten Juden aus dem Staatsdienst aus. In der Folgezeit wurden auch jüdische Rechtsanwälte, Ärzte, Wissenschaftler und Künstler aus dem Berufsleben gedrängt. Mit den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935 wurden Juden zu Menschen minderen Rechts degradiert; die Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden wurde verboten („Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“).

 

Verfolgung

 

Während der reichsweiten staatlichen Terroraktionen der Novemberpogrome am 9. und 10. November 1938 kam es in Braunschweig zu antijüdischen Gewalttaten, die der SS-Führer Friedrich Jeckeln koordinierte. Trupps der SA und SS zerstörten und plünderten Geschäfte, Häuser und Wohnungen von Juden. Zerstört wurde auch das Restaurant Baron in der Steinstraße 2, das einzige koschere Restaurant der Stadt, an dessen ehemalige Besitzerfamilie fünf 2006 eingelassenen „Stolpersteine“ erinnern. Die Synagoge wurde geplündert und zerstört. Jüdische Männer wurden verhaftet und in das KZ Buchenwald deportiert, um sie zur Ausreise zu nötigen. Das Braunschweigische Innenministerium meldete kurz nach dem Pogrom, dass von den 1500 im Freistaat Braunschweig lebenden Juden noch 500 dort ansässig seien, von den in der Stadt lebenden waren noch 226 verblieben. Am 30. April 1939 hob ein Reichsgesetz den gesetzlichen Mieterschutz für Juden auf, die dadurch vielfach ihre Wohnungen verloren und in eines der Braunschweiger „Judenhäuser“ umziehen mussten. Diese hatte der Freistaat Braunschweig von jüdischen Emigranten gekauft. Sie befanden sich in der Ferdinandstraße 9, Meinhardshof 3, Neuer Weg 9, Hennebergstraße 7, Höhe 3, Hagenbrücke 6/7 und Am Gaußberg 1. Bis auf zwei Häuser wurden sie durch den Bombenkrieg zerstört.

 

Deportation und Ermordung

 

Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erreichte die Verfolgung der Juden eine neue Stufe, die schließlich auf deren völlige Vernichtung abzielte. Seit dem 1. September 1941 hatten alle Juden einen gelben Stern sichtbar an der Kleidung zu tragen, jüdische Wohnungen mussten seit März 1942 ebenfalls mit einem „Judenstern“ kenntlich gemacht werden. Aufgrund der Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus reduzierte sich die jüdische Bevölkerung Braunschweigs von ehemals ungefähr 1150 Personen im Jahre 1933 dramatisch. 1938 war die Zahl infolge von Entrechtung, Verfolgung und Vertreibung auf ca. 250 gesunken. Nachweislich wurden 196 Braunschweiger Juden in 12 Transporten in den Osten deportiert und ermordet. Die Deportationen führten am 21. Januar 1942 nach Riga, am 31. März 1942 nach Warschau, am 11. April 1942 in den Osten, am 6. Juli 1942 in das KZ Theresienstadt, am 11. Juli 1942 in das KZ Auschwitz, am 24. Juli 1942 nach Theresienstadt, am 3. Oktober 1942 und 2. März 1943 in den Osten, am 16. März 1943 nach Theresienstadt, im Mai und November 1943 in den Osten, am 15. November 1944 in das Lager Blankenburg und am 25. Februar 1945 nach Theresienstadt. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass die Dunkelziffer der Ermordeten erheblich höher liegt. Viele Braunschweiger Juden, die aus Alters- oder finanziellen Gründen nicht ausreisen oder fliehen konnten, wählten kurz vor der Deportation den Suizid.

 

 

Neugründung der Gemeinde nach 1945

 

Nach Kriegsende kehrten von den wenigen überlebenden braunschweigischen Juden einige zurück in ihre Heimatstadt. Zunächst wurden sie von Kreissonderhilfeausschuss für KZ-Häftlinge betreut. Dieser beim Oberbürgermeister angesiedelte Ausschuss war 1945 auf Anweisung der Militärregierung gegründet worden und sicherte die Versorgung der Juden mit den notwendigsten Gütern. Ab September 1945 begann der Wiederaufbau der Gemeinde. Als Zentrum diente zunächst das Gemeindehaus, in dem früher der Rabbiner gewohnt hatte. Später wurde die Gemeinde Mitglied des 1949/1950 gegründeten Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Bremen und Niedersachsen und war eng mit der größeren Gemeinde in Hannover verbunden.

 

Sie bestand aus überlebenden Braunschweiger Juden und aus hinzugezogenen. Anfang 1953 waren es 57 Gemeindemitglieder, 1969 lediglich 39. Die Rückgabe des 1938 in der Folge der Novemberpogrome geraubten jüdischen Eigentums verlief in Braunschweig besonders langsam und hatte mit unerwarteten Widerständen zu kämpfen. Davon zeugen unzählige Prozesse, die von Überlebenden oder vom Jewish Trust Corporation Ltd. (JTC) gegen die Oberfinanzdirektion geführt wurden und die sich bis Ende der 50er Jahre hinzogen.

 

Seit 1983 ist die jüdische Gemeinde in Braunschweig wieder rechtlich eigenständig. In diesem Jahr wurde im jüdischen Gemeindehaus in der Steinstraße ein eigener Betsaal neu errichtet.

 

Im Jahr 2008 umfasst die Jüdische Gemeinde der Stadt knapp 600 Mitglieder. 1995 übernahm die Rabbinerin Bea Wyler die geistliche Leitung der Gemeinden in Oldenburg und Braunschweig. Das brachte die Gemeinde bundesweit in die Medien, denn Wyler war die erste in Deutschland nach dem Holocaust eingestellte Rabbinerin. Seit August 2002 ist der aus Hannover stammende Jonah Sievers Rabbiner der Jüdischen Gemeinde. Am 6. Dezember 2006 wurde die neue Braunschweiger Synagoge in der Steinstraße feierlich eingeweiht.

 

Seit 1968 gibt es Kontakte zwischen Braunschweig und der israelischen Stadt Kiryat Tivon. Im Jahre 1981 wurde ein Freundschaftsvertrag geschlossen und 1985/1986 in eine Städtepartnerschaft umgewandelt.

 

 

Antisemitismus nach 1945

 

Auch nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft kam es wiederholt zu antisemitischen Straftaten in der Stadt. So wurden in der Nacht zum 30. Dezember 1959 sowie zum 14. Januar 1960 antisemitische Parolen im Löns-Park in der Südstadt an ein Denkmal und an Häuserwände geschrieben. Am 5. Januar 1960 wurden bei Watenbüttel an der dortigen Brücke über den Mittellandkanal Hakenkreuze und die Aufschrift „Tod den Juden und ihren Helfern“ angebracht. Drei Tage darauf wurde das Treppenhaus der Firma Franke & Heidecke mit ähnlichen Parolen versehen, woraufhin die Jüdische Gemeinde einen Strafantrag beim Landgericht stellte. Die Täter konnten jedoch nicht ermittelt werden. Auf den jüdischen Friedhöfen kam es wiederholt zu Grabschändungen.

 

 

Erinnerungsorte

 

Der erste nachweisbare jüdische Friedhof südlich von Melverode ist für 1584 belegt. Dieser bestand nur wenige Jahre und verfiel dann. Vermutlich gab es jedoch zuvor einen nicht mehr lokalisierbaren jüdischen Friedhof innerhalb Braunschweigs, der um 1430 zu klein geworden war. Aus diesem Grunde wurden 23 Braunschweiger Juden zwischen 1434 und 1457 auf dem 1405 erweiterten Hildesheimer Judenfriedhof bestattet. Während im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel jüdische Friedhöfe bereits 1724 in Wolfenbüttel und Holzminden, 1740 in Hehlen und in den folgenden Jahren in weiteren Orten eingerichtet wurden, fehlte in Braunschweig ein Begräbnisplatz bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Bis dahin wurde bevorzugt der Wolfenbütteler Judenfriedhof durch die Jüdische Gemeinde Braunschweig genutzt.

 

 

Alter Friedhof Hamburger Straße

 

Der erste jüdische Friedhof wurde vor 1782, weit vor der damaligen Stadtgrenze, im Gartenland vor dem Wendentor an der heutigen Hamburger Straße angelegt. Nachdem er bald zu klein zu werden drohte, kaufte die Jüdische Gemeinde auf Vermittlung des Kammeragenten Israel Jacobson am 4. Mai 1797 ein Erweiterungsgrundstück dazu. Seit der Einrichtung dieses Friedhofs, kümmerte sich die Chewra Kadischa (aramäisch für „Heilige Bruderschaft“), eine besondere Gemeindegruppe, um die Einhaltung der jüdischen Bestattungsvorschriften gemäß der „Halacha“. 1836 wurde diese Bruderschaft als „Kranken- und Sterbeverein“ neu gegründet. Der kleine quadratische Begräbnisort war eingezäunt und mit einer Tür verschlossen. Im Jahre 1801 beklagte Jacobson Vandalismus am Friedhof, so dass um 1805 eine Umfassungsmauer errichtet wurde. Auch dieser Friedhof war bald wieder zu klein, sodass bereits dort 1843 die letzte Beerdigung stattfand. Weiteres Land wurde am 20. März 1851 erworben, womit eine gesamte Friedhofsfläche von 4.933 m² entstand. Die neue Teilfläche wurde bis 1869 genutzt.1853 entstand eine Einfriedung beider Friedhofsteile. Im selben Jahr wurde eine neue Leichenhalle errichtet. Um 1910 waren fast sämtliche 900 Grabstellen belegt, 1912 waren schließlich nur noch neun Grabstellen frei, sodass sich die Gemeinde nach einem anderen Friedhof umsehen musste. Zu dieser Zeit lief bereits die Gestaltung des neuen jüdischen Friedhofs an der Helmstedter Straße. Bis zum Jahr 1939 wurden danach noch 20 Bestattungen, die letzte am 3. August des Jahres, auf dem alten Friedhof vorgenommen. Bemerkenswert ist, dass es der Jüdischen Gemeinde noch in einer so späten Phase der NS-Herrschaft gestattet wurde, ihre Toten wegen einer Straßenerweiterung vom alten auf den neuen Friedhof umzubetten. Im Zuge der Verbreiterung der Hamburger Straße mussten im August des Jahres 90 Grabstätten, die aus der Zeit um 1900 stammten, entfernt werden. Dies geschah in Abstimmung zwischen der Jüdischen Gemeinde und der Stadt Braunschweig sowie der „Reichsvertretung der Deutschen Juden“ in Berlin. Da nach jüdischem Ritus die Totenruhe nicht gestört werden darf – also auch keine Umbettung vorgenommen werden kann – schrieb die Reichsvertretung am 14. Juni 1939 an den Vorstand der Jüdischen Gemeinde:

 

„Die religionsgesetzlichen Vorschriften, wonach die Ruhe der Toten nach Möglichkeit gesichert werden soll, müssen hinter den staatlichen Rechtsvorschriften zurücktreten. Man muss nur im Einzelfall dahin trachten, dass alles nach Möglichkeit geschieht, was zu Gunsten unserer Toten getan werden kann.“

 

Im August wurden dann die 90 Grabstellen aufgelassen, die Toten exhumiert und zusammen mit den Grabsteinen zur Helmstedter Straße überführt und dort in einer neu angelegten Abteilung bestattet.

 

In welchem Umfang es während der Zeit des Nationalsozialismus zu Friedhofsschändungen kam, ist unbekannt. Durch kriegsbedingte Bombenschäden an der Umfassungsmauer und eine defekte Tür war der Friedhof in der Nachkriegszeit ungeschützt Zerstörungen ausgesetzt. Im Oktober 1950 wurden vom Land Niedersachsen Finanzmittel in Höhe von 6000 DM zur Sicherung und Instandsetzung des Friedhofs zur Verfügung gestellt. Die Arbeiten wurden im August 1951 beendet, wobei nicht alle umgestürzten Grabsteine aufgerichtet worden waren. In den Jahren 1956 und 1957 kam es zu Beschädigungen von Grabsteinen durch Jugendliche, woraufhin 1958 weitere Schutzmaßnahmen erfolgten. Zu erneuten Grabschändungen kam es 1978. Nach einer Schätzung befinden sich auf dem alten Friedhof ungefähr 930 Grabstellen. Erhalten sind mehr als 500 Grabsteine. Von 1999 bis 2001 wurde der alte Friedhof aufwendig instand gesetzt und unter anderem das dortige Mausoleum der Familie Aschkenasy restauriert.

 

 

Neuer Friedhof Helmstedter Straße

 

Im Jahre 1887 wurde der neue Centralfriedhof an der Helmstedter Straße eingeweiht. Der Stadtmagistrat trat an die katholische und die Jüdische Gemeinde mit dem Vorschlag heran, deren Begräbnisplätze benachbart anzubinden. Da der alte jüdische Friedhof nahezu voll belegt war, kam die Jüdische Gemeinde dem Vorschlag 1895 nach und erwarb ein 10.124 m² großes benachbartes Grundstück von der Klosterkammer Riddagshausen. Die unmittelbare Nachbarschaft christlicher und jüdischer Friedhöfe war für die damalige Zeit eine Besonderheit, demonstrierte sie doch die liberale Einstellung der Jüdischen Gemeinde Braunschweig, wie auch das Nachlassen der Judenfeindlichkeit in Deutschland.

 

„… die hervorragende Lage des neuen Friedhofs unmittelbar neben dem christlichen … [ist] ein Zeichen dafür, dass die Vorurteile schwinden und dass die Schranken, die so unüberwindbar schienen, fallen.“

 

Seit 1909 wurde die Fläche nach Plänen des Architekten Georg Lübke gärtnerisch gestaltet. Dieser entwarf auch die 1914 eingeweihte jüdische Friedhofskapelle. Noch vor Inbetriebnahme des Friedhofs wurde 1908 eine Fläche von 4.473 m² hinzugekauft, da während dieser Zeit verstärkt Juden aus dem Russischen Reich zuwanderten. In der Anfangsphase hatte die jüdische Gemeinde die Verwaltung ihres Friedhofs dem Hauptfriedhof übertragen, erst später übernahm sie dieses Amt selbst. Die erste jüdische Bestattung auf dem neuen Friedhof fand 1913 statt. Ab Mai 1917 wurden diese regelmäßig vorgenommen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Inneneinrichtung der Friedhofskapelle 1938 durch Hitlerjungen zerstört. Am 7. März 1941 wurde die Jüdische Gemeinde zum Verkauf einer 9.263 m² großen Fläche gezwungen, was einer Enteignung gleichkam. Die Fläche wurde teilweise bebaut oder zur Anlage von Kriegsgräbern genutzt. Zu einem Ankauf der Restfläche durch die Stadt kam es jedoch nicht.

 

Nach dem Krieg wurde am 6. Oktober 1953 zwischen der Stadt Braunschweig und der jüdischen Treuhänderstelle Jewish Trust Corporation (JTC) ein Vergleichsvertrag unterzeichnet. Demzufolge galt „der Eigentumsverlust der Jüdischen Gemeinde Braunschweig … als nicht erfolgt“. Die JTC erhielt die Flächen und verkaufte diese, bis auf den Restfriedhof, direkt an die Stadt. Der 5.334 m² große Restfriedhof wurde von der JTC am 12. August 1959 der kleinen Jüdischen Gemeinde Braunschweig übereignet. In den Jahren 1954/1955 war dieser saniert worden, verkrautete jedoch in den Folgejahren so stark, dass 1978/1979 eine erneute Sanierung durchgeführt werden musste. Am 16. November 1958 wurde auf dem jüdischen Friedhof ein Gedenkstein für die Opfer der Jüdischen Gemeinde unter der nationalsozialistischen Herrschaft enthüllt. Eine weitere Gedenktafel erinnert an jüdische Zwangsarbeiter, die 1941 nach Braunschweig verschleppt wurden. Die geplünderte Trauerhalle war nach dem Krieg zusehends verfallen, wurde jedoch am 11. Juni 1981, nach aufwendiger Restaurierung auf Kosten der Stadt Braunschweig, wieder neu geweiht.

 

Synagogen

 

Im Mittelalter befand sich die Synagoge in der Jöddenstraße in der Neustadt. Von 1779 bis 1875 besaß die jüdische Gemeinde eine Synagoge im Hinterhof des Wohn- und Geschäftshauses am Kohlmarkt 12. Am 23. September 1875 wurde die von Constantin Uhde im romanisch-orientalischen Stil entworfene Neue Synagoge in der Alten Knochenhauerstraße eingeweiht. Ein Großteil der Bausumme wurde aus dem Vermächtnis des Hofbankiers Nathan Nathalion (1805–1864) finanziert. Die Synagoge wurde in der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 schwer beschädigt und im Dezember 1940 wegen Baufälligkeit abgerissen. Auf dem Gelände wurde umgehend ein noch heute bestehender Luftschutzbunker errichtet. 1976 wurde dort eine Gedenktafel zur Erinnerung an die zerstörte Synagoge angebracht. Das nur wenige Meter neben dem Gebäude in der Steinstraße stehende jüdische Gemeindehaus wurde 1983 wiedereröffnet. Es wurde dort eine Gedenktafel für die jüdischen Bürger eingeweiht, die zwischen 1933 und 1945 ihr Leben verloren. Seit dem 6. Dezember 2006 besteht eine neue Synagoge in der Steinstraße.

 

Jüdisches Museum

 

Das Jüdische Museum geht auf die bereits 1746 öffentlich zugängliche Judaica-Sammlung des Hofjuden Alexander David zurück. Sie wurde durchgehend seit der Gründung des „Vaterländischen Museums“ im Jahre 1891 bis 1944 in dessen Räumen gezeigt. Auch während der Zeit des Nationalsozialismus war die Ausstellung öffentlich zugänglich, wobei allerdings die diskreditierende Beschriftung „Fremdkörper in der Deutschen Kultur“ angebracht wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte die Sammlung aus Platzgründen zunächst nicht wieder gezeigt werden. Erst am 27. Oktober 1987 wurde die traditionsreiche Abteilung „Jüdisches Museum“ des Landesmuseums im Ausstellungszentrum Hinter Aegidien neu eröffnet. Zu den bedeutendsten Ausstellungsstücken gehört die 1925 aufgebaute Hornburger Synagoge.

 

 

„Stolpersteine“

 

Am 9. März 2006 wurden die ersten elf „Stolpersteine“ in Braunschweig durch den Bildhauer Gunter Demnig an Orten verlegt, wo bis 1945 Juden gelebt haben. So z. B. auf dem Altstadt- und dem Kohlmarkt sowie in der Steinstraße, ganz in der Nähe der neuen Synagoge. Die Steine sollen an den letzten Wohnort der durch die Nationalsozialisten verfolgten Braunschweiger Juden erinnern.

 

Die Juden in Frankfurt am Main

 

Die Frankfurter Judengasse war das von 1462 bis 1796 bestehende jüdische Ghetto in Frankfurt am Main. Es war das erste und eines der letzten in Deutschland vor der Epoche der Emanzipation im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. In der frühen Neuzeit lebte hier die größte jüdische Gemeinde Deutschlands.

 

Nach der Aufhebung des Ghettozwanges wurde die Judengasse ein Armenviertel und verfiel zusehends. Ende des 19. Jahrhunderts wurden daher fast alle Häuser abgerissen. Die auf ihrem Verlauf angelegte Börnestraße blieb ein Zentrum jüdischen Lebens in Frankfurt, weil sich hier die liberale Hauptsynagoge und die orthodoxe Börneplatzsynagoge befanden.

 

Nach den Zerstörungen in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges ist die Gasse im heutigen Straßenbild Frankfurts nicht mehr erkennbar. Ende der 1980er Jahre wurden beim Bau eines Verwaltungsgebäudes Reste der alten Judengasse entdeckt und nach langer öffentlicher Debatte als Museum Judengasse in den Neubau integriert.

 

 

Lage und Bebauung

 

Die Judengasse lag östlich der Staufenmauer, die die Frankfurter Altstadt von der nach 1333 entstandenen Neustadt trennte. Nur wenig mehr als drei Meter breit und etwa 330 Meter lang, beschrieb sie einen Bogen, der ungefähr von der Konstablerwache bis zum heutigen Börneplatz reichte. Sie war rundum von Mauern umschlossen und nur über drei Tore zugänglich. Aufgrund der engen Bebauung wurde die Judengasse allein im 18. Jahrhundert dreimal durch Feuersbrünste zerstört: 1711, 1721 und 1796.

 

Das Areal des Ghettos war ursprünglich für 15 Familien mit etwas mehr als 100 Mitgliedern geplant. Da der Frankfurter Magistrat sich jahrhundertelang seiner Erweiterung widersetzte, lebten am Ende des 18. Jahrhunderts rund 3.000 Menschen dort. Nicht weniger als 195 Häuser und Hinterhäuser bildeten je zwei doppelte Gebäudezeilen zu beiden Seiten der Gasse. Sie galt damit als das am dichtesten besiedelte Gebiet Europas. Zeitgenossen schildern sie als äußerst drangvolles, düsteres Stadtquartier. So schrieb z.B. Johann Wolfgang von Goethe in seiner Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit:

Zu den ahnungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand der Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße besteht, welche in frühen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah.

 

 

Die Frankfurter Juden vor der Ghettoisierung

 

Juden gehörten wahrscheinlich bereits zu den ersten Bewohnern Frankfurts. Ihre erste urkundliche Erwähnung stammt vom 18. Januar 1074: Heinrich IV. bewilligte den Bürgern und Juden von Worms und anderen Orten, darunter auch Frankfurt, gewisse Privilegien wie den Erlass von Zollgebühren. Achtzig Jahre später erwähnte der Mainzer Rabbi Elieser ben Nathan die jüdische Gemeinde Frankfurts in der Handschrift Eben ha Eser. Die Gemeinde war damals wahrscheinlich noch sehr klein.

 

Bis zum Spätmittelalter lebten die Frankfurter Juden in der heutigen Altstadt, im Wesentlichen zwischen Kaiserdom St. Bartholomäus, Fahrgasse und Main. In diesem Viertel, einer der besten Gegenden der Stadt, spielte sich auch das politische Leben ab: Hier befanden sich das Rathaus, die Münze, die Häuser der Färber und der Lohgerber - das Komphaus und der Loher- oder Lower-Hof - sowie ein Hof des Erzbischofs von Mainz.

 

In Frankfurt durften sich Juden überall in der Stadt niederlassen und genossen damit größere Bewegungsfreiheit als in anderen Städten des Reichs. Umgekehrt lebten auch viele Nichtjuden im Judenviertel. Dessen nördliche Häuser gehörten dem Domstift. Obwohl es Synodalbeschlüsse gab, nach denen kein Jude in einem der Kirche gehörenden Haus oder in der Nähe eines christlichen Friedhofes wohnen sollte, überließ das Bartholomäusstift die Häuser den Juden gegen hohe Kautionen zur Miete.

 

 

Die „Judenschlacht“ von 1241

 

Im Mai 1241 fielen die meisten Frankfurter Juden einem Pogrom zum Opfer, dem nur wenige durch Annahme der Taufe entgingen. Die wenigen erhaltenen Quellen aus dieser Zeit ergeben nur ein unvollständiges Bild der als „Frankfurter Judenschlacht“ bezeichneten Vorgänge. Auslöser der Gewaltakte waren eskalierende Streitigkeiten um eine jüdisch-christliche Ehe und um die Zwangstaufe.

 

Nach den Annalen der Erfurter Dominikaner kamen im Verlauf der Ausschreitungen nur wenige Christen, aber 180 Juden um. 24 Juden, darunter angeblich auch ein Gemeindevorsteher, entgingen dem drohenden Tod nur, indem sie sich taufen ließen. Die Synagoge wurde geplündert und zerstört und die Thorarollen zerrissen. Anschließend breitete sich ein Feuer aus, das fast die Hälfte der Stadt erfasste.

 

Der Pogrom geschah, obwohl alle Juden im Reich seit 1236 durch das Privilegienrecht Kaiser Friedrichs II. geschützt waren. Sie waren darin zu Kammerknechten des Kaisers erklärt worden und hatten Steuern direkt an ihn zu entrichten. Zudem unterstand Frankfurt damals noch einem königlichen Schultheißen, der dem Gericht vorstand und das städtische Militär befehligte. Warum er oder die den Staufern ergebenen Ministerialen die Juden nicht schützten, ist nicht bekannt. Dass die Kämpfe mehr als einen Tag dauerten und ein stark befestigter Turm erstürmt wurde, auf den sich 70 Juden geflüchtet hatten, weist jedenfalls auf die Beteiligung bewaffneter Kräfte hin. Ein jüdisches Klagelied berichtet von Bogenschützen, die die Rabbiner und ihre Schüler in den beiden Lehrhäusern angriffen. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass es sich bei der „Judenschlacht“ um eine organisierte Aktion handelte und nicht um ein spontanes Massaker der städtischen Bevölkerung.

 

Die Verantwortlichen lassen sich angesichts der unsicheren Quellenlage nur vermuten; ob Ordensleute des Dominikanerklosters, die sich im päpstlichen Auftrag dem Kampf gegen Häresien widmeten, daran beteiligt waren, ist fraglich. Vermutet wurde auch eine Verwicklung des Kurmainzer Erzbischofs Siegfried III. von Eppstein, der sich Ende April 1241 mit dem Kurkölner Erzbischof Konrad von Hochstaden gegen die Staufer verbündet hatte und den Bau des Frankfurter Dominikanerklosters unterstützte. Einige Quellen legen nahe, dass der Pogrom antistaufische Hintergründe hatte; zweifelsfrei belegen lassen sich diese jedoch nicht.

 

Friedrich II. ordnete eine Untersuchung an, die mehrere Jahre dauerte. 1246 gewährte König Konrad IV. im Auftrag seines Vaters den Frankfurtern in einer Urkunde Verzeihung für die „Judenschlacht“ und verzichtete auf Schadensersatz, da die Bürger den Pogrom „eher aus Nachlässigkeit denn aus Vorsätzlichkeit“ hätten geschehen lassen. Diese Amnestie wird als Ausdruck der schwachen politischen Situation der Staufer in Frankfurt gewertet: Der Verzicht auf eine Verfolgung des Pogroms an ihren Schutzbefohlenen sollte ihnen möglicherweise die Unterstützung durch die Bürgerschaft sichern.

 

 

Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde 1349

 

Im 14. Jahrhundert erreichte Frankfurt unter den Kaisern Ludwig dem Bayern und Karl IV. die Anerkennung als Freie Reichsstadt. Die Regierungsgewalt hatte nun der von Patriziern dominierte Rat inne.

 

Um die Mitte des 14. Jahrhunderts kam es erneut zu Gewaltakten gegen die Frankfurter Juden. Kaiser Ludwig zog verschiedene Mitglieder der Gemeinde wegen angeblicher Verbrechen vor Gericht. Die Juden gerieten in Panik und eine Anzahl von ihnen floh aus der Stadt. Dem Kaiser entgingen damit Einkünfte, die ihm das Judenregal, das Herrschaftsrecht über die Juden, bis dahin gesichert hatte. Er hielt sich schadlos, indem er Häuser und Besitzungen der geflohenen Juden einzog und sie der Stadt Frankfurt verkaufte. Rückkehrer durften nach dem Willen des Kaisers mit dem Frankfurter Rat über den Preis für die Rückgabe ihres konfiszierten Eigentums verhandeln. Von dieser Möglichkeit machten einige zuvor geflohene Juden Gebrauch.

 

Im Juni 1349 verpfändete Kaiser Karl IV. das Judenregal für 15.200 Pfund Heller der Stadt Frankfurt. Hatte bis dahin der königliche Schultheiß für den Schutz der Juden zu sorgen, so ging diese Aufgabe nun an Bürgermeister und Rat der Stadt über. Rechtlich gesehen wurden die Frankfurter Juden also von kaiserlichen Kammerknechten zu Untertanen des Rates. Gleichwohl behielten sich die römisch-deutschen Kaiser bis zum Ende des Alten Reiches Schutzrechte über die Frankfurter Judengemeinde vor.

 

Bis zur Einlösung des Pfands durch den Kaiser oder einen seiner Nachfolger sollten sich die Herrschaftsrechte des Rats auf die Juden selbst sowie auf ihren gesamten Besitz innerhalb und außerhalb Frankfurts erstrecken: auf Höfe und Häuser, selbst auf den Friedhof und die Synagoge samt allen damit verbundenen Nutzungsrechten und Dienstbarkeiten. Angesichts der sich häufenden Pogrome während der seit 1348 grassierenden Pestepidemie hatten Kaiser und Rat einen Passus in die Verpfändungsurkunde einfügen lassen, der sich als verhängnisvoll erwies. Er besagte, dass der Kaiser die Stadt nicht dafür zur Verantwortung ziehen werde, falls die Juden „von Todes wegen abgingen oder verdürben oder erschlagen würden“. Das Eigentum getöteter Juden solle an die Stadt fallen.

 

Nur zwei Wochen nachdem der Kaiser die Stadt verlassen hatte, am 24. Juli 1349, wurden alle Frankfurter Juden erschlagen oder in ihren Häusern verbrannt. Die Zahl der Opfer ist nicht genau bekannt, sie wird auf etwa 60 geschätzt. In der älteren Literatur werden durchweg Geißler, eine Schar umherziehender religiöser Fanatiker und Bußprediger, für die Tat verantwortlich gemacht. Bereits an anderen Orten hatten sie Pogrome verübt, weil sie den Juden die Schuld an der Pest gaben. Insgesamt wurden damals allein in Deutschland etwa 300 jüdische Gemeinden vernichtet.

 

Gegen die Urheberschaft der Geißler sprechen aber zum einen die oben zitierten Bestimmungen der Urkunde Karls IV. sowie die Tatsache, dass die Pest in Frankfurt erst im Herbst 1349 ausbrach. Nach neueren Forschungen handelte es sich bei dem Mordüberfall womöglich nicht um einen spontanen Aufruhr, sondern um ein von langer Hand vorbereitetes Massaker. Die Ermordung der Juden lag im wirtschaftlichen Interesse einiger Patrizier und Zunftmeister, die sich auf diese Weise ihrer Schulden entledigen und ungehindert den frei gewordenen jüdischen Besitz aneignen konnten. Der Pfarrkirchhof der Bartholomäuskirche beispielsweise wurde um Flächen erweitert, auf denen zuvor Hofstätten der Juden gelegen hatten.

 

 

Die Neugründung der Gemeinde

 

Nachdem ein kaiserliches Privileg die Neugründung einer Gemeinde ermöglicht hatte, siedelten sich seit 1360 erneut Juden in Frankfurt an. Der Kaiser beanspruchte die Steuern, die von den neu zuziehenden Juden zu zahlen waren, für sich. Die Hälfte davon, die er dem Erzbischof von Mainz verpfändet hatte, erwarb die Stadt Frankfurt 1358. Für den Kaiser zog dessen Schultheiß Siegfried zum Paradies die Steuer ein, der so wiederum zum Schutzherrn der Juden wurde. Als die Stadt aber 1372 das Schultheißenamt selbst einlöste, erwarb sie für 6.000 Mark auch das Recht am königlichen Halbteil der Judensteuer. Damit waren das Judenregal abermals vollständig in den Besitz der Stadt gelangt.

 

Gegen Ende des 14. Jahrhunderts war die Gemeinde bereits wieder so groß, dass sie an der Stelle der alten zerstörten Synagoge eine neue errichten konnte. In ihr begingen die Juden nicht nur den Gottesdienst, sondern leisteten auch gerichtliche Eide, schlossen Geschäfte ab und nahmen Erlasse des Kaisers oder des Rates entgegen. Nach dem Gottesdienst mahnte der Rabbiner rückständige Steuern an und verhängte den Bann über Gemeindemitglieder, die sich strafbar gemacht hatten. Als bei Ausgrabungen die Fundamente der Synagoge freigelegt wurden, entdeckte man einen 5,6 Quadratmeter großen Raum, der so tief war, dass er bis zum Grundwasserspiegel gereicht haben könnte. Daher handelte es sich bei ihm vermutlich um eine Mikwe.

 

Die größte Liegenschaft der damaligen jüdischen Gemeinde war der seit ca. 1270 genutzte Friedhof, der erstmals in einer Kaufurkunde von 1300 erwähnt wird. Vor der 1333 von Kaiser Ludwig dem Bayern gestatteten zweiten Stadterweiterung lag er noch außerhalb der Stadt. Er grenzte an den Kustodiengarten des Bartholomäusstiftes und war frühzeitig mit Mauern umgeben worden. Als Frankfurt sich bei der strittigen Königswahl von 1349 für den Kandidaten Günther von Schwarzburg erklärt hatte und einen Angriff von dessen Gegenkönig Karl IV. erwartete, wurden um die Altstadt und den Judenfriedhof elf Erker angebracht. Auch im großen Städtekrieg von 1388 wurde der jüdische Friedhof in Verteidigungszustand gebracht.

 

 

Die Judenstättigkeit

 

Bis 1349 waren Frankfurts Juden in die städtischen Bürgerlisten eingetragen worden. Die zweite Gemeinde, die sich nach 1360 wieder bildete, hatte einen anderen rechtlichen Status. Jedes ihrer Mitglieder musste einzeln einen Schutzvertrag mit dem Rat abschließen, worin Aufenthaltsdauer, regelmäßig zu leistende Abgaben und zu beachtende Vorschriften geregelt waren. 1366 befahl Kaiser Karl IV. seinem Schultheißen Siegfried, der auch oberster Gerichtsbeamter in Frankfurt war, nicht zuzulassen, dass sie Handwerksmeister hätten, eigene Gesetze erließen oder selbst Gericht hielten. 1424 wurden alle einzelnen Regelungen vom Rat erstmals in der Juden stedikeit zusammengefasst und von da an jährlich in der Synagoge verlesen. Schon die erste Stättigkeit von 1424 zeigt deutliche Tendenzen, Juden vom Grundbesitz auszuschließen.

 

 

Krise und Wiederaufstieg der Gemeinde im 15. Jahrhundert

 

Frankfurt hatte im 14. Jahrhundert noch keine ausgeprägte kaufmännische Oberschicht. Trotz der Messe, die bereits existierte, war der Warenhandel in Frankfurt weit weniger ausgeprägt als in anderen deutschen Städten. Daher betätigten sich viele Frankfurter Juden wirtschaftlich im Kreditgeschäft mit Handwerkern, Bauern und Adligen vorwiegend aus der näheren Umgebung, aber auch aus Frankfurt. Ein Nebenprodukt der Geldleihe war der Verkauf verfallener Pfänder. Dazu kam der Kleinhandel mit Pferden, Wein, Getreide, aber auch Tuchen, Kleidern und Schmuck. Der Umfang dieser Geschäfte war nicht bedeutend. Gemessen an den Summen der Königssteuern, welche die Frankfurter Juden entrichteten, lag die Wirtschaftskraft ihrer Gemeinde noch bis Mitte des 15. Jahrhunderts weit hinter der der Nürnberger, Erfurter, Mainzer oder Regensburger Juden zurück.

 

Seit Ende des 14. Jahrhunderts waren die Frankfurter Juden zunehmenden Beschränkungen ausgesetzt: 1386 verbot der Rat ihnen die Anstellung christlicher Dienstmägde und Ammen. Zudem legte er genau fest, wie viele Dienstboten jeder jüdische Haushalt halten durfte. Ein allgemeiner Judenschuldenerlass des römisch-deutschen Königs Wenzels enteignete die Juden faktisch zugunsten ihrer Schuldner. Gleichzeitig versuchte der Rat durch eine rigide Steuerpolitik das Wachstum der jüdischen Gemeinde zurückzudrängen. Zwischen 1412 und 1416 sank die Zahl der jüdischen Haushalte von ca. 27 auf ca. vier. 1422 verweigerte der Rat unter Berufung auf seine Privilegien die Einziehung einer vom römisch-deutschen König und späteren Kaiser Sigismund den Juden auferlegten Ketzersteuer, woraufhin die Frankfurter Juden mit der Reichsacht belegt wurden und die Stadt verlassen mussten. Erst 1424 konnten sie zurückkehren, nachdem der Kaiser die Frankfurter Rechtsposition anerkannt hatte.

 

Im Jahr 1416 erreichte die Zahl der jüdischen Haushalte einen Tiefstand. Danach aber wuchs sie kontinuierlich an und in der zweiten Jahrhunderthälfte erbrachten die Frankfurter Juden ein erhebliches Steueraufkommen. Nach der Vertreibung der Juden aus den Städten Trier 1418, Wien 1420, Köln 1424, Augsburg 1438, Breslau 1453, Magdeburg 1493, Nürnberg 1499 und Regensburg 1519 nahm auch Frankfurts Bedeutung als Finanzplatz allmählich zu. Denn nicht wenige der Ausgewiesenen zogen in die Stadt am Main, deren Rat aber nur den finanzkräftigsten der Vertriebenen die Niederlassung erlaubte.

 

Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden auf Drängen der Handwerkszünfte, die sich immer mehr einer ernstzunehmenden Konkurrenz ausgesetzt sahen, der Geld- und Warenhandel der Juden Beschränkungen unterworfen. Als König Maximilian 1497 die Judengemeinden in 17 Reichsstädten zu einer Steuer für seinen Italienfeldzug veranlagte, zahlte Worms die höchste Summe, die Frankfurter Gemeinde schon die zweithöchste.

 

 

Das Frankfurter Ghetto

 

Die Vorgeschichte

 

Bereits 1431 stellte der Rat erneut Überlegungen an, wie er der Juden, derentwegen es immer wieder zu Konflikten mit dem Kaiser und dem Mainzer Erzbischof gekommen war, gänzlich quit mochte werden. 1432 und 1438 debattierte er die Einschließung der Juden in einem Ghetto, jedoch ohne unmittelbare Konsequenzen. 1442 verlangte Kaiser Friedrich III. auf Betreiben der Geistlichkeit die Umsiedelung der Juden aus ihren Wohnungen in der Nähe des Doms, weil der Synagogengesang angeblich den christlichen Gottesdienst in der nahegelegenen Kirche störte. 1446 geschah ein Mord an dem Juden zum Buchsbaum, den der Ratsschreiber im Bürgermeisterbuch mit drei Kreuzen und den Kommentaren Te deum laudamus und Crist ist entstanden vermerkte. 1452 verlangte der Kardinal Nikolaus von Kues bei seinem Aufenthalt in Frankfurt, dass der Rat auf die Einhaltung der kirchlichen Kleiderordnung für Juden zu achten hatte. Jüdinnen hatten einen blaugestreiften Schleier zu tragen, Juden gelbe Ringe an den Rockärmeln. Allerdings wurde die Einhaltung dieser Vorschriften auch künftig nicht sehr nachhaltig betrieben.

 

Die Errichtung des Ghettos

 

Nach einer weiteren Intervention Kaiser Friedrichs III. im Jahr 1458 begann der Rat schließlich mit dem Bau von Häusern außerhalb der alten Stadtmauer und des Stadtgrabens, in die die Juden 1462 umziehen mussten. Dies war der Beginn der Einrichtung eines abgeschlossenen Ghettos. 1464 hatte die Stadt elf Häuser, ein Tanzhaus, ein Hospital, zwei Wirtshäuser und ein Gemeindehaus auf eigene Kosten errichtet. Das Kalte Bad und eine Synagoge wurden hingegen auf Kosten der jüdischen Gemeinde erbaut.

 

Diese erste Ghetto-Synagoge, auch Altschul genannt, stand auf der Ostseite der Judengasse und wurde wie die alte nicht nur für religiöse Zwecke benutzt. Sie war das soziale Zentrum der Gemeinde, wo man auch durchaus profane Tätigkeiten verrichtete. Das entsprach der engen Verknüpfung von Alltag und Religion im Judentum. Die Judenstättigkeit brachte eine teilweise Eigenständigkeit der Gemeinde mit sich. So wurden in der Synagoge auch die Gemeindevorsteher gewählt, Verordnungen des Rabbinats angeschlagen, mutwillige Bankrotteure für unwürdig erklärt und körperliche Züchtigungen vor versammelter Gemeinde vollzogen. Die Sitzplätze in der Synagoge wurden vermietet. Wer der Gemeinde Geld schuldig blieb, dessen Sitz wurde meistbietend versteigert.

 

1465 beschloss der Rat der Stadt, den Weiterbau der Gasse den Juden auf eigene Kosten zu überlassen. Diese ließen daraufhin 1471 weg und platz pflastern, einen zweiten Brunnen anlegen und eine Badestube bauen. Grund und Boden gehörten dem Rat, der sich auch das Eigentumsrecht an den Häusern vorbehielt, unabhängig davon, ob er selbst oder die Juden sie gebaut hatten. Für die bebauten Flächen erhob er Grundzins.

 

Erst ein Jahrhundert nach der Zwangsumsiedlung, als die Häuser in der Judengasse nicht mehr ausreichten, erlaubte man den Juden, auch einen Teil des Grabens zu bebauen. So entstand zwischen 1552 und 1579 die Judengasse in der Form, wie sie bis ins 19. Jahrhundert existierte.

 

Durch ihren wirtschaftlichen Aufschwung war die jüdische Bevölkerung von ehemals 260 Personen im Jahre 1543 auf ca. 2700 Personen im Jahre 1613 angewachsen. Da die Judengasse nicht erweitert werden durfte, wurden neue Häuser dadurch geschaffen, dass vorhandene geteilt wurden. Zu beiden Seiten der Gasse wurden Hinterhäuser gebaut, so dass sie nun vier Reihen von Häusern hatte. Schließlich erhöhte man noch die Anzahl der Stockwerke und ließ die oberen Geschosse so weit in die Gasse ragen, dass die Häuser sich fast berührten. Auf niedrige Häuser setzte man große mehrstöckige Aufbauten, sogenannte Zwerchhäuser.

 

Leben im Ghetto

 

Das Leben in der Judengasse war aufgrund der raschen Zunahme ihrer Bevölkerung äußerst beengt, zumal sich der Frankfurter Magistrat über Jahrhunderte weigerte, das Gebiet des Ghettos zu erweitern.

 

Die Lebensumstände der Juden waren bis ins Kleinste von der so genannten Judenstättigkeit reglementiert. Diese Verordnung des Frankfurter Rats legte unter anderem fest, dass die Juden das Ghetto nachts, Sonntags, an christlichen Feiertagen sowie während der Wahl und Krönung der römisch-deutschen Kaiser nicht verlassen durften.

 

Über diese Isolierung hinaus enthielt die Judenstättigkeit eine Unzahl weiterer, zum großen Teil diskriminierender und schikanöser Bestimmungen.

 

Sie regelte das Aufenthaltsrecht, die Erhebung von Abgaben, und die berufliche Tätigkeit der Juden ebenso wie ihr Verhalten im alltäglichen Leben, bis hin zur Kleidung. So musste jeder Jude einen ringförmigen, so genannten Gelben Fleck auf der Kleidung tragen. Der Zuzug ins Ghetto von außerhalb Frankfurts war streng begrenzt. Insgesamt durften nach der 1616 neu erlassenen Judenstättigkeit nur 500 Familien in der Judengasse leben, und ihren Bewohnern waren pro Jahr nur zwölf Hochzeiten erlaubt. Selbst wohlhabende und angesehene Bewohner wie der Bankier Mayer Amschel Rothschild waren von den diskriminierenden Beschränkungen nicht ausgenommen. Dennoch entwickelte sich in der Gasse ein blühendes jüdisches Leben.  

 

 

Die Rabbinerversammlung von 1603

 

Die jüdische Gemeinde Frankfurts gehörte seit dem 16. Jahrhundert zu den bedeutendsten in Deutschland. In der Judengasse gab es eine Art von talmudischer Akademie, in der hervorragende halachische Rabbiner lehrten. Auch kabbalistische Werke wurden in der Judengasse gedruckt. Was in den jüdischen Gemeinden Deutschlands an Geldern für die armen Juden Palästinas gesammelt wurde, wurde nach Frankfurt geschickt und von dort weiter überwiesen.

 

Welch zentrale Rolle die Frankfurter Gemeinde für das jüdische Geistesleben in der frühen Neuzeit spielte, zeigte sich an der großen Rabbinerversammlung, die 1603 in der Judengasse stattfand. Einige der bedeutendsten Gemeinden Deutschlands – u.a. die aus Mainz, Fulda, Köln und Koblenz – entsandten Vertreter nach Frankfurt. Die Versammlung beschäftigte sich vor allem mit der Gerichtsbarkeit, die die Juden autonom regeln durften, und für die fünf Gerichtshöfe eingerichtet worden waren: in Frankfurt am Main, Worms, Friedberg, Fulda und Günzburg. Regelungen gegen Betrug in Handel und Münzwesen gehörten ebenso zu den Themen der Versammlung wie Fragen von Abgaben an die Obrigkeit, religiöse Angelegenheiten wie das Schächten und rituelle Regelungen. Da Kaiser Rudolf II. jedoch befand, mit ihren Beschlüssen habe die Versammlung die kaiserlichen Privilegien überschritten, die den Juden zuerkannt worden waren, löste die Versammlung einen Hochverratsprozess gegen die Juden in Deutschland aus. Nach Auffassung der kaiserlichen Juristen hatte die von ihnen so genannte „Frankfurter Rabbinerverschwörung“ gegen Grundsätze des Reichsrechts verstoßen. Danach stand die iurisdictio, die höchste Gewalt zu befehlen und zu verbieten, allein den Landesherren zu. Der Prozess dauerte 25 Jahre. Währenddessen schien der kaiserliche Schutz aufgekündigt, was Judenfeinde zu Ausschreitungen und Pogromen in Frankfurt und Worms, den beiden größten Gemeinden des deutschen Judentums, ermutigte. Der Streit wurde 1631 beigelegt, als die Frankfurter Gemeinde und ganz Aschkenas eine hohe Summe aufnahm, die der Kölner Kurfürst, der Untersuchungsführer des Prozesses, als Strafzahlung erhielt.

 

Der Fettmilch-Aufstand

 

Soziale Spannungen zwischen den Patriziern, die den Frankfurter Magistrat dominierten, und den Handwerkszünften führten 1614 zum so genannten Fettmilch-Aufstand – benannt nach seinem Anführer, dem Lebkuchenbäcker Vinzenz Fettmilch – in dessen Verlauf die Judengasse überfallen und geplündert und die Juden erneut zeitweilig aus Frankfurt vertrieben wurden.

 

Die Proteste der Zünfte richteten sich zunächst gegen das finanzielle Gebaren des Rats und zielten auf eine stärkere Beteiligung an der städtischen Politik. Neben einer Regulierung der Getreidepreise verlangten die Zünfte aber auch antijüdische Maßnahmen, insbesondere eine Beschränkung der Zahl der in der Stadt ansässigen Juden sowie eine Halbierung des Zinssatzes, den die Juden bei ihren Geldgeschäften fordern durften. Damit fanden die Anhänger Fettmilchs Unterstützung bei Kaufleuten und Handwerkern, die von einer Vertreibung der Juden auch die Erledigung ihrer Schulden erhofften.

 

Ende 1613 schloss der Rat einen Bürgervertrag mit den Aufständischen, der im Wesentlichen eine Verfassungsreform bedeutete, die den Vertretern der Zünfte mehr Rechte und mehr Einfluss gewährte. Als die hohe Verschuldung der Stadt öffentlich wurde und sich zugleich herausstellte, dass der Rat die von den Juden gezahlten Schutzgelder veruntreut hatte, ließ Fettmilch den Rat für abgesetzt erklären und die Stadttore besetzen. Es kam zu ersten Ausschreitungen gegen die Juden. Nun schaltete sich der Kaiser, der sich bis dahin neutral verhalten hatte, in den Konflikt ein. Er forderte die Wiedereinsetzung des Rates und drohte allen Bürgern die Reichsacht an, falls sie sich nicht unterwerfen sollten.

 

Nach Bekanntwerden der kaiserlichen Drohung zogen am 22. August 1614 aufständische Handwerker und Gesellen protestierend durch die Straßen. Ihr Zorn richtete sich gegen das schwächste Glied in der Kette ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner: die Juden. Die Aufrührer stürmten die Tore der Judengasse, die von den jüdischen Männern verteidigt wurden, und drangen nach mehrstündigen Barrikadenkämpfen in das Ghetto ein. Alle Bewohner der Judengasse, insgesamt 1380 Menschen, wurden auf dem jüdischen Friedhof zusammengetrieben, ihre Häuser geplündert und teilweise zerstört. Am nächsten Tag mussten sie die Stadt verlassen. Sie fanden Zuflucht in den umliegenden Gemeinden, vor allem in Hanau, Höchst und Offenbach.

 

Daraufhin ließ der Kaiser am 28. September 1614 die Reichsacht über Fettmilch und mehrere seine Anhänger verhängen. Am 27. November wurde Fettmilch verhaftet. Ihm und 38 weiteren Angeklagten wurde der Prozess gemacht. Das Gericht verurteilte sie jedoch nicht wegen der Ausschreitungen gegen die Juden, sondern wegen Majestätsverbrechen und Missachtung der kaiserlichen Befehle. Am 28. Februar 1616 wurden Fettmilch und sechs seiner Anhänger auf dem Frankfurter Roßmarkt hingerichtet. Am selben Tag, dem 20. Adar nach jüdischem Kalender, wurden die geflohenen Juden von kaiserlichen Soldaten in die Judengasse zurückgeführt. An ihren Toren wurde ein steinerner Reichsadler angebracht sowie die Inschrift „Römisch kaiserlicher Majestät und des heiligen Reiches Schutz“. Als erste Maßnahme stellten die zurückgekehrten Frankfurter Juden die entweihte Synagoge und den verwüsteten Friedhof wieder für den religiösen Gebrauch her. Den Jahrestag der feierlichen Rückführung begingen sie künftig als Freudenfest Purim Vinz nach dem Vornamen des Rädelsführers, der Purim-Kaddisch hat eine fröhliche Marschmelodie in Erinnerung an den Festzug der Wiederkehr.

 

Die zugesagte Entschädigung erhielten die zurückgekehrten Juden allerdings nie. Der Fettmilch-Aufstand war einer der letzten Judenpogrome in Deutschland vor der Zeit des Nationalsozialismus. Die zeitgenössische Publizistik zu den Ereignissen von 1612 ist insofern bemerkenswert, als erstmals auch christliche Kommentatoren mehrheitlich für die Juden Stellung bezogen.

 

 

Die Stättigkeit von 1616

 

Die neue „Judenstättigkeit“ für Frankfurt, die von den kaiserlichen Kommissaren aus Hessen und Kurmainz 1616 erlassen wurde, reagierte auf den Fettmilch-Pogrom, allerdings in einer Art und Weise, die den anti-jüdischen Einstellungen vieler Frankfurter stärker Rechnung trug als den Bedürfnissen der Juden.

 

So bestimmte die Stättigkeit, dass die Zahl der jüdischen Familien in Frankfurt auf 500 beschränkt bleiben sollte. In den 60 Jahren vor dem Pogrom war die Anzahl der jüdischen Haushalte in Frankfurt von 43 auf 453 angestiegen, also um mehr als das zehnfache. Diese Bestimmung sollte dem schnellen Bevölkerungswachstum in der Judengasse also eine Obergrenze setzen. Die Anzahl der Heiraten von Juden war auf 12 beschränkt, während Christen für eine Heiratserlaubnis dem Schatzamt nur ein ausreichendes Vermögen nachweisen mussten.

 

In wirtschaftlicher Hinsicht wurden die Juden weitgehend den christlichen Beisassen gleichgestellt: Wie diese durften sie keine offenen Läden halten, keinen Kleinhandel in der Stadt betreiben, keine Geschäftsgemeinschaft mit Bürgern eingehen und keinen Grundbesitz erwerben, alles Einschränkungen, deren Wurzeln weit ins Mittelalter zurückreichen.

 

Eine Neuerung war, dass den Juden nun der Großhandel ausdrücklich gestattet wurde, etwa der Handel mit Pfandgütern wie Korn, Wein und Spezereien oder der Fernhandel mit Tuch, Seide und Textilien. Es steht zu vermuten, dass der Kaiser mit dieser Stärkung der wirtschaftlichen Stellung der Juden ein Gegengewicht gegen die christlichen Kaufleute-Familien schaffen wollte, die nach der Entmachtung der Zünfte nun in Frankfurt herrschten.

 

Eine weitere für die Juden positive Bestimmung der neuen Stättigkeit besagte, dass diese nicht mehr alle drei Jahre erneuert werden musste. Sie kam also einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis in Frankfurt gleich. Dennoch galten die Juden weiter als Fremde, die gegenüber Bürgern und Beisassen einen niedrigeren Rechtsstatus einnahmen. Sie blieben Untertanen des Rates und konnten anders als Christen keinen Antrag auf Aufnahme in die Bürgerschaft stellen. Sich Bürger zu nennen war ihnen in der Stättigkeit von 1616 ausdrücklich verboten. Mit Abgaben waren die Juden stärker belastet als die christlichen Beisassen: Sie mussten höhere Zölle und zusätzliche Steuern entrichten.

 

Die Stättigkeit von 1616 wurde noch einige Male revidiert, so z. B. 1660. Die Veränderungen verbesserten die Situation der Juden. Trotz dieser Erleichterungen blieb die Stättigkeit dennoch bis ins 19. Jahrhundert hinein der mittelalterlichen Vorstellungswelt verhaftet.

 

Der Große Judenbrand von 1711

 

Am 14. Januar 1711 ereignete sich in der Judengasse eine der größten Brandkatastrophen, die Frankfurt jemals betroffen haben. Sie blieb im kollektiven Gedächtnis der Stadt als Großer Judenbrand erhalten. Das Feuer brach gegen acht Uhr abends im Hause Eichel des Oberrabbiners Naphtali Cohen aus. Mit einer Frontbreite von über 9,50 Metern war das gegenüber der Synagoge gelegene Haus eines der größten in der ganzen Gasse. Der starke Wind und die Enge der Gasse begünstigten die rasche Ausbreitung des Feuers ebenso wie die Bauweise der Häuser in Fachwerk, ohne hinreichende Brandmauern und mit weiten Überhängen zur Mitte der Gasse hin.

 

Aus Angst vor Plünderungen hielten die Bewohner die Tore der Gasse lange verschlossen, bis sich die Bevölkerung der christlichen Stadtviertel um die Judengasse aus Angst vor einem Übergreifen des Feuers gewaltsam Zutritt verschaffte. Trotzdem gelang es nicht, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Nach 24 Stunden waren alle Häuser des Ghettos bis auf eines verbrannt. Weil der Wind sich im letzten Augenblick gedreht hatte, griff der Brand nicht auf die umliegenden Viertel über.

 

Vier Menschen verloren in der Feuersbrunst ihr Leben und zahlreiche Kostbarkeiten gingen verloren, darunter Bücher, Handschriften und Thorarollen. Nach der Katastrophe durften die Bewohner der Gasse bis zum Wiederaufbau ihrer Häuser zur Miete in christlichen Häusern Frankfurts wohnen. Wer sich das nicht leisten konnte, war gezwungen, in Offenbach, Hanau, Rödelheim und anderen Orten der Umgegend mit jüdischen Gemeinden Unterschlupf zu suchen. Juden, die ohne Stättigkeit in der Gasse gewohnt hatten, wurden ausgewiesen. Die jüdische Gemeinde Frankfurts beging den Jahrestag des Brandes, nach jüdischem Kalender der 24. Tevet, fortan als Buß- und Fasttag.

 

Die erste Sorge der jüdischen Gemeinde galt dem Wiederaufbau ihrer abgebrannten Synagoge. Bereits Ende September 1711 wurde der Neubau, der auf den alten Fundamenten errichtet worden war, eingeweiht. Er bestand aus drei Teilen: der eigentlichen Synagoge (Altschul), der dreistöckigen Frauensynagoge nördlich davon, die fast gänzlich von der Synagoge getrennt war, und der Neuschul im Süden. Nur die Altschul wies mit einem gotischen Gewölbe, einer eigenen Fassade, zwei vorgelagerten Halbsäulen und größeren Rundbogenfenstern im Obergeschoss einige dekorative Elemente auf. Im Vergleich mit anderen Synagogenbauten der Barockzeit in Prag, Amsterdam oder Polen wirkte diese Synagoge mittelalterlich und rückständig und spiegelte so die Lage der in ein Ghetto gezwängten jüdischen Gemeinde wider.

 

Für den Wiederaufbau der Gasse erließ der Rat strenge Bauvorschriften. Die erhaltenen Bauzeichnungen erlauben heute eine recht gute Rekonstruktion der alten Judengasse.

 

 

Der Gassenbrand von 1721

 

Nur zehn Jahre nach dem großen Judenbrand brach am 28. Januar 1721 erneut ein Feuer in der Gasse aus. Innerhalb von elf Stunden stand der gesamte nördliche Teil der Gasse in Flammen. Über 100 Häuser brannten nieder. Weitere Häuser wurden bei den Rettungsarbeiten durch christliche Bewohner der Stadt geplündert und beschädigt, so dass Kaiser Karl VI. den Rat der Stadt ermahnte, gegen die Plünderer vorzugehen und die Juden besser zu schützen. Nach langen Verhandlungen verzichtete der Rat, der der jüdischen Gemeinde Geld schuldete, auf die Zahlung von ausstehenden Gemeindesteuern. Trotzdem ging der Wiederaufbau diesmal nur langsam voran, weil ein großer Teil der Gemeinde durch die erlittenen Katastrophen verarmt war.

 

Wieder hatte ein Teil der geschädigten Bewohner die Gasse verlassen und war bei christlichen Vermietern in Frankfurt untergekommen. 1729 zwang der Rat jedoch die letzten 45 außerhalb der Judengasse wohnenden Familien, ins Ghetto zurückzukehren.

 

Die Beschießung von 1796

 

Im Juli 1796 belagerten französische Revolutionstruppen unter General Jean-Baptiste Kléber Frankfurt. Da die Stadt von österreichischen Truppen besetzt gehalten wurde, fuhr die französische Armee Geschütze auf den Anhöhen nördlich der Stadt, zwischen Eschenheimer Tor und Allerheiligentor auf. Um den österreichischen Kommandeur Graf Wartensleben zur Kapitulation zu zwingen, ließ er die Stadt am Abend des 12. Juli und am Mittag des 13. Juli beschießen. Besonders schwere Schäden richtete ein einstündiges Bombardement in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli an. Vor allem der Nordteil der Judengasse wurde getroffen und geriet in Brand. Etwa ein Drittel ihrer Häuser wurden vollkommen zerstört. Die österreichischen Besatzer mussten daraufhin kapitulieren.

 

Trotz der schweren Schäden hatte der Brand der Judengasse für die jüdische Gemeinde auch sein Gutes, da er de facto zur Aufhebung des Ghettozwangs führte.

 

Das Ende des Ghettos

 

Frankfurt hatte als eine der letzten Städte in Europa an der Ghettoisierung seiner jüdischen Bevölkerung festgehalten. Der Frankfurter Rat war von Grund auf antijüdisch eingestellt. So wies er 1769 eine Petition der Juden, das Ghetto am Sonntagnachmittag verlassen zu dürfen, zurück und betrachtete schon das Gesuch als:

 

Beweis für den grenzenlosen Hochmut dieses Volkes, das alle Mühe anwende, um sich bei jeder Gelegenheit den christlichen Einwohnern gleich zu setzen.

 

Als 1779 das Drama Nathan der Weise von Lessing erschien, ordnete er ein Verbot und die Konfiszierung der Bücher an. Die Frankfurter Juden bemühten sich beim Kaiser und beim deutschen Reichstag in Regensburg um eine Verbesserung ihrer Lage, die sich aber auch nach den Toleranzpatenten Kaiser Josephs II nicht wesentlich veränderte

 

Erst im Gefolge der Französischen Revolution erlangten die Frankfurter Juden die Befreiung vom Ghettozwang. Während des Krieges zwischen dem revolutionären Frankreich und der Koalition aus Österreich, England und Preußen wurde Frankfurt 1796 belagert. Da das Ghetto dabei in Brand geschossen worden war, durften sich die betroffenen Bewohner im christlichen Teil der Stadt niederlassen.

 

1806 verfügte der von Napoleon eingesetzte Großherzog von Frankfurt Carl Theodor von Dalberg die Gleichberechtigung aller Konfessionen. In einem seiner ersten Verwaltungsakte hob er eine alte städtische Verfügung auf, die den Juden den Zutritt zu den öffentlichen Promenaden, den Anlagen verbot. Für das Philanthropin, die neue Schule der Gemeinde, leistete er eine großzügige Spende. Die Stadt Frankfurt erstellte 1807 zwar noch einmal eine neue Stättigkeit und wies den Juden wiederum die Judengasse als Quartier zu. Erst Dalbergs Höchste Verordnung, die bürgerliche Rechtsgleichheit der Judengemeinde zu Frankfurt betreffend hob 1811 Ghettozwang und Sonderabgaben endgültig auf. Dafür allerdings hatte die Gemeinde eine Abschlagszahlung von 440.000 Gulden zu leisten.

 

 

Die Judengasse im 19. und 20. Jahrhundert

 

Nach dem Ende des von Napoleon protegierten Großherzogtums und der Wiederherstellung Frankfurts als Freie Stadt im Jahr 1816, beschnitt der Senat in der neuen Verfassung, der Konstitutionsergänzungsakte, die bürgerlichen Rechte der Juden erneut, unter Berufung auf den mehrheitlichen Willen der christlichen Bürgerschaft. Der Ghettozwang aber blieb aufgehoben. Erst 1864 hob die Freie Stadt Frankfurt als zweiter deutscher Staat nach dem Großherzogtum Baden (1862) alle Beschränkungen der Bürgerrechte auf und stellte die Juden den übrigen Bürgern gleich.

 

Aufgrund der beengten Wohnverhältnisse verließen die meisten Juden im Laufe des 19. Jahrhunderts das ehemalige Ghetto und ließen sich überwiegend im benachbarten Ostend nieder. Die Judengasse wurde zu einem Armenviertel. Obwohl das pittoreske Straßenbild Touristen und Maler anzog, wollte sich die Stadt der Reste des Ghettos entledigen. So wurden 1874 zunächst die mittlerweile als unbewohnbar geltenden Häuser auf der Westseite abgerissen, 1884 bis auf wenige Ausnahmen auch die auf der Ostseite. Zu den wenigen Gebäuden, die vorerst erhalten blieben, gehörte das als Museum genutzte Stammhaus der Rothschilds in der Judengasse Nr. 148. Mayer Amschels Witwe, Gutele Rothschild, geborene Schnaper, hatte es auch nach der 1817 erfolgten Erhebung ihrer fünf Söhne in den Adelsstand nicht verlassen, sondern wohnte bis zu ihrem Tode in diesem kleinen Haus im Ghetto, in dem die Finanzdynastie gegründet worden war.

 

Bereits 1854 hatte die israelitische Gemeinde die alte Synagoge von 1711 abreißen und 1859/60 durch einen repräsentativen Neubau ersetzen lassen. Als neue Hauptsynagoge blieb sie bis zu ihrer Zerstörung während der Novemberpogrome von 1938 das geistliche Zentrum des reformierten Flügels der Gemeinde. Mit der Neubebauung wurde die Judengasse 1885 nach einem ihrer berühmtesten Bewohner, Ludwig Börne, in Börnestraße und der frühere Judenmarkt an ihrem Südende in Börneplatz umbenannt. Dort ließen die orthodoxen Mitglieder der jüdischen Gemeinde 1882 eine eigene Synagoge errichten, die Börneplatzsynagoge. Auch sie wurde im November 1938 zerstört.

 

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 war die Börnestraße in Großer Wollgraben umbenannt worden, der Börneplatz in Dominikanerplatz (nach dem an seinem Westrand gelegenen Dominikanerkloster). Nachdem die Nationalsozialisten fast alle Frankfurter Juden vertrieben, deportiert oder ermordet hatten, ging auch die ehemalige Judengasse in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs vollständig unter.

 

 

Überreste des Ghettos

 

Nach den Zerstörungen des Krieges wurde das Areal völlig neu gestaltet und überbaut. 1952 bis 1955 wurden die Durchbrüche der heutigen Kurt-Schumacher-Straße und der Berliner Straße angelegt und Neubauten errichtet. Auf dem Börneplatz, der allerdings erst 1978 seinen früheren Namen zurückerhielt, entstand eine Blumengroßmarkthalle, die schon Ende der 1970er wieder verschwand. Auf den Wiederaufbau der Börnestraße verzichtete man. Infolge dessen ist die Lage der früheren Judengasse im heutigen Straßenverlauf nur noch rudimentär erkennbar.

 

Die Nordhälfte der heutigen Straße An der Staufenmauer südlich der Konstablerwache entspricht dem nördlichen Ende der Börnestraße und vormaligen Judengasse. Hier ist auch der letzte erhaltene Rest der Mauer selbst zu sehen, auf deren Ostseite das Ghetto lag. Die breite Kurt-Schumacher-Straße schneidet den ehemaligen Verlauf der Judengasse in spitzem Winkel und bedeckt dadurch einen großen Teil des früheren Ghettobezirks. Die Hauptsynagoge befand sich gegenüber der Einmündung der Allerheiligenstraße in die Kurt-Schumacher-Straße. An sie erinnert eine Gedenktafel am Haus Nr. 41.

 

Das südliche Ende der Judengasse liegt heute unter dem 1990 eröffneten Kundenzentrum der Stadtwerke und ist im Museum Judengasse zugänglich.

 

 

Museum Judengasse

 

Ende der 1980er Jahre wurden beim Bau eines neuen Verwaltungsgebäudes für die Frankfurter Stadtwerke Reste einer Mikwe und Fundamente von Häusern der Judengasse freigelegt. Daraufhin entwickelte sich eine bundesweite Debatte über den angemessenen Umgang mit den Überresten jüdischer Kultur. Schließlich wurden einige Grundmauern und archäologische Zeugnisse gesichert und in das 1992 im Untergeschoss des Verwaltungsgebäudes eröffnete „Museum Judengasse“ integriert. Das Museum ist eine Außenstelle des Jüdischen Museums Frankfurt. Im Pflaster des angrenzenden Neuen Börneplatzes ist ein Teil des Grundrisses der 1938 zerstörten Börneplatzsynagoge nachgebildet.

 

 

Jüdischer Friedhof Battonnstraße

 

Ein weiteres Zeugnis des Ghettos ist der 11.850 m² große alte jüdische Friedhof an der heutigen Battonnstraße. Er wurde 1180 erstmals urkundlich erwähnt und diente der jüdischen Gemeinde bis 1828 als Begräbnisstätte. Die ältesten Gräber stammen aus der Zeit um 1270. Damit ist der jüdische Friedhof von Frankfurt nach dem von Worms der zweitälteste in Deutschland. Das bekannteste Grab ist das von Mayer Amschel Rothschild.

 

Seit 1828 wurden die jüdischen Toten der Stadt auf dem zusammen mit dem Hauptfriedhof angelegten Jüdischen Friedhof an der Rat-Beil-Straße begraben, seit 1929 auf dem neuen Friedhof an der Eckenheimer Landstraße. Der alte jüdische Friedhof wurde geschlossen, blieb aber erhalten, um die Totenruhe zu wahren.

 

Anfang des 20. Jahrhunderts standen hier noch rund 7.000 Grabsteine. Im November 1942 ordnete der nationalsozialistische Oberbürgermeister Friedrich Krebs ihre Zerstörung an. Bis Ende des Krieges wurden etwa zwei Drittel der Grabsteine zertrümmert. Nur ein kleiner Teil des Friedhofs befindet sich heute noch im Originalzustand. 1996 wurden in der Friedhofsmauer 11.134 kleine Namenssteine eingesetzt, um an die während des Holocaust ermordeten jüdischen Bürger Frankfurts zu erinnern.

 

 

Kaiserreich und Weimarer Republik (1871–1933)

 

Im ganzen Norddeutschen Bund stellte im Juli 1869 das „Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“ die Juden gleich. Es bildete die Grundlage der Reichsverfassung von 1871. Sie machte alle deutschen Juden zu gleichberechtigten Bürgern. Dennoch war der gesellschaftliche Antisemitismus noch nicht überwunden, der besonders in Wirtschaftskrisen zurückkehrte.

 

Einige Juden rückten nun in hohe Positionen auf. Bekannt ist der jüdische Bankier Bismarcks, Gerson von Bleichröder. Der Reeder Albert Ballin gehörte zum engen Kreis um Wilhelm II., dem nach 1918 trotzdem antisemitische Ausfälle unterliefen. Es gab auch jüdische Gelehrte an Universitäten, wenn auch nur in geringer Zahl als ordentliche Professoren. Der Historiker Heinrich von Treitschke löste 1879 mit dem Ausruf „Die Juden sind unser Unglück“ den Berliner Antisemitismusstreit aus. Die freien Berufe wurden ein Tätigkeitsfeld für akademisch gebildete Juden, während Armee und Justizämter verwehrt blieben. Daneben entwickelte sich ein Mittelstand von kleinen Geschäftsinhabern und Industriellen. In groß- und kleinbürgerlichen Kreisen nahm im 19. Jahrhundert in zahlreichen Seebädern – auch außerhalb Deutschlands – der sogenannte Bäder-Antisemitismus zu. In manchen Badeorten an Nord- und Ostsee (Zinnowitz) waren Juden als Gäste unerwünscht.

 

Aus den preußischen Ostprovinzen und Osteuropa wanderten viele Juden als Arbeitskräfte in die dynamischen Industriezentren (Berlin, Stettin) ein. Die Zahl der jüdischen Almosenempfänger nahm stark ab.

 

Die jüdischen Gemeinden blühten auf, viele Synagogen wurden gebaut, oft mit Anlehnungen an den maurischen Stil. Unter den jüdischen Verbänden traten einander widerstrebende Richtungen auf, die einerseits für Zuwendung zur modernen Gesellschaft und starke Assimilation eintraten, andererseits die Traditionen des Glaubens zu konservieren suchten. Eine Dachorganisation war der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ab 1893, der die Assimilation an die deutsche Gesellschaft vertrat. Daneben kam der Zionismus nach Theodor Herzl auf, vertreten durch die Zionistische Vereinigung für Deutschland.

 

Die deutsche Gesellschaft reagierte zunächst nur in geringem Maß, als erste antisemitische Parteien gegründet wurden. Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker betrieb seit 1878 aus christlichem Antijudaismus die Christlich-soziale Partei.

 

Daneben kam mit dem Sozialdarwinismus eine neue rassistische Begründung des Antisemitismus (zuerst: Gobineau) auf, die von deutschen Vordenkern wie dem Philosophen Eugen Dühring 1881 aufgegriffen wurde. Im „Tivoli-Programm“ 1892 (Forderung: „christliche Obrigkeit und christliche Lehrer“) der Deutschkonservativen Partei ist erstmals eine der großen Parteien auf diese Linie eingeschwenkt. Dahinter steckten traditionell christliche Vorbehalte, aber auch bürgerliche Ängste vor Konkurrenz und Fremden.

 

Im Ersten Weltkrieg fielen rund 12.000 deutsche Juden. Aufgrund der gesellschaftlichen Diskriminierung rückten nur wenige deutsch-jüdische Soldaten zum Reserveoffizier auf. Die Vorbehalte verstärkten sich zur Mitte des Krieges wieder, was in der Gründung der antisemitischen Deutschen Vaterlandspartei zum Ausdruck kam. 1916 stellte man eine „Judenzählung“ im Heer an, die, obwohl unvollständig und lückenhaft, den Kriegsbeitrag der deutschen Juden belegte. Ihre Ergebnisse wurden nicht publiziert. Hinter der Aktion hatte unverkennbar die Absicht gestanden, Juden als „Drückeberger“ zu entlarven. Nach dem Weltkrieg bildete sich ein „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ mit über 50.000 Mitgliedern.

 

Entscheidend wurde die Diffamierung der Juden als Träger der Revolution von 1918/1919, die den deutschen Sieg hintertrieben hätten („Dolchstoßlegende“). Ebenso wurde ihnen häufig die Russische Revolution 1917 zugeschrieben. Die Antisemiten identifizierten die linken Parteien („Novemberverbrecher“) mit einer „jüdischen Verschwörung“ gegen die Mittelmächte. Die erste deutsche Demokratie wurde pauschal als „Judenrepublik“ abgetan, obwohl von ihren etwa 200 Reichsministern ganze fünf jüdisch waren.

 

In nationalextremen Kreisen bis zur DNVP wurde Antisemitismus gesellschaftsfähig. Das vielfach gebilligte Attentat auf Walther Rathenau 1922 erhielt Unterstützung mehrerer Terrororganisationen aus dem Untergrund, wie der Organisation Consul und dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund. Das Verbot dieses Schutz- und Trutzbundes führte zur Stärkung der Deutsch-völkischen Freiheitspartei, die mit der NSDAP zusammen bei der Reichstagswahl Mai 1924 6,6 Prozent der Stimmen errang.

 

Dennoch brachte die Weimarer Republik eine Reihe von Verbesserungen für die Juden. Alle Karrieren und Schulen standen nun im Prinzip offen, die mittelständische Sozialstruktur blieb gleich. Die Gemeinden wurden Körperschaften öffentlichen Rechtes. Berlin wurde zum Zentrum, wo ein Drittel der Juden wohnte. Insgesamt sank ihre Zahl trotz Zuwanderung von Ostjuden ins Reich aber von gut 615.000 (1910) über ca. 560.000 (1925) auf ca. 500.000 (1933). Das lag zum einen an den Gebietsabtretungen, zum anderen an einem Geburtenrückgang, verursacht durch zunehmende Überalterung und Verstädterung jüdischer Familien wie auch an den Übertritten zum Christentum. In gemischtkonfessionellen Ehen wurden die Kinder oft nicht als Juden erzogen. Es gab bekannte Privatbankiers wie die Familie Warburg. Auch in Wissenschaft, Kunst und Literatur leisteten Juden häufig Bedeutendes, was sich nach ihrem Verlust ab 1933 schmerzvoll bemerkbar machte. Die politische Orientierung richtete sich auf die DDP und zum Teil auf die SPD, die beide auch jüdische Abgeordnete aufstellten. Hugo Preuß (DDP) entwarf die Weimarer Reichsverfassung 1919. Bekannte jüdische Intellektuelle, die über das Judentum nachdachten, waren Martin Buber, Franz Rosenzweig, Leo Baeck und Gershom Scholem.

 

 

Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945)

 

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten – eingeleitet durch die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 – begann die systematische Judenverfolgung im Deutschen Reich. Die Juden – wer im Deutschen Reich ab 1935 als „Jude “ galt, definierte die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz – waren Antisemitismus und Antijudaismus in immer bedrohlicherer Form ausgesetzt. Ziel war die Vertreibung und Vernichtung der deutschen Juden, gestützt auf das Gewaltmonopol des Staates. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden etwa 2000 antijüdische Gesetze und Verordnungen erlassen. Begründet wurden zunehmende Diskriminierung und systematisch praktizierter Terror gegen die jüdische Bevölkerung vor allem mit Verschwörungstheorien über das Weltjudentum wie zum Beispiel in den gefälschten Protokollen der Weisen von Zion. Durch die Rassenlehre wurde die These von der Überlegenheit der arischen Rasse verbreitet.

 

Ausgrenzung – Schon im April 1933 führte das NS-Regime den Judenboykott durch, und durch das Berufsbeamtengesetz verloren viele Juden ihre Stelle, doch bis Ende 1935, als durch das Reichsbürgergesetz sämtliche deutschen Juden ihrer Bürgerrechte beraubt wurden, bot das Frontkämpferprivileg in einigen Fällen noch einen gewissen Schutz. Die Nürnberger Gesetze mit dem Blutschutzgesetz grenzten Juden weiter aus. Die Entwaffnung der deutschen Juden verhinderte, dass Juden sich als Jäger und Sportschützen betätigten.

 

Plünderung und Misshandlung – Im November 1938 wurden in der Reichspogromnacht Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört und die Juden durch einschlägige Verordnungen aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet. Zahlreiche Juden sahen sich deshalb gezwungen, aus Deutschland zu fliehen.

 

Deportation und Vernichtung – Infolge der aggressiven Außenpolitik der Nationalsozialisten begann 1939 mit dem Überfall auf Polen auch der Zweite Weltkrieg, der in Polen sofort zu zahlreichen antijüdischen Massakern führte. Bald wurden nahezu alle Juden zur „Endlösung der Judenfrage“ erst in osteuropäische Ghettos und später in Konzentrationslager deportiert und systematisch und auf industrielle Weise umgebracht. Viele mussten zuvor Zwangsarbeit verrichten. Im Holocaust wurden nicht nur Juden im (Groß-)Deutschen Reich, sondern auch in allen von Deutschland besetzten Ländern und dorthin geflohene deutsche Juden umgebracht.

 

Erst durch den Sieg der Alliierten und die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 konnte der Holocaust gestoppt und die Überlebenden in den Arbeits- und Vernichtungslagern befreit werden. Raul Hilberg beschrieb 1955 als der erste Geschichtswissenschaftler der Zeitgeschichte anhand der Akten, wie der gesamte Vernichtungsprozess in dieser Zeit ablief.

 

 

Juden in Deutschland ab 1945

 

 

Überblick

 

Wegmarken jüdischen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland waren:

 

  • die seit 1950 jährlich stattfindende „Woche der Brüderlichkeit“ Anfang März, die seitdem gegründeten Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der jüdisch-christliche Dialog seit den Kirchentagen der 1960er Jahre,
  • die Auschwitzprozesse 1963–1966,
  • die Bundestagsdebatten um die Verjährung der NS-Verbrechen, insbesondere die so genannte Verjährungsdebatte von 1965. Die Beteiligung am NS-Völkermord wäre nach geltendem deutschen Recht in dem Jahr verjährt gewesen. Die Frist wurde um zunächst fünf Jahre verlängert, dann ganz aufgehoben.
  • die von der Studentenbewegung ab 1965 angestoßene Erforschung der historischen Bedingungen für den Nationalsozialismus und Holocaust,
  • die vermehrte Einrichtung von deutsch-israelischen Städtepartnerschaften und Freundschaftsgesellschaften seit 1970, die nach Israel emigrierten ehemaligen deutschen Juden einen Besuch Deutschlands ermöglichten,
  • Verträge von Bund, Ländern und Kommunen zum polizeilichen Schutz und finanzieller Absicherung der jüdischen Gemeinden: zuerst in West-Berlin unter Klaus Schütz 1971, nachdem der Aussteiger Hans-Joachim Klein einen Mordplan der Rote Armee Fraktion gegen Heinz Galinski bekannt gemacht hatte,
  • die Einrichtung der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg 1978 neben judaistischen Seminaren im Verbund von christlichen und jüdischen Historikern und Theologen an mehreren Universitäten,
  • die Bildung neuer Interessen in den „Geschichtswerkstätten“ seit der Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß“ 1979, die nicht mehr nur nach allgemeinen sozialen und ökonomischen Strukturen für das Entstehen der NS-Diktatur fragten, sondern die Judenverfolgung in Einzelorten und -regionen im Detail aufhellten,
  • die Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985, der von der Befreiung vom Nationalsozialismus und nicht von der Niederlage Deutschlands sprach und die jüdische Weisheit des Baal Schem Tow (1700–1760), eines Lehrers des Chassidismus, zitierte: (Das Vergessen führt in die Verbannung –) das Geheimnis der Erlösung liegt in der Erinnerung!
  • der Besuch Richard von Weizsäckers als des ersten amtierenden Bundespräsidenten in Israel im Oktober 1985,
  • die Einrichtung nationaler Gedenktage für die Opfer des Holocaust, vor allem das seit 1988 bundesweit verstärkte Gedenken an die Novemberpogrome 1938.

 

Für die DDR sind folgende Ereignisse und Charakteristika wichtig:

 

  • Es blieben nur wenige Juden in der DDR, die Gemeinden starben allmählich aus. Sie konnten aber ohne offenen Antisemitismus in Sicherheit leben.
  • Die DDR lehnte jede Entschädigung für die Verbrechen an Juden ab, da sie sich anders als die Bundesrepublik nicht als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches sah.
  • Wie alle Ostblockstaaten bezog die DDR Stellung gegen den „zionistischen Imperialismus“ des Staates Israel.
  • In den 1980er Jahren kümmerte die SED sich stärker um das jüdische Erbe und lud auch jüdische Organisationen ein. Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, wurde mit dem höchsten Zivilorden der DDR ausgezeichnet. 1988 wurde in Berlin eine Stiftung Centrum Judaicum gegründet und die Neue Synagoge, die bei britischen Luftangriffen 1943 schwer beschädigt worden war, nach jahrzehntelanger Verwahrlosung restauriert.

 

Die Auswanderung der Displaced Persons

 

Noch während des Zweiten Weltkriegs haben die Siegermächte beschlossen, alle Juden, die den Holocaust überleben würden oder nach Deutschland verschleppt worden waren oder vor osteuropäischen Pogromen nach Kriegsende dorthin flohen, wie alle anderen Displaced Persons („entwurzelte Personen“) nach einer Übergangszeit in ihre Herkunftsländer zurückzubringen. Überlebende deutsche Juden sollten von anderen Ländern aufgenommen werden, da man nach der Shoah nicht mit einer Erneuerung des deutschen Judentums rechnete.

 

Nur eine kleine Zahl der etwa 400.000 Juden, die das Deutsche Reich in der NS-Zeit rechtzeitig verlassen hatten, kehrte nach Deutschland zurück. Es gab ungefähr 15.000 deutsche Juden, die im Konzentrationslager, im Untergrund oder als Ehepartner von Nichtjuden überlebt hatten. Eine große Zahl von Juden, mehr als 200.000, kamen aus Osteuropa nach Deutschland. Sie waren aus Konzentrationslagern oder als Zwangsarbeiter befreit worden oder flohen vor neuen Pogromen nach Deutschland. Die zionistische Fluchtorganisation Brichah förderte den Massenexodus aus Polen, vorwiegend in die amerikanische Besatzungszone. Zum einen war der Antisemitismus der Nachkriegszeit in Polen und anderen Ländern Osteuropas unerträglich, zum anderen gab es keine Möglichkeit, aus diesen Ländern auszuwandern. Als Displaced Persons waren sie nun zwar „befreit, aber nicht frei“. Die amerikanische Armee und die UNRAA richteten vor allem in Bayern große Lager ein, in denen diese Menschen hinter Stacheldraht und mit uniformierter Bewachung lebten. Der überwiegende Teil strömte in die amerikanische Besatzungszone, in der britischen waren in der Höchstphase gerade 15.000 jüdische DPs untergebracht, in der französischen sogar nur etwa 1000. Die Auswanderung in das von Großbritannien verwaltete Mandatsgebiet Palästina war nur auf illegalem Weg möglich, und die USA blieben ihnen durch eine restriktive Immigrationspolitik zunächst ebenfalls verschlossen. In den ersten Nachkriegsjahren entstand daher eine Vielzahl sozialer und politischer jüdischer Organisationen in Deutschland. Es waren aber kaum noch deutsche Juden unter denen, die nun in Lagern und in wiederbegründeten Gemeinden lebten.

 

Mit der Gründung des Staates Israel verließen die meisten von ihnen Deutschland. Im September 1948 war ihre Zahl bereits auf 30.000 geschrumpft, es blieben lediglich 10.000 bis 15.000. Ein Teil von ihnen war zu schwach oder zu krank, um weiterzuwandern, ein Teil hatte in der langen Wartezeit eine berufliche Existenz gründen können oder einen deutschen Ehepartner geheiratet. 1950 wurde das Büro der Jewish Agency, die in Deutschland für die Auswanderung von Juden nach Israel zuständig war, geschlossen. 1953 schloss auch das israelische Konsulat in München, das ebenfalls vor allem für die Auswanderung errichtet worden war. Konsul Chaim Yachil ging davon aus, dass die in Deutschland verbliebenen jüdischen Gemeinden sich innerhalb weniger Jahre selbst auflösen würden; ihre Liquidation sei angesichts ihrer kleinen Mitgliederzahl und ihrer Überalterung nicht aufzuhalten. Die meisten Juden, die in Deutschland blieben, galten als „heimatlose Ausländer“ und blieben staatenlos. Israel betrachtete Deutschland damals als Tabuzone, mit der es keinerlei Dialog geben durfte. Wer im Besitz eines israelischen Passes war, durfte damit nicht nach Deutschland einreisen. Im Pass stand der Vermerk „not valid for travel to or in Germany“ und die deutschen Behörden waren angewiesen, keine Genehmigungen zur Einreise zu erteilen.

 

 

Rückkehr aus dem Exil

 

Bereits kurz nach Kriegsende kehrten deutsche Juden aus dem Exil zurück, vorwiegend aus politischen Gründen. Der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) kam 1949 zurück (nach Leipzig, wo er den ihm angebotenen Lehrstuhl für Philosophie übernahm), der Komponist Hanns Eisler (1898–1962) kehrte 1948 nach Wien zurück und übersiedelte im Juni 1949 von Zürich nach Ostberlin, der Karikaturist John Heartfield (1891–1968) kehrte 1950 zurück (nach Leipzig), die Literaturhistoriker Hans Mayer (1945) und Alfred Kantorowicz (1946), die Schriftstellerin Anna Seghers (1947), Stefan Heym (1945) und Arnold Zweig (1948) sowie die beiden späteren Mitglieder des Zentralkomitees der SED Gerhart Eisler und Albert Norden gingen in die Sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR. Die meisten der Genannten traten allerdings keiner jüdischen Gemeinde bei, weil der religiöse und der nationale Aspekt des Judentums mit der Parteilinie der SED schwer vereinbar waren. Viele der Rückkehrer verstanden sich als antifaschistische Kommunisten und spielten eine wichtige Rolle beim Aufbau der DDR.

 

Auch in den westlichen Teil Deutschlands kamen prominente Juden zurück, so die Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel (1951) und Richard Löwenthal (1948), die beide Professoren an der Freien Universität Berlin wurden. Die Stadt Frankfurt bewirkte die Rückkehr von Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor Adorno (1903–1969) und ermöglichte die Wiedereröffnung des Instituts für Sozialforschung im Jahre 1950. Weitere prominente Namen sind der Soziologe René König (1906–1992) und der Historiker Hans-Joachim Schoeps (1909–1980). Manche kamen als alliierte Soldaten in Uniform, zum Beispiel Arno Hamburger (1923–2013). In den Westen kam eine größere Zahl von Rückkehrern als in den Osten.

 

 

Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland

 

Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Mit Art. 116

 

Abs. 2 versuchte der Verfassungsgesetzgeber das nationalsozialistische Unrecht rückgängig zu machen, das in der Ausbürgerung von Juden, meist gegen ihren Willen, besteht. Der Absatz lautet:

 

„Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben.“

 

Angehörige der „Erlebnisgeneration“ machten ab 1949 überwiegend keinen Gebrauch von diesem Angebot. Viele ihrer Kinder und/oder Enkel nutzten die Option, die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten und hier ihren Wohnsitz zu nehmen, wenn sie dies (z.B. im Falle eines neuen Nahostkriegs) wollen. Im Jahr 2005 lebten in Israel 60.000 Juden mit deutschem Pass. 2002 bis 2004 stieg die Zahl der Anträge israelischer Staatsbürger auf Wiedereinsetzung in die deutsche Staatsangehörigkeit.

 

 

Die jüdischen Gemeinden in Westdeutschland

 

Die ersten jüdischen Institutionen, die in Westdeutschland nach dem Krieg entstanden, waren nicht Synagogen und Gemeindezentren, sondern soziale Einrichtungen: Krankenstationen, Pflegeheime, Altersheime, Küchen für die Versorgung bedürftiger Juden. Die jüdischen Nachkriegsgemeinden sahen sich als Provisorien auf Zeit und wollten bis zu ihrer Auflösung karitativ tätig sein. Sie verstanden sich nicht als Erben der früheren deutsch-jüdischen Gemeinden, die von 1933 bis 1941 vernichtet worden waren. Deren Mitglieder waren ausgewandert oder ermordet worden.

 

Das erbenlose jüdische Privatvermögen sowie das Vermögen der aufgelösten jüdischen Organisationen und Institutionen wurde an neugegründete Treuhandorganisationen wie die JRSO restituiert, die sich in scharfer Konkurrenz zu den neugegründeten deutschen jüdischen Gemeinden befanden. Als 1949 die Bundesrepublik gegründet wurde, sahen die inzwischen schon konsolidierten jüdischen Gemeinden die Notwendigkeit, sich eine überregionale Organisation zu schaffen, um ihre Interessen selbst zu vertreten. Delegierte von Gemeinden und Landesverbänden gründeten 1950 den Zentralrat der Juden in Deutschland als Dachorganisation. Zu dieser Zeit hatten die jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik eine Gesamtzahl von 15.000 Mitgliedern. Die jüdischen Gemeinden in Westdeutschland wurden erst seit dem Besuch Nahum Goldmanns vom Jüdischen Weltkongress (WJC) 1953 von jüdischen Weltorganisationen anerkannt. So durften sie ihre Synagogen und Gemeindehäuser nach dem Luxemburger Abkommen zur Wiedergutmachung behalten und mussten sie nicht zum Verkauf freigeben. Trotzdem wurden die in Deutschland lebenden Juden von jüdischen Institutionen und Gemeinschaften in Israel und Amerika als Juden zweiter Klasse behandelt. Man verstand nicht, warum sie in Deutschland blieben, und nahm sie nicht als Teil der jüdischen Diaspora wahr.

 

 

Juden in der DDR

 

In der DDR kam es in der Folge des stalinistischen Slansky-Prozesses in Prag 1952/53 zu einer Verfolgung von „Kosmopoliten“, die der Spionage oder des Zionismus bezichtigt wurden. Betroffen waren vor allem diejenigen, die während der NS-Zeit in westlichen Ländern im Exil gelebt hatten. Sie wurden nun teilweise einer Zusammenarbeit mit dem Westen verdächtigt und als Werkzeuge des Imperialismus bezeichnet. Das ZK-Mitglied Paul Merker wurde als zionistischer Agent verhaftet, die Büros der jüdischen Gemeinden durchsucht. Im Januar 1953 flüchtete Julius Meyer, Mitglied der SED, Abgeordneter der Volkskammer und Präsident des Verbands der jüdischen Gemeinden in der DDR, zusammen mit fünf der acht Gemeindevorsitzenden nach Westdeutschland. Julius Meyer hatte die Lager Auschwitz und Ravensbrück überlebt und leitete seit 1949 gemeinsam mit Heinz Galinski die Jüdische Gemeinde Berlins. Bis zum Mauerbau 1961 schrumpfte die Zahl der in den Gemeinden registrierten Juden auf etwa 1500. In der DDR wurden verfolgte Juden zwar als „Verfolgte des Naziregimes“ anerkannt und erhielten eine kleine Staatspension sowie andere Vergünstigungen, standen aber in der öffentlichen Wertschätzung hinter den aktiven Widerstandskämpfern und Antifaschisten besonders aus der KPD zurück. In der Bundesrepublik konnten sie wegen des Wiedergutmachungsgesetzes auf eine Entschädigung hoffen. Die DDR weigerte sich, Wiedergutmachung zu leisten, weil sie eine Mitverantwortung der DDR an den Verbrechen des NS-Staates ablehnte. Erst nach dem Mauerfall wurde im April 1990 von der demokratisch gewählten Volkskammer ein offenes Bekenntnis zur Mitverantwortung abgelegt. 

 

 

Juden in der Bundesrepublik Deutschland heute

 

Obwohl in mehreren westdeutschen Städten nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland nicht so viele „Displaced Persons“ weggezogen waren, dass die Juden mit erhalten gebliebener deutscher Staatsangehörigkeit dort die Mehrheit bildeten, und obwohl es immer eine kleine Zuwanderung von Juden vor allem aus dem Ostblock (Polen, Ungarn, Rumänien) gab, überschritt die Zahl der in Westdeutschland lebenden Juden bis 1989 30.000 nicht. Darunter waren schon zwei Generationen, die bereits in Deutschland geboren wurden. 1990, nach dem Ende des Kalten Krieges, begann die Zuwanderung von Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion („GUS“). Bis Ende 1998 kamen etwa 45.000 Juden in die Bundesrepublik und mit ihnen zudem etwa 40.000 Familienmitglieder aus interkonfessionellen Ehen. Es war nur ein kleiner Teil der Auswanderer aus der Sowjetunion. 800.000 Juden gingen in diesem Zeitraum nach Israel, weitere 400.000 in die USA

 

Im Zentralrat der Juden in Deutschland sind heute 108 jüdische Gemeinden in 23 Landesverbänden zusammengeschlossen, denen etwa 104.000 Juden angehören. Sie stellen 95 Prozent aller organisierten deutschen Juden. Die übrigen fünf Prozent verteilen sich auf etwa 40 jüdische Kulturvereine (zum Beispiel Jüdischer Kulturverein Berlin) und liberale Gemeinden, von denen fast 20 (Stand 2012) in der Union progressiver Juden in Deutschland organisiert sind. Den Zentralrat lehnen sie entgegen dessen Selbstverständnis als orthodox gelenkt ab.

 

Die Zahl der insgesamt in Deutschland lebenden Juden wird auf 250.000 geschätzt, so dass sowohl die in Gemeinden organisierten als auch die vom Zentralrat vertretenen Juden die Minderheit der Juden in Deutschland darstellen.

 

Der Zentralrat mischt sich nicht in das Eigenleben der Gemeinden ein. Die größten Stadtgemeinden – Berlin mit etwa 11.000, München mit 8.600 und Düsseldorf mit 7.100 Mitgliedern – sind Einheitsgemeinden: diese Einheitsgemeinden stellen Verwaltungsorganisationen dar, unter deren Dach unterschiedliche religiöse Ausrichtungen existieren. Etwa 40.000 weitere Juden gehören keiner Gemeinde an. Die Gemeinden errichten neue Zentren, bilden Jugendgruppen und Kulturorganisationen; es gibt (oft scharfe) Konflikte zwischen den Zuwanderern und den „alteingesessenen“ Gemeindemitgliedern. Ein religiöser Pluralismus (liberale Gemeinden, weibliche Rabbiner) ist am Entstehen.

 

Im September 2006 wurden drei Absolventen des Abraham-Geiger-Kollegs Potsdam in Dresden zu Rabbinern ordiniert. Sie sind die ersten Rabbiner, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik Deutschland ausgebildet wurden.

 

 

Jüdische Zuwanderer aus der Sowjetunion

 

Die Zuwanderung jüdischer Emigranten aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion stieg nach der deutschen Wiedervereinigung stark an. Seit dem Jahr 2000 sind die Zahlen der jüdischen Zuwanderer wieder rückläufig. Im Zeitraum von 1991 bis 2004 wanderten rund 220.000 Juden aus der GUS nach Deutschland ein. Von den 190.000 Juden, die in den 1990er Jahren aus der GUS eingewandert sind, schlossen sich etwa 83.000 einer jüdischen Gemeinde in Deutschland an. Im Jahr 2004 waren 85% aller Zuwanderer aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und geringer deutscher Sprachkenntnisse dauerhafte Bezieher von Sozialhilfe.

 

Bis zur Perestroika (sie begann 1985 nach dem Amtsantritt von Gorbatschow) wurde nur einigen wenigen Juden die Ausreise aus der Sowjetunion gestattet. Um eine Genehmigung zur Ausreise als Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland zu erhalten, mussten die Antragsteller einen Bezug zur deutschen Kultur nachweisen. Sie erreichten Deutschland meist über das Durchgangslager Friedland.

 

Unter der letzten Volkskammer der DDR wurde ab April 1990 ein vereinfachtes Verfahren zur Einreise jüdischer Bürger der Sowjetunion angewandt. Damit wollte die Nachwende-Regierung der DDR dem Unrecht Rechnung tragen, dass sich das SED-Regime gegenüber dem Judentum jeglicher Verantwortung zur Wiedergutmachung entzogen hatte. An diese Praxis der letzten DDR-Regierung lehnt sich der Beschluss der Innenministerkonferenz vom 9. Januar 1991 an, nach dem das Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge (HumHAG) auch auf jüdische Emigranten aus den ehemaligen GUS-Staaten angewandt wird. In den folgenden Jahren wurden diese jüdischen Kontingentflüchtlinge auf Bundesländer und Landkreise in Deutschland verteilt. Von 1990 bis 2011 stieg, vorwiegend durch diese Zuwanderung, die Zahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden von etwa 29.000 auf 102.000 an. So wuchs der Bedarf an jüdischer Infrastruktur (Synagogen, Freizeiteinrichtungen usw.) in vielen Landkreisen.

 

Die Zahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden schwankt jedoch oft durch den Wegzug von Familien, die dies den jüdischen Gemeinden nicht bekannt geben (wollen). Ebenso gibt es Fälle, dass Juden, sobald sie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben, aus der jüdischen Gemeinschaft austreten. Viele haben auch zur jüdischen Religion keine Beziehung. Sie sind zwar durch die matriarchalische Linie als Juden anerkannt, lernten aber in der Sowjetunion wegen des staatlich verordneten Atheismus kein öffentlich praktiziertes religiöses Leben kennen.

 

 

Statistiken

 

219.604 Juden und Angehörige von Juden wanderten zwischen 1991 und 2004 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ein. Die Zahl der Gemeindemitglieder jüdischer Gemeinden in Deutschland wuchs von 1990 bis 2011 von 29.089 auf 102.797, ein Zuwachs von 253%.

 

Jahr

Mitglieder jüdischer Gemeinden in Deutschland

Jüdische Zuwanderung aus der Ex-Sowjetunion

1990

29.089

k.A.

1991

33.692

12.583

1992

36.804

15.879

1993

40.917

16.597

1994

45.559

8.811

1995

53.797

15.184

1996

61.203

15.959

1997

67.471

19.437

1998

74.289

17.788

1999

81.739

18.205

2000

87.756

16.538

2001

93.326

16.711

2002

98.335

19.262

2003

102.472

15.442

2004

105.733

11.208

2005

107.677

k.A.

2006

107.794

k.A.

2007

107.330

k.A.

2008

106.435

k.A.

2009

104.241

k.A.

2010

104.024

k.A.

2011

102.797

k.A.

Gesamt

+ 253%

219.604

 

 

 zurück zum Inhaltsverzeichnis