Messianische Juden

 

Messianische Juden verstehen sich selbst als Juden, die an Jesus Christus, den sie Yeshua nennen, als ihren Messias glauben. Die Bibel – dazu gehören für sie sowohl das Alte Testament (im Judentum: Tanach) als auch das Neue Testament – bildet für sie die Grundlage ihres christlichen, dreifaltigen Glaubens, der Lehre und der Lebensführung. Sie sind der Überzeugung, dass die Bibel in ihrer Ganzheit durch Gott inspiriert ist. Während sie von manchen Kritikern dem religiösen Synkretismus hinzugerechnet werden, mit der Argumentation, dass hier Elemente des Judentums und des Christentums vermischt und zu einem neuen religiösen Weltbild verschmolzen werden, besteht eine wachsende Forderung innerhalb des Judentums, die Messianischen Juden in einem pluralistischen Modell als Teilrichtung des Judentums zu betrachten.

 

Einordnung

 

Die Messianischen Juden stehen theologisch den evangelikalen Christen nahe. In der Diskussion, ob die Messianischen Juden trotz ihres Glaubens an Jesus Christus nach wie vor Juden sind (siehe dazu die nachfolgenden Unterabschnitte), berufen sie sich auf das in (Apg 15 EU) beschriebene Apostelkonzil in Jerusalem, wo die Entscheidung der Apostel überliefert wird, dass zum Glauben an Jesus Christus gekommene Nichtjuden, die Heidenchristen, nicht zum Judentum übertreten und somit die jüdischen Gebote nicht einhalten müssten. Die urchristliche Gemeinde Jesu hatte sich demnach als zutiefst judenchristlich verstanden. In Erinnerung an das alte Apostelkonzil in Jerusalem wurde 1995 von Messianischen Juden und Vertretern aus mehreren christlichen Denominationen in den USA die Initiative Towards Jerusalem Council II gegründet. Ziel dieser Initiative ist das Schaffen eines Bewusstseins, dass entgegen jahrhundertelanger Tradition jenen Juden, die sich zum Glauben an Jesus Christus bekennen, ihre jüdische Identität von Seiten der Kirchen nicht abgesprochen werden soll.

 

Die Messianischen Juden sind judenmissionarisch aktiv, etwa indem sie den neutestamentlichen Missionsbefehl (Mt 28,19-20 EU) auch auf die Juden beziehen, deshalb wird ihnen von Seiten der großen Kirchen und des Judentums äußerst reserviert und kritisch begegnet. Konversionen, die von ihnen ausgehen, werden von manchen Juden als eine Bedrohung und „Vollendung der Schoa“ angesehen.

Selbstverständnis

 

Messianische Juden halten am jüdischen Kultus in ausgewählten Teilen fest. Sie bekennen sich zu Teilen der jüdischen Traditionen und halten den Sabbat. Jedoch glauben sie an Jesus Christus als den Juden versprochenen Messias und an seine Göttlichkeit. Sie sehen ihre Wurzeln in der sogenannten Jerusalemer Urgemeinde, eine innerjüdische eschatologische Strömung, die anfangs ausschließlich aus Juden oder aus beschnittenen bzw. die jüdischen Gebote (das Gesetz) haltende Konvertiten zum Judentum bestand. Nach neutestamentlicher Darstellung wurde der beschnittene und getaufte römische Hauptmann Kornelius und seiner Familie in die Gemeinde aufgenommen. In der Gemeinde wurde das unmittelbare Nahen des Endgerichts und Jesus als Christos geglaubt. Messianische Juden unterscheiden sich in den gottesdienstlichen Formen und im Festkalender vom traditionellen Christentum, nicht aber im theologischen Grundgehalt.

 

Selbstbezeichnung

 

Auch wenn Messianische Juden andere Christen als Glaubensgeschwister anerkennen bzw. von ihnen anerkannt werden, lehnen sie es oft kategorisch ab, sich selbst ausschließlich als „Christen“ zu bezeichnen oder bezeichnen zu lassen. Diese Haltung kommt von der geschichtlichen Tatsache, dass Juden millionenfach Opfer der Verfolgung durch Menschen wurden, die sich als Christen bezeichneten. Um zu bestätigen, dass Juden auch nach Annahme des Glaubens an Yeshua Ha Mashiach ihre jüdische Seele behalten, und um geschichtliche Gräben zu überbrücken, bezeichnen sich Messianische Juden in diesem Sinn selbst als Christus-gläubige Juden.

Organisationsstruktur

 

Die Gemeinden der Messianischen Juden besitzen weder eine einheitliche Struktur noch eine übergeordnete kirchliche Hierarchie. Ihr Hauptverbreitungsgebiet sind die Vereinigten Staaten von Amerika, wo sie umstrittene judenmissionarische Vereinigungen wie Jews for Jesus bilden. 2008 wurde die Zahl der messianischen Juden in den Vereinigten Staaten auf rund 250.000 Mitglieder geschätzt. Messianische Gemeinden sind aber auch in Israel mit rund 6.000 Gemeindemitgliedern vertreten. Seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts sind sie auch in Deutschland vertreten. Ihre jüdischen Mitglieder entstammen zu einem großen Teil den Kreisen jüdischer Einwanderer aus den GUS-Staaten.

 

Kultus

 

Messianische Juden feiern viele Feste des Alten Testaments: Pessach (Feier zur Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten), Schawuot (Wochenfest, zeitnah zu Pfingsten), Sukkot (Laubhüttenfest im Herbst) sowie den Sabbat. Traditionelle jüdische Riten werden in christlicher Prägung neu interpretiert und gestaltet.

 

Gemeinden von Messianischen Juden, manchmal auch als „Messianische Synagogen“ bezeichnet, halten ihren christlichen Hauptgottesdienst am Sabbat ab. Zum Gottesdienst gehören unter anderem sog. davidianische Musik, Tanz und Gesang. Aus der rabbinischen jüdischen Tradition werden selektiv Bräuche übernommen, so die Kippa (Käppchen als Kopfbedeckung) oder der Tallit (Gebetsschal).

 

Für die gängigen neutestamentlichen Namen verwenden Messianische Juden nicht deren griechische oder lateinische Varianten, sondern hebräische. Jesus nennen sie zum Beispiel Jeschua und Saulus (Paulus) Scha’ul. Für die alttestamentlichen Namen verwenden sie meist die üblichen christlichen, griechischen oder lateinischen Varianten. Das Neue Testament wird in deutschen, englischen oder russischen Ausgaben gelesen, denen eine hebräische Rückübersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen zugrunde liegt. Gräzisierte bzw. latinisierte Namen werden in diesen Übersetzungen rehebräisiert.

 

Strömungen und interne Auseinandersetzungen

 

Die christliche Bewegung messianischer Juden bietet kein einheitliches Bild. Die Bewegung kann grob in folgende Strömungen, die sich gegenseitig kritisch gegenüber stehen, unterteilt werden:

 

Toraobservante Richtung:

Die christliche Bibel ist einzige Autorität. Die Tora und Gebote werden beachtet und die üblichen jüdischen Feiertage eingehalten. Die Tora wird also nicht im Sinne einer Substitutionstheologie als „abgelöst“ betrachtet. Die Vertreter dieser Richtung grenzen sich deutlich von den „nichtobservanten“ Messianischen Juden ab. Christliche Dogmen und Glaubensgrundsätze (etwa die Dreieinigkeit, die Rolle der Kirche als neues Volk Israel etc.) lehnen sie ab. Dadurch werden sie einerseits im Judentum nicht als Juden akzeptiert und wie alle Richtungen Messianischer Juden als Christen betrachtet, zugleich aber auch im Christentum nicht als Christen akzeptiert und als Antitrinitarier abgelehnt. Die toraobservante Richtung wird von anderen Messianischen Juden häufig nur als „Christen jüdischer Abstammung“ eingestuft.

 

Nichttoraobservante Richtung:

Die christliche Bibel ist einzige Autorität. Die Tora gilt als nicht mehr verbindlich und die Gebote werden auf jene begrenzt, die auch von Nichtjuden beachtet werden müssen. Diese Gruppe benutzt jüdische Attribute meist selektiv, um Juden dadurch besser ansprechen und missionieren zu können, was von der „toraobservanten“ Strömung abgelehnt wird. Diesen Teil der Messianischen Juden unterstützen evangelikale Christen, die Judenmission betreiben.

 

Geschichte

 

Messianische Juden sind Christen. Sie lehnen deshalb den historischen Begriff Judenchristen ab, der für die Sekte antiker Juden im Urchristentum ausgehend von der Jerusalemer Urgemeinde in Unterscheidung zum Heidenchristentum verwendet wird. Judenchristen sind Juden des 1. Jahrhunderts, die in Jesus Christus den Messias sahen und an seine Auferstehung glaubten. Da diese Gruppe ab dem 2. Jahrhundert mit der zunehmenden urchristlichen Mission unter Nichtjuden immer mehr an Bedeutung verlor und schließlich im Zuge der Christianisierung im Römischen Reich assimiliert wurde, lässt sich keine Tradition von an Jesus glaubenden Juden über die Jahrhunderte feststellen.

 

Messianische Juden hingegen sind eine relativ neue christliche Bewegung aus dem frühen 19. Jahrhundert, deren Hauptziel die Judenmission ist.

19. Jahrhundert

 

1814 begann die Kirche am Palästina-Platz in London mit Gottesdiensten in hebräischer Sprache. In Hamburg wurde 1845 eine „Jerusalem-Gemeinde“ gegründet.

 

Die weltweit erste „Messianische Synagoge“ wurde 1884 von Joseph Rabinowitz (1837–1899) in Bessarabien, Kischinew, gegründet. Die Gemeinde nannte sich „Gemeinde von Israeliten des Neuen Bundes“ und hatte ihren Wirkungsbereich in Rumänien, Ungarn und Russland; die Bewegung zerfiel 1939 mit der eskalierenden Judenverfolgung in Europa.

 

Im Jahre 1866 entstand die Hebrew Christian Alliance of Great Britain, 1882 die First Hebrew Christian Church von Jakob Freshman in New York sowie die Hebrew Christian Prayer Union in London.

 

20. Jahrhundert

 

1915 wurde die Hebrew Christian Alliance of America gegründet, 1922 der Verein Christus-gläubiger Juden in Budapest, 1925 die International Christian Hebrew Alliance und 1934 die First Hebrew Christian Synagoge in Los Angeles.

 

Die heutige Bewegung der Messianischen Juden entstand in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika. Seit den 1980er Jahren verbreitet sich die Bewegung auch in Europa und Israel. Viele ihrer dortigen Anhänger stammen aus der ehemaligen Sowjetunion.

Verbreitung

 

Die Mehrzahl der Christen, die sich selbst Messianische Juden nennen, lebt in den USA, Kanada, Mexiko, Argentinien, Südafrika, Israel, und Russland.

Situation in Deutschland

 

Messianische Juden gibt es in Deutschland verstärkt seit den 1990er Jahren. Zwar gab es in der Geschichte davor auch schon Juden, die zum Christentum in üblicher katholischer oder evangelischer Prägung konvertiert waren, aber keine eigenen Gemeinden bildeten. Heute gibt es 40 messianische Synagogen oder Hauskreise, u.a. in den Großstädten Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Karlsruhe, Köln, München und Stuttgart. In vielen Gottesdiensten wird auf Russisch gepredigt, da fast alle Mitglieder der Gemeinden aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion stammen. Ihre Missionsarbeit unter anderen Juden wird als anstößig und störend aufgefasst. Die Gemeinden der Messianischen Juden haben Kontakt zu den Baptisten und anderen Freikirchen und zur Deutschen Evangelischen Allianz. Im März 2011 nahmen 23 Wissenschaftler aus Europa und Israel am ersten Europäischen Messianisch-Theologischen Symposium in Berlin teil und verfassten eine Erklärung dazu.  

 

Situation in Israel

 

In Israel gibt es derzeit ca. 6.000 Messianische Juden. Die meisten von ihnen stammen aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Äthiopien. Sie zählen 80 Gemeinden. Auch dort arbeiten die Messianischen Juden eng mit den Baptisten zusammen.

 

Kontroversen

 

Jüdische Sicht

 

Das heutige Judentum ist messianisch, d.h. es erwartet die Messianische Zeit in der Zukunft und erkennt Jesus Christus nicht als Messias Israels an. So genannte Messianische Juden sind nach jüdischer Ansicht eine christliche Sondergemeinschaft, die weltweit von allen jüdischen Institutionen, dem jüdischen Recht (Halacha) und dem Staat Israel nicht als jüdisch anerkannt werden. Sie selbst sehen sich zwar als Teil des Judentums, werden in Israel jedoch als christliche Ausländer betrachtet, die nach dem Rückkehrgesetz keine Einbürgerung erhalten, wenn sie vorher als anerkannte Juden zum christlichen Glauben der Messianischen Juden übergetreten sind.

 

Juden, die zum christlichen Glauben der Messianischen Juden konvertieren, verlieren ihren halachischen Status als Juden. Bei Frauen gilt das auch für deren minderjährige Kinder. Diese Regelung ist maßgebend für ihre Stellung hinsichtlich des Staates Israel und weltweit hinsichtlich aller jüdischer Gemeinden und Organisationen. Sollten die Konvertiten zugleich Israelis sein, so trifft Vorgesagtes zu, sie verlieren jedoch nicht automatisch ihren israelischen Pass. Sollten Juden, die zum Glauben der Messianischen Juden konvertiert sind und zugleich keine Israelis sind, einen Antrag auf Einbürgerung nach dem Rückkehrgesetz stellen, so werden sie nach den Gesetzen des Staates Israel wie jeder andere nichtjüdische Ausländer behandelt, haben also ihre Rechte als Juden, sich in Israel bevorzugt niederlassen zu können, verloren. Der Weg zurück zum Judentum bleibt ihnen wie anderen Konvertiten offen, sie müssen jedoch ihrem Glauben an Yeshua HaMashiach ernsthaft und absolut abschwören. Meist ist auch ein Tauchbad in der Mikwe erforderlich. Grund dieser Handhabung ist die Befürchtung von zunehmenden Übertritte zum Christentum. Damit einhergehend wird die zunehmende Entfremdung der folgenden Generationen, der Kinder und Kindeskinder ehemals jüdischer Eltern, von den Grundsätzen des Judentums befürchtet.

 

Der Rabbiner Andreas Nachama kritisiert die Judenmission: „Aus der Sichtweise von in jüdischen Strukturen organisiertem Judentum schließt es sich schlicht aus, an Jesus zu glauben und Jude zu sein.“ Er spricht von „klassischem Antijudaismus“. Der Rabbiner Chaim Z. Rozwaski sieht einen Versuch, das Judentum an seinen Zweigen und Wurzeln zu zerstören: „Zu behaupten, es sei möglich, ein ‚Jude für Jesus‘ zu sein, beschädigt das Gewissen und das religiöse Denken beider Richtungen, und in diesem Sinne ist die Bewegung böswillig“, „[...] ob man einen Juden in der Gaskammer tötet oder durch Konversion – in beiden Fällen ist er als Jude tot“.

 

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hält fest, das Judenmissionswerk bewerbe gezielt Kontingentflüchtlinge aus Osteuropa und mache sich deren geringes Wissen über das Judentum zunutze.

 

Sicht des jüdisch-christlichen Dialogs

 

Die evangelische Kirche und die römisch-katholische Kirche in Deutschland vertreten zwar die Theologie von nur einem Heilsweg. Die von den Messianischen Juden betriebene Judenmission stößt in den Amtskirchen dennoch auf Kritik.

 

Der religiöse Status der so genannten Messianischen Juden – so die Studie Christen und Juden III der Evangelischen Kirche Deutschland – sei aus christlicher Sicht ungeklärt. Das Judentum erklärt sie durchweg für Christen. Abgesehen von evangelikalen Kirchen, Gemeinden und Werken werden sie von den Volkskirchen oft kritisch wahrgenommen. Nachdem der Deutsche Evangelische Kirchentag Gruppen der Messianischen Juden in den vergangenen Jahren keine Mitwirkungsmöglichkeiten bot, hat ihnen aber der Ökumenische Kirchentag in München 2010 erstmals eine eigene Veranstaltungsreihe zugestanden, die in der Münchner Paul-Gerhardt-Gemeinde stattfand. Die religiös Verantwortlichen des Judentums lehnen sie und ihre Judenmission ab, bezeichnen sie als „nichtjüdisch“ oder als „abtrünnige Juden“. Am christlich-jüdischen Dialog sind sie folglich nur wenig beteiligt.

 

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