Die Zehn Gebote, auch Dekalog (altgr. ,Zehnwort’ von deka ,zehn’ und logos ,Wort’), gelten als die wichtigste Zusammenfassung des Willens JHWHs, des
Gottes der Israeliten, im Tanach, der Hebräischen Bibel. Mit ihnen beginnt dort Gottes Offenbarung am Sinai. Daher gelten sie im Judentum und Christentum als Zentrum und Inbegriff der Thora
(Weisung) für das Verhalten gegenüber Gott und den Mitmenschen.
Die Zehn Gebote sind im Tanach in zwei geringfügig verschiedenen
Fassungen überliefert.
2 Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.
3 Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
4 Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.
5 Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation;
6 bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.
7 Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.
8 Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!
9 Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun.
10 Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat.
11 Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.
12 Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.
13 Du sollst nicht morden.
14 Du sollst nicht die Ehe brechen.
15 Du sollst nicht stehlen.
16 Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
17 Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der
Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“
Dieses Zitat von Ex 20,2 EU folgt der Einheitsübersetzung. Die
Lutherbibel übersetzt einige Stellen anders, etwa Ex 20,13 LUT: „Du sollst nicht töten.“
Die Fassung in Dtn 5,6–21 EU unterscheidet sich vor allem im
Sabbatgebot:
„12 Achte auf den Sabbat: Halte ihn heilig, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat.
13 Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun.
14 Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du.
15 Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum hat es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten.“
Der Ruhetag wird hier also nicht mit Gottes Ruhe nach der Schöpfung,
sondern mit der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten begründet. Auch die Sklaven und alle Haustiere sollen am Sabbat ausruhen dürfen wie ihre Besitzer, weil die Israeliten selber Sklaven gewesen
seien. So wird das Ruhen auf Kosten anderer, die die Arbeit verrichten müssen, verboten.
Im letzten Gebot, nichts vom Besitz des Nächsten zu begehren, ist die
Reihenfolge umgestellt: Die Frau wird zuerst und für sich genannt, dem folgen Haus, zusätzlich Acker, dann Knecht, Magd, Rind und Esel.
Die Zehn Gebote sind in einem jahrhundertelangen Prozess entstanden
und zusammengewachsen. Sie waren anfangs nur eine von mehreren formal wie inhaltlich verwandten Gebotsreihen, die JHWHs Willen zusammenfassten: Ex 34,17–26 EU, Lev 19,1f.11–18 EU, Dtn 27,15–26 EU
– ein sogenannter Dodekalog (Zwölfwort), eventuell bezogen auf die Zwölf Stämme Israels – und Ez 18,5–9 EU. Auch die beiden Dekalogvarianten enthalten je zwölf Einzelforderungen, die aber schon
innerhalb der Thora als „Zehnwort“ (Ex 34,28 LUT) bezeichnet und entsprechend eingeteilt wurden. Die älteste bekannte Bibelhandschrift zum Dekalog, der Papyrus Nash (um 100 v. Chr.),
bezeugt einen Mischtext aus Ex 20 und Dtn 5. Demnach war der Dekalog damals noch nicht endgültig formuliert, sondern wurde bis zum Abschluss des jüdischen Bibelkanons (um 100 n. Chr.)
weiterentwickelt.
Die ersten drei Gebote sind als direkte Gottesrede formuliert und
ausführlich begründet (Ex 20,2–6). Die folgenden knappen und unkonditionalen Einzelweisungen (Ex 20,7–17) reden von Gott in der dritten Person. Beide Teile entstanden daher wohl unabhängig
voneinander, wurden nachträglich miteinander verknüpft und zuletzt gemeinsam unter Gottes einleitende Selbstvorstellung gestellt. Erst dadurch erhielten die „Prohibitive“ (unbedingt
ausschließende Verbote), deren persönliche Anredeform im altorientalischen Recht verbreitet war, den Charakter eines gesamtisraelitischen Bundesrechts.
Ähnliche Selbstvorstellungen JHWHs (Hos 13,4 EU; Ps 81,11 EU) und
Kritikreihen am Maßstab der Sozialgebote (Hos 4,2 EU; Jer 7,9 EU) findet man in der Prophetie im Tanach. Darum wird eine Vorform des Dekalogs, die das erste Gebot mitsamt dem Ausschluss anderer
Götter und einige weitere Gebote enthielt, spätestens in das 8. Jahrhundert v. Chr. datiert. Die einzelnen Sozialgebote stammen aus nomadischer Zeit (1.500–1.000 v. Chr.) und reflektieren deren
Verhältnisse: etwa das Verbot, Vieh, Sklaven und Frau des Nächsten zu begehren. Sie wurden aus vielen ähnlichen Weisungen an Sippenangehörige gezielt ausgewählt, um Gottes Willen so
allgemeingültig wie möglich zusammenzufassen.
Da Ex 20 den Erzählfaden des Pentateuch unterbricht, während Dtn 5 die
vorangehende und folgende Moserede verbindet, waren die Zehn Gebote als selbständige Einheit in verschiedenen Zusammenhängen zitierbar. Nach Lothar Perlitt wurde diese Einheit von den Autoren des
deuteronomistischen Geschichtswerks im 7. Jahrhundert v. Chr. geschaffen. Doch die Exodusversion des Sabbatgebots spielt auf Gen 2,2f EU an, das zum priesterschriftlichen Schöpfungsbericht
gehört: Demnach wurden die ersten drei Gebote wahrscheinlich erst ab dem Babylonischen Exil (586–539 v. Chr.) vor eine schon bestehende Verbotsreihe gestellt. Erst die Abschlussredaktion der fünf
Bücher Mose stellte die bestehende Reihe beide Male den folgenden Gesetzeskorpora voran.
Dies gab den Zehn Geboten ihre überragende Bedeutung als lebensnotwendige Grundregeln für alle Lebensbereiche in der weiteren Geschichte von Juden- und Christentum. Sie gelten gläubigen Juden und Christen als Kern und Konzentrat der Offenbarung Gottes an Mose, den zum Führer Israels berufenen Empfänger und Vermittler seines Willens für das erwählte Gottesvolk.
Die Reihung wird in Ex 20,2 mit der im Tanach häufigen
Theophanieformel „Ich bin JHWH“ eröffnet, die hier um die Zusage „dein Gott“ erweitert und auf die Exodustradition bezogen ist. Gott erscheint seinem Volk demnach nicht als Unbekannter, sondern
erinnert es mit seinem Namen an seine frühere Befreiungstat, die seinen Willen bereits ausdrückte.
Gottes „Ich“ (hier in der betonten hebräischen Form Anochi)
erscheint als einzigartiger, alle anderen Ansprüche ausschließender Rechtsanspruch auf ein kollektives „Du“. Die Anrede gilt dem ganzen im Exodus aus Ägypten erwählten Gottesvolk Israel und jedem
einzelnen Angehörigen dieses Volkes. Gottes Selbstoffenbarung in der Geschichte der Hebräer begründet hier sein Recht auf alle ihre Nachfahren. Darum schärft die Haggada zum Pessach dem gläubigen
Juden ein: „In jeder Generation betrachte sich der Mensch, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen.“
Diese Exklusivität Gottes, die das angeredete Volk zu seinem Gegenüber macht und an seine Befreiungsgeschichte erinnert, ist eine Besonderheit des Judentums unter den altorientalischen Religionen: „Nur für den, dem Gott sich so offenbart hat, gilt auch das folgende Gesetz.“ Damit ist das Volk Israel und sein Gottesverhältnis zugleich von allen anderen Völkern unterschieden, so dass der Fortsatz „Du sollst keine Götter neben mir“ [wörtlich: vor meinem Angesicht] „haben“ als logische Folgerung erscheint.
Der im Exodushandeln JHWHs für Israel implizierte Ausschluss fremder
Götter ist im Alten Orient einmalig. Zwar gab es zuvor mit dem Aton-Kult auch in Ägypten Tendenzen zu einem vorübergehenden Monotheismus durch Ersetzung früherer Götter. In Babylonien tendierte
der Polytheismus später zur Monolatrie durch Integration und Gleichsetzung verschiedener Götter.
Doch das biblische Fremdgötterverbot wird sogleich im Bilderverbot
konkretisiert: Dieses ist hier – anders als in Ex 23,23 EU – nicht nur auf fremde Gottesbilder und Kultgegenstände bezogen, sondern auch auf Abbildungen des eigenen Gottes. Damit wird die
Verehrung JHWHs endgültig von allen anderen Kulten unterschieden. Denn dort wurden auch höchste und einzige Götter immer in Bildern dargestellt und verehrt, die ihre Kräfte
vergegenwärtigten.
Gottesbilder wurden auch in Israels
Nachbarschaft nicht mit dem abgebildeten Gott identifiziert und oft verhüllt, um die Transzendenz zu wahren. Doch das Bilderverbot stellt den unsichtbaren Gott gegen die im Bild greifbaren
Götter, weil er für Israel der Schöpfer aller Dinge ist und sich vorbehält, wem und wie er sich offenbart. Diese Unabhängigkeit korrespondiert der Selbstbindung JHWHs an die Befreiung dieses
Volkes: Die Erinnerung an den Exodus sperrt sich dagegen, ihn nach Art fremder Götter zu verehren, die in der Regel Herrschaftsverhältnisse absegneten. Israels Gott will nicht im Kult
repräsentiert, sondern im Sozialverhalten in allen Lebensbereichen verehrt werden.
Ex 20,4b erläutert den Verbotsbereich: Er erstreckt sich auf Himmel, Erde und Unterwelt, also alle „Stockwerke“ des damaligen Weltbilds. Die deuteronomische Auslegung in Dtn 4,12–20 EU bekräftigt das Verbot, Gott weder als Mann noch Frau noch Tier noch Gestirn darzustellen, wie es in den kanaanäischen Fruchtbarkeitskulten und babylonischen Astralkulten üblich war. Gläubige Juden können daher nichts in der Welt der geschaffenen Dinge als göttlich betrachten. Sie wurden darum im Hellenismus später als „Atheisten“ bezeichnet.
Da Gott sich für Juden von Beginn an durch sein – ebenfalls exklusiv
gedachtes – Wort offenbarte (Gen 1,3 EU), betrifft das Bilderverbot im Tanach nur optische und gegenständliche Abbilder, nicht Sprachbilder. Diese zeigen eine große Vielfalt an Metaphern,
Vergleichen und Anthropomorphismen.
Ältere Vorformen wie Ex 34,12ff EU gebieten mit dem Ausschluss anderer
Götter zugleich die Zerstörung ihrer Kultstätten in Israel. Dies reagierte eventuell auf Gleichsetzungen JHWHs mit dem kanaanäischen Baal im Bild des Stiers (1_Kön 12,26ff EU), die hinter der
Erzählung vom Goldenen Kalb in Ex 32 EU steht. Dieser Synkretismus wurde wohl seit dem Auftreten des Propheten Elija im Nordreich Israel als Übernahme von Wesenszügen Baals aufgefasst und
abgelehnt (1_Kön 18 EU). Auch Hosea kämpfte für das 1. Gebot gegen die „Hurerei“ des Baalskultes (Hos 8,4ff EU; 10,5f EU; 11,2 EU; 13,2 EU). Doch nach vergeblichen Anläufen Hiskijas (2_Kön 18,4
EU) ließ erst König Josia die noch bestehenden Baalkultorte um 620 v. Chr. zerstören (23 EU). So wurde die alleinige Verehrung JHWHs innenpolitisch durchgesetzt.
Um sein Gewicht zu unterstreichen, wird das Bilderverbot nochmals mit
einer ähnlichen Gottesrede wie der Präambel bekräftigt. Es bildet daher mit der exklusiven Selbstvorstellung JHWHs eine unauflösbare Einheit. Erst dadurch wird der indikativisch formulierte
Zuspruch – „Ich bin …“ zum ebenso verbindlichen Anspruch „Du sollst …“, wörtlich „Du wirst …“.
Ex 24,12 EU redet im unmittelbaren Anschluss an die mündliche Gebotsverkündigung und das Bundesmal der siebzig Ältesten Israels mit JHWH erstmals von steinernen Gesetzestafeln, die Gott Mose allein übergeben werde. Nach den ausführlichen Anweisungen zum Bau der Stiftshütte, einer Vorform des Jerusalemer Tempels (Ex 25–31,17), nimmt Ex 31,18 EU diesen Faden wieder auf und redet nun von „zwei“ Tafeln aus Stein, die Gott mit seinem „Finger“ beschrieben habe. Diese enthalten nach dem Kontext alle zuvor ergangenen Gebote, nicht nur den Dekalog.
Ex 32,15ff EU präzisiert die Angaben: Gott selbst habe die Tafeln
gemacht und auf beiden Seiten die Schrift eingraviert. Diese Tafeln habe Mose im Zorn über den Abfall Israels von JHWH zerbrochen (Vers 19). Dann habe er den Auftrag erhalten, neue Tafeln
anzufertigen, von denen es heißt (Ex 34,28 EU):
„Und er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die Zehn
Worte.“
An diese Stelle knüpft die Bezeichnung Zehnwort (Dekalog) an,
obwohl dessen Gebote ursprünglich nicht als Zehnerreihe eingeteilt wurden und die Tafeln alle Gebote Gottes enthielten. Doch die Einzelforderungen des Dekalogs wurden im Judentum schon vor
Abschluss der Thora mit der Zahl Zehn zur Deckung gebracht, da man sie so an zehn Fingern abzählen und rezitieren konnte. Zudem war die Zehn in magischer Zahlensymbolik bedeutsam. Hier wurzelt
auch die Tradition einer Zweiteilung des Dekalogs in eine auf das Verhalten zu Gott bezogene „Kulttafel“ (1. bis 3. Gebot) und eine auf das Verhalten untereinander bezogene „Sozialtafel“ (4. bis
10. Gebot). Diese war wohl schon vor der Zeitenwende in der rabbinischen Tradition üblich. Jedoch wurde der Dekalog auch nach seiner Einteilung nicht von den übrigen Thorageboten isoliert, die
Mose nach der Sinaiüberlieferung gemeinsam empfing (Ex 32,15).
In Dtn 4,13 EU, 5,22 EU, 9,9 EU und 10,4 EU sind nur die Zehn Gebote
als Inhalt der beiden Gesetzestafeln genannt. Sie werden hier – anders als in der Exodusversion des Dekalogs – ausdrücklich als Verkündigung des Bundes JHWHs mit Israel eingeführt. Hinzu kommt
der besondere Ausdruck des „Zurechthauens“ in Ex 34 und Dtn 12: Dieser Begriff taucht in der Bibel nirgends im Zusammenhang mit dem normalen Bearbeiten von Holz oder Stein auf, sondern scheint
sich auf Kultbilder zu beziehen. So könnten die nach biblischem Glauben von Gott selbst angefertigten und beschriebenen Gesetzestafeln als einziges sichtbares Zeichen der Verbundenheit Israels
mit seinem Gott an die Stelle der im Dekalog verbotenen Kultbilder getreten sein. An dieser Gegenwart Gottes konnten dann auch spätere Generationen des jüdischen Volkes, die nicht Zeugen der
Selbstoffenbarung JHWHs am Sinai waren, teilhaben:
„Die Tafeln konnten als so geprägtes und bestimmtes Symbol für die Offenbarung am Sinai nicht nur ins Zentrum aller möglichen bildlichen Darstellung des Sinaiereignisses gerückt werden, sondern sogar zum Inbegriff der Thora und so letztlich auch zum bedeutendsten Symbol für das Judentum.“
– Christoph Dohmen, 2004, S. 214
Gottes Recht wird in Form einer apodiktischen Reihe in wenige
Zentralgebote zusammengefasst, die Anspruch auf kollektive und zeitübergreifende Geltung erheben. Sie sind überwiegend als Verbote formuliert, die ein bestimmtes Verhalten ausschließen,
ohne das positiv intendierte Verhalten ebenso konkret festzulegen.
Das unterscheidet sie von einer Vielzahl aus der alltäglichen
Rechtsprechung stammender Einzelgebote zu bestimmten Fällen („wenn-dann“-Bestimmungen, Kasuistik). Zu vielen davon kennt man Vorbilder und Parallelen in der altorientalischen Umgebung Israels. So
tritt etwa im Ägyptischen Totenbuch um 2500 v.Chr. eine Art negative Tugendliste hervor: Dort bekennt der Mensch eine Reihe von Vergehen gegen kultische Vorschriften, deren Reihung denen des
Dekalogs ähnelt. Doch ist diese Reihe nicht ausdrücklich als göttliche Offenbarung bezeichnet, und den vorausgesetzten Vorschriften fehlt die apodiktische Form.
LaSor deutet die Sinaiperikope (Ex 20–24) als Gründungsurkunde des
Bundes zwischen JHWH und dem Volk Israel. Der Dekalog ähnele einem damals üblichen Vertrag zwischen einem Großkönig und seinem Vasallen. Auch Lothar Perlitt sieht Parallelen zu hethitischen
Staatsverträgen, die von den Israeliten nachgeahmt worden seien. Er schließt daraus ein hohes Alter des Textes.
Folgende Ähnlichkeiten findet LaSor:
a. der Grundforderung der Bundestreue b. detaillierte Bestimmungen. In säkularen Verträgen werden hier die Verpflichtungen des Vasallen seinem Großkönig gegenüber festgeschrieben.
a die Hinterlegung des Textes. Bundestexte werden im Tempel aufbewahrt. Die Tafeln mit dem Bundestext waren in der Bundeslade zu deponieren. b. die wiederholte, in regelmäßigen Abständen vorzunehmende öffentliche Verlesung des Bundestextes. Diese könnte im vorstaatlichen Israel bei Stämmeversammlungen in Sichem (Jos 24 EU), später beim Jerusalemer Tempel (1 Kön 8 EU) vollzogen worden sein.
Hieraus folgert LaSor, dass der Dekalog nie als Moralkodex konzipiert
war, sondern als Verordnung, die das Bundesverhältnis regelt und als Grundvoraussetzung der gnädigen Zuwendung Gottes zum Volk Israel gesetzt wurde. Halte sich das Volk nicht an diese Gebote,
breche es folglich den Bund und höre in gewissem Sinne auf, Gottes Volk zu ein. Aus diesem Zusammenhang lasse sich auch die weitere Geschichte Israels verstehen. Das Volk entferne sich immer
wieder von JHWH; dieser leite dann eine Art Gerichtsverfahren ein, indem er zuerst die Propheten sende, die das Volk letztmals zur Umkehr rufen und ihm das drohende Gericht ankündigen. Erst
danach lasse er seinen Fluch über das Volk kommen.
Im Neuen Testament werden die Zehn Gebote als allgemein bekannte und
gültige Willenserklärung Gottes für alle Juden vorausgesetzt. Sie werden daher nirgends als Ganze wiederholt, sondern zu jeweils passenden Anlässen einzeln zitiert und gedeutet.
Jesus von Nazareth knüpfte an die im rabbinischen Judentum bereits
übliche Konzentration der ganzen Thora auf das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe an (Mk 12,28–34 EU). Weil die Nächstenliebe dem ersten Gebot gleich- und damit allen Einzelgeboten
übergeordnet sei, ordnete er das Sabbatgebot wie andere damalige Thoralehrer der Lebensrettung und dem Heilen von Menschen unter und erlaubte dies auch seinen Nachfolgern (Mk 2,27
EU).
Die als „Antithesen“ zusammengestellten Thorapredigten legen nahe,
dass Jesus alle zehn Gebote je nach Situation mit einer Halacha mündlich auslegte. Denn Mt 5,21ff und 27ff beziehen sich auf das fünfte und sechste Gebot, Mt 5,33ff auf das achte Gebot. Sie
verschärfen diese, indem sie schon die falsche innere Einstellung zum Nächsten als Bruch und Vergehen gegen Gott erklären: Schon Hass mordet, schon Eifersucht bricht die Ehe, jeder Eid, nicht
erst der Meineid vor Gericht ist ein Falschzeugnis (Lüge).
In der matthäischen Komposition der Bergpredigt folgen diese Predigten
den „Seligpreisungen“ an das Volk der Armen. Diese treten somit an die Stelle der „Präambel“ des Dekalogs. Die unbedingte Zusage des Reiches Gottes an die Armen aktualisiert die Zusage „Ich bin
JHWH, dein Gott, der dich aus Ägyptenland befreit hat“: Der vergangenen Befreiungstat Gottes entspricht eine kommende Befreiung und Herstellung von Gerechtigkeit für alle Armen, wie sie das
Judentum vom Messias erwartet.
Ein ausdrücklicher Kommentar zum Fremdgötterverbot ist Jesu Predigt
zum Vorratsammeln (Mt 6,19–24 EU). Das Anhäufen von Besitz und Reichtümern macht diese zum Götzen (Mammon) und steht dem notwendigen Teilen mit den Armen entgegen. Damit widerspricht es der Liebe
zu dem Gott, der die Armen liebt: „Wo dein Schatz ist, da ist dein Herz … Niemand kann zwei Herren dienen.“
Den reichen Großgrundbesitzer weist Jesus auf den Dekalog hin (Mk
10,19 EU), macht aber auch deutlich, dass ihm eins fehlt, um Gottes Reich zu erlangen: das Aufgeben allen Besitzes zu Gunsten der aktuell Armen (v. 21). Dies deutet das zehnte Gebot in gleichem
Sinn wie das erste: Anhäufen und Festhalten von Reichtum ist Raub an den Armen. Was die Zehn Gebote negativ ausschließen, erhält durch Jesu Ruf in die Nachfolge eine positive Zielrichtung: nicht
die Bewahrung einer bestehenden, sondern die Anbahnung einer neuen Ordnung, in der die Armen zu ihrem Recht kommen.
Das Gebot der Elternehrung hat Jesus einerseits relativiert – „Wer den
Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Mk 3,35 EU) –, andererseits gegen ungültige Gelübde, die die Eltern materiell belasteten, bekräftigt (7,9–13 EU). Da zur
Nachfolge Jesu das Aufgeben der familiären Bindungen gehörte, fordern frühe Aussendungsregeln aus der Logienquelle die Unterordnung der Eltern- unter die Gottesliebe (Mt 10,37 EU) und sogar die
Geringachtung der eigenen Verwandten gegenüber der Liebe zu Jesus (Lk 14,26 EU).
Für Paulus von Tarsus hat Jesus Christus als einziger Mensch Gottes
Willen ganz erfüllt. Von seiner, nicht unserer Erfüllung hängt das Heil ab; wer die Thora weiterhin zum Heilsweg erkläre, leugne das Heil, das Gott mit Kreuz und Auferweckung Jesu für alle
Menschen geschaffen habe (Galaterbrief).
Deshalb erhalten die Thoragebote einen neuen Stellenwert. Wie für
Jesus, so erfüllt auch für Paulus die Nächstenliebe alle Gebote der Thora (Gal 5,14 EU) und hebt sie damit unter Umständen auf. Besonders die Kult- und Opfergesetze, die als Konkretion des ersten
und zweiten Gebots im Pentateuch breiten Raum einnehmen, spielen für Paulus keine entscheidende Rolle mehr. Kultische Reinheit vor Gott ist nicht durch menschliche Anstrengung zu erwerben,
sondern durch den Sühnetod Jesu Christi letztgültig erworben worden.
Demgemäß fasst die Nächstenliebe für Paulus auch die Sozialgebote des
Dekalogs zusammen. Dabei verallgemeinert er das neunte und zehnte Gebot: Die Liebe zum Anderen löst jedes „Begehren“ – ohne besonderes Objekt – ab (Röm 13,9 EU). Denn diese Sünde habe Christi Weg
ans Kreuz aufgedeckt (7,7 EU). Der Folgesatz Röm 13,10 – „die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses“ – bezieht sich auf das Böse zurück, das die römische Staatsmacht den Christen zufügte und dem
sie mit Gewaltverzicht, Wohltaten und Opferbereitschaft begegnen sollten: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ (12,17–21 EU). Darum sollen sich die
verfolgten Christen den römischen Staatsbeamten unterordnen und ihnen Steuern zahlen (13,1ff EU), sich aber nicht deren heidnischen Sitten anpassen, sondern im Vertrauen auf Gottes Endgericht
innergemeindliche Solidarität üben (13,10–14 EU). Ihre Feindesliebe soll die Zehn Gebote auch der heidnischen Umwelt als vernünftige Ethik nahebringen. Das ist für Paulus möglich, weil Christus
seinen Nachfolgern den Heiligen Geist geschenkt hat, der ihnen das „Gesetz des Lebens“ einpflanzt und sie von allem bloßen Buchstabenglauben zur Liebe befreit (8,2ff EU).
Juden und die wichtigsten christlichen Konfessionen teilen den Eingangssatz und die Einzelforderungen verschieden auf zehn Gebote auf:
Gebot |
Juden |
Anglikaner, Reformierte und verwandte |
Orthodoxe, Adventisten |
Katholiken, Lutheraner |
Ich bin der Herr, dein Gott. |
1 |
Präambel |
1 |
1 |
Du sollst keine fremden Götter neben mir haben. |
2 |
1 |
||
Du sollst dir kein Bildnis machen. |
2 |
2 |
||
Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen. |
3 |
3 |
3 |
2 |
Gedenke, dass du den Sabbat heiligst. |
4 |
4 |
4 |
3 |
Du sollst Vater und Mutter ehren. |
5 |
5 |
5 |
4 |
Du sollst nicht morden. |
6 |
6 |
6 |
5 |
Du sollst nicht ehebrechen. |
7 |
7 |
7 |
6 |
Du sollst nicht stehlen. |
8 |
8 |
8 |
7 |
Du sollst kein falsches Zeugnis geben. |
9 |
9 |
9 |
8 |
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau. |
10 |
10 |
10 |
9 |
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. |
10 |
Hauptunterschiede
Die wichtigsten Unterschiede betreffen
Das Judentum fasst Gottes Selbstvorstellung als eigenständiges erstes,
die beiden Folgesätze – Fremdgötter- und Bilderverbot – gemeinsam als zweites Gebot auf. So entspricht der Position des einzigen Gottes die Negation aller anderen Götter, die üblicherweise
in Bildern verehrt wurden.
Anglikaner und Reformierte sehen Gottes Selbstvorstellung als
„Präambel“ gegenüber allen folgenden Geboten. Auch der Katholische Katechismus rückt den ersten Satz ab, um dann Fremdgötter- und Bilderverbot zusammen als erstes Gebot zu zitieren. Martin
Luthers Großer Katechismus beginnt mit dem Fremdgötterverbot, das für sich als erstes Gebot erscheint. Dann schließt als zweites Gebot das Verbot des Namensmissbrauchs an. Sein Kleiner
Katechismus dagegen zitiert Selbstvorstellung und Fremdgötterverbot gemeinsam als erstes, das Verbot des Namensmissbrauchs als zweites Gebot. Das Bilderverbot nennt Luther weder im Großen noch im
Kleinen Katechismus direkt.
Die orthodoxen und reformierten Kirchen sowie die Siebenten-Tags-Adventisten trennen Fremdgötter- und Bilderverbot. Deshalb fehlen bei den Reformierten alle Bilder, nicht nur Götterbilder im Gottesdienstraum. Die römischen Katholiken und Lutheraner dagegen sehen das Bilderverbot als Teil des Fremdgötterverbots, so dass für sie nur Gottesbilder, nicht alle Bilder im Gottesdienstraum verboten sind.
Jahrhundertelang übersetzten römisch-katholische Katechismen,
Beichtspiegel und andere Lehrschriften das sechste Gebot wie folgt: „Du sollst nicht Unkeuschheit treiben!“ Es wurde damit als Verbot jeder außerehelichen Sexualität ausgelegt. Im neuen
Katechismus der Katholischen Kirche (KKK, 1. Auflage 1992) steht dagegen zwischen den Absätzen 2330 und 2331: „Du sollst nicht die Ehe brechen.“ So formulieren heute meist auch andere katholische
Lehrschriften. In der Gesamtübersicht zwischen 2051 und 2052 werden die beiden Bibeltexte zitiert und am Ende steht unter der Überschrift „Katechetische Überlieferung“ die alte Formulierung. Nach
KKK 2351 werden die Unkeuschheit und in 2352 die Masturbation als unmoralisch beschrieben.
Konservative Katholiken und der kleine Katechismus der
Priesterbruderschaft St. Pius X. mit kirchlicher Druckerlaubnis verwenden heute noch die alte Formulierung. Katholischen Eheberatungsstellen zufolge hat sich die Lernpraxis geändert.
Juden, Anglikaner und Reformierte folgen der Exodusversion des Dekalogs und beziehen das zehnte Gebot auf das „Haus“ des Nächsten, das im biblischen Sprachgebrauch auch allen familiären Anhang und Besitz umfasste. Katholiken und Lutheraner folgen dagegen der deuteronomischen Version und unterscheiden innerhalb des Verbotes, fremden Besitz zu begehren, zwischen der erstgenannten „Frau“ und dem folgenden „Haus“, das auch „Diener“ und „Vieh“ umfasst. Damit betonen sie die Monogamie und bekräftigen so das sechste Gebot, das den Ehebruch verbietet.
In allen Abrahamitischen Religionen haben die ersten zwei oder drei
Gebote (Gottesfurcht, Bilderverbot, Namensheiligung) eine zentrale Bedeutung. Sie legen den Einen Gott, der mit Abraham den Bund einging, als zentralen Glaubensinhalt fest. Von da aus bestimmen
Judentum, Christentum und Islam auch die Ethik.
Im Christentum hat die Gebotserfüllung aufgrund der bereits im Glauben
empfangenen Erlösung nicht den Stellenwert, den sie im Judentum hat. Dort hängt das Heil – Gottes Gnade im Endgericht – von der Befolgung ab. Dies entspricht dem Wortlaut der Gebote, die
apodiktisch als Imperative oder Indikative („Morde nicht!“ oder „Du wirst nicht morden!“) formuliert sind, den Einzelnen als Teil des Gottesvolks anreden und nicht in das Belieben seiner
Entscheidung gestellt sind. Wer sie nicht befolgt, hat dann die Folgen zu tragen.
Die rabbinische Tradition betont die Gleichrangigkeit von Gottes- und
Nächstenliebe, so dass man Gott nicht lieben kann, ohne die konkreten Sozialgesetze der Thora zu erfüllen. Auf welche Weise dies geschehen soll, wird unterschiedlich ausgelegt.
Wesentliches Element vieler jüdischer wie christlicher Auslegungen ist
der Dekalogobersatz („Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt hat“), der als Begründung sowohl des ersten Gebots als auch der ganzen Gebotsreihe
angesehen wird: Gott hat sein Volk befreit, deswegen soll das Volk keine anderen Götter haben und seine Gebote befolgen.
Die Pfingstbewegung, die charismatische Bewegung, evangelikale und
freikirchliche Christen betonen, dass sich die Zehn Gebote nur ganz oder gar nicht befolgen lassen. Sie lehnen damit eine „säkulare“, nur an den Sozialgesetzen interessierte Übernahme ohne
Glauben an den, der laut Bibel die Gebote erlassen hat und ihre gesamte Befolgung verlangt, ab. Damit geht jedoch auch ein gewisser Konservatismus bei der Ausdeutung einzelner Gebote
einher.
In der Neuzeit wurde der Dekalog als überzeitliches Kulturerbe und
Grundlage autonomer, d.h. durch eigene Einsicht begründeter Ethik aufgefasst und in allgemein einsehbare Vernunftregeln wie den Kategorischen Imperativ übersetzt.
Die Liberale Theologie betonte im Anschluss an eine spiritualisierende
Deutung der Bergpredigt oft, es komme bei allen Geboten weniger auf den Wortlaut als auf die innere Einstellung an. Dabei konnten die konkreten Forderungen des Dekalogs jedoch in eine
Beliebigkeit der Befolgung abgleiten.
Außerhalb der christlichen Kirchen werden die zehn Gebote in Europa
oft als „ethisches Minimum“ aufgefasst, wobei diese Einordnung eher an die auf den Mitmenschen bezogenen Gebote der Sozialtafel anknüpft als an die Kulttafel mit ihrem besonderen Gottesbezug.
Zudem kennt nur noch eine Minderheit der westeuropäischen Bevölkerung ihren Wortlaut, während sie Christen in den USA und in einer Minderheitssituation (Diaspora) oft gut vertraut
sind.
In der Christentumsgeschichte waren die Zehn Gebote manchmal Basis für
kirchlichen Widerspruch zu gesellschaftlichen Entwicklungen. So veröffentlichten die deutschen katholischen Bischöfe am 12. September 1943 einen „Hirtenbrief über die Zehn Gebote als Lebensgesetz
der Völker“, in dem sie gegen damalige Massenmorde der Nationalsozialisten protestierten:
„Tötung ist in sich schlecht, auch wenn sie angeblich im Interesse des
Gemeinwohls verübt würde: An schuld- und wehrlosen Geistesschwachen und -kranken, an unheilbar Siechen und tödlich Verletzten, an erblich Belasteten und lebensuntüchtigen Neugeborenen, an
unschuldigen Geiseln und entwaffneten Kriegs- oder Strafgefangenen, an Menschen fremder Rassen und Abstammung. Auch die Obrigkeit kann und darf nur wirklich todeswürdige Verbrechen mit dem Tode
bestrafen.“
Das Ägyptische Totenbuch (um 1500 v. Chr.) enthält eine Reihe von
Unterlassungen, die ein sterbender Hofbeamter nach Art einer Lebensbeichte angibt, erfüllt zu haben:
· „Ich habe kein Unrecht gegen Menschen begangen,
· Ich habe keinen Gott gelästert.
· Ich habe nicht getötet.
· Ich habe niemandem ein Leid zugefügt.
· Ich habe keine Unzucht getrieben.
· Ich habe nicht gestohlen.
· Ich war nicht habgierig.
· Ich habe nicht die Unwahrheit gesagt.
· Ich bin nicht aggressiv gewesen.
· Ich habe mich nicht aufgeblasen …“
Die negativen Formulierungen ähneln den Prohibitiven des Dekalogs.
Parallelen zum Ersten und Dritten Gebot fehlen allerdings. Gemäß des ersten Satzes handelt es sich eher um zwischenmenschliche Vergehen, die nicht unbedingt eine entsprechende schriftlich
überlieferte Gebotsreihe voraussetzen.
Die biblische Verbindung von einem ausschließlichen Gottesbezug zu
kultischen und sozialen Zentralgeboten findet sich ähnlich nur im Islam. Dieser versteht sich als wahre Religion in dem Sinn, dass Gott bereits dem Stammvater Abraham und den biblischen Propheten
bis hin zu Isa ibn Maryam (Jesus) sich und sein lebensrettendes Gesetz offenbarte, das Juden und Christen dann jedoch verfälschten und erst der Koran letztgültig bekundet.
Eine Reihe von zehn Geboten steht in Sure 17,22–39 unter dem Titel Die Kinder Israels (nach anderer Übersetzung: Die Nachtreise). Dort wird zunächst bekräftigt, dass Gott Moses die Schrift zur Führung für das ersterwählte Bundesvolk gab. Deshalb setzen die anschließend genannten Gebote den hebräischen Dekalog als bekannt voraus. Sie werden aber zugleich anders angeordnet, paraphrasiert und kommentiert.
1. „Setze Allah keinen anderen Gott zur Seite …“
2. „Und dein Herr hat bestimmt, … dass man die Eltern gut behandeln soll.“
3. „Lass deinem Verwandten sein Recht zukommen, ebenso dem Bedürftigen und dem Reisenden; aber handle nicht verschwenderisch.“
4. „Tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Verarmung …“
5. „Nähert euch nicht der Unzucht.“ (andere Übersetzung: „dem Ehebruch“)
6. „Tötet nicht den Menschen, den Gott für unantastbar erklärt hat, es sei denn bei vorliegender Berechtigung.“
7. „Nähert euch nicht dem Besitz des Waisenkindes, es sei denn zu seinem Besten, bis es seine Vollkraft erreicht hat.“
8. „Erfüllt eingegangene Verträge … und gebt volles Maß, wenn ihr messt.“
9. „Verfolge nicht das, wovon du kein Wissen hast …“
10. „Wandle nicht hochmütig (andere Übersetzung: unbekümmert) auf Erden umher.“
Auch sonst sind im Koran häufige Anklänge an einzelne Dekaloggebote zu
finden:
Buddhismus
Der Buddhismus kennt keinen persönlichen Gott und keine offenbarte
Rechtsordnung. Dort gelehrte moralische Verhaltensregeln (silas) haben den Charakter von Selbstverpflichtungen, Tugendidealen, Übungen, Merksätzen und Ratschlägen an den
Einzelnen.
Die Fünf Silas, zu denen sich jeder Buddhist als Laie oder Mönch
bekennt, nennen fünf zu meidende Verhaltensweisen:
Dieses Handeln wird nicht als Sünde oder Unrecht verboten und
bestraft, sondern hinsichtlich der zugrunde liegenden und einsehbaren Motivation abzulehnen empfohlen. Dabei geht es um das Vermeiden allen Handelns, das einen selbst und andere schädigt, sowohl
in diesem Leben als auch nach einer Wiedergeburt.
Andere Lehrreden des Buddha, die im jüngeren Mahayana eine stärkere Rolle spielen als im älteren Theravada, zählen zehn unheilsame Handlungen auf: Töten, Stehlen, sexuelles Fehlverhalten, Lügen, Zwietracht säen, verletzende Rede, sinnlose Rede, Habgier, Böswilligkeit und verkehrte Ansichten. Sie werden als leidverursachend und darum ungünstig für das Wohlergehen im Diesseits und Jenseits (negatives Karma) betrachtet und deshalb vermieden.
Max Weber verglich einige dieser Silas mit den Zehn Geboten und
stellte fest, dass etwa das buddhistische „nicht töten“ anders als das biblische „morde nicht“ auch die innere Einstellung umfasse und auch das Töten von Tieren ausschließe, also im Sinne des
Ahimsa-Ideals gemeint sei.
Seit der europäischen Neuzeit verlor das Christentum seine
vorherrschende, Kultur und Gesellschaft bestimmende Rolle. Die Sozialgebote des Dekalogs blieben jedoch ein Anstoß zur Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und modernem Völkerrecht. Totalitäre
Staatssysteme versuchten dagegen, die traditionelle religiös begründete Ethik durch ihre Ideologien und entsprechende Wertorientierungen zu ersetzen.
In der Zeit des Nationalsozialismus enthielt das Soldbuch deutscher
Wehrmachtssoldaten ein Merkblatt mit „10 Geboten für die Kriegführung des Deutschen Soldaten“, die diesen zum Einhalten einiger Grundregeln des Kriegsvölkerrechts verpflichteten. Nach
Erinnerungen des Kriegsteilnehmers Helmut Gollwitzer wurden diese Regeln zu Beginn des Russlandkrieges im Juni 1941 aus den Soldbüchern entfernt. Dem Militärhistoriker Manfred Messerschmidt
zufolge gab das Oberkommando der Wehrmacht diese Regeln als Heeresdienstvorschrift Nr. 231 von 1942 selbst heraus. Völkerrechtswidrige Befehle des Oberkommandos der Wehrmacht setzten sie außer
Kraft.
In der DDR gab die SED im Juli 1958 die Zehn Gebote der
sozialistischen Moral und Ethik als Verhaltenskodex für das Handeln jedes DDR-Bürgers heraus und nahm sie später in ihr Parteiprogramm auf. Ihnen entsprachen die Zehn Gebote der
Jungpioniere für den Parteinachwuchs der SED. Sie knüpften formal an die Zehn Gebote an, um Verhaltensweisen im Sinne des Realsozialismus zu fördern, fanden aber in der Bevölkerung wenig
Anklang.
Für die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft haben Wolfgang Vogt und Karl-Albert Eßer Zwölf christlich-soziale Gebote verfasst, die die Soziallehre und den Menschen in den Vordergrund der Politik stellen wollen.
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