Das orthodoxe Judentum (von gr. orthós, „richtig“ und dóxa, „Lehre“ – d. h. „der rechten Lehre angehörend“) ist eine der Hauptströmungen des heutigen Judentums neben dem konservativen Judentum, dem liberalen Judentum und dem Rekonstruktionismus. Als Gründer des neu-orthodoxen Judentums, das im 19. Jahrhundert von Deutschland ausging, gilt Samson Raphael Hirsch.
Die Bezeichnung „orthodoxes Judentum“ entstand erst im 19. Jahrhundert als Abgrenzung zum damals neu entstehenden
Reformjudentum. In seiner Hauptströmung sieht das orthodoxe Judentum seine Wurzeln im pharisäischen Judentum, für das die Gesetzeserfüllung der Versuch war, die Heiligkeit des Wandernden
Gottesvolkes zu erreichen.
Daraus entwickelte sich ein Verhaltenskodex, der den Lebensablauf jedes orthodoxen Juden umfassend regelte. „Macht einen Zaun
um die Thora“ war der Leitspruch der Rabbiner später. Dies wird von orthodoxen Juden so interpretiert: Praktiziert die Thora, die Offenbarung Gottes an Moses, als ein Regelwerk in eurem täglichen
Leben.
Gekennzeichnet ist es durch das Verständnis der Offenbarung (der schriftlichen und der mündlichen Thora) als unveränderliches
Wort Gottes. Daraus folgert das orthodoxe Judentum die Forderung nach einer strikten Befolgung der Halacha (jüdische Gesetzesvorschriften), wie sie in traditionellen Werken (Schulchan Aruch)
festgelegt wurden. Die Position über aktuelle Neuerungen wie beispielsweise Leihmütter oder die Sterbehilfe werden anhand dieser Halacha festgelegt. Das orthodoxe Judentum ist somit auch in der
Lage, auf diese Änderungen zu reagieren, ohne die Gesetzgebung selbst zu ändern.
Das orthodoxe Judentum zeichnet sich besonders durch seine Praxis aus. Der Begriff „Orthodoxie“ ist insofern irreführend, als
sich die „orthodoxe“ Richtung des Judentums weniger durch ihre Lehre auszeichnet oder von anderen Strömungen des Judentums unterscheidet. Außer der Bezeichnung „orthodoxes Judentum“ werden daher
für diese Richtung gelegentlich auch die Benennungen „thoratreues“ oder „gesetzestreues Judentum“ gebraucht.
Als jüdisch wird von dieser Richtung angesehen, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder nach den Regeln des
orthodoxen Judentums übergetreten ist.
Das orthodoxe Judentum als Bewegung ist sehr heterogen. Zwei Hauptrichtungen lassen sich unterscheiden:
Das ultraorthodoxe Judentum (hebr. יהדות חרדית jahadut
charedit) ist ein Teil des orthodoxen Judentums, das an zahlreichen Traditionen sehr konservativ festhält. Die
hebräische Bezeichnung für einen Anhänger dieser Richtung lautet חֲרֵדִי (charedi von charada – „Furcht“), Mehrzahl
חֲרֵדִים (charedim), zu deutsch etwa „die Gottesfürchtigen“.
Die Aufteilung der Charedim in Chassidim und Mitnagdim war im 18. und 19. Jahrhundert von weltanschaulicher Bedeutung. Die
Mitnagdim, früher Anhänger des Gaons von Wilna, stammen zum überwiegenden Teil aus Litauen.
Die Ultraorthodoxie unterscheidet sich von den übrigen orthodoxen Juden u. a. dadurch, dass weltliches Wissen als unwesentlich angesehen wird und der Kleidungsstil keinen säkularen Moden (mehr) angepasst wird. Teile der aschkenasischen Charedim sprechen auch heute noch Jiddisch und nicht Hebräisch, dessen Gebrauch einzig der religiösen Kommunikation vorbehalten ist.
Verhältnis zum Staat Israel
In ihrer Haltung zum israelischen Staat ist die Ultraorthodoxie so wie andere Richtungen des Judentums gespalten. Mit der Begründung, ihr ganzes Leben dem Studium von Thora und Talmud zu widmen, lassen sich viele ultraorthodoxe Bürger Israels vom Militärdienst in der israelischen Armee befreien. Manche Gruppierungen (u.a. Satmar und Neturei Karta) lehnen den Staat Israel in seiner heutigen Form vollständig ab, da ihrer Ansicht nach nur der Messias einen jüdischen Staat wiedererrichten darf. Andere Ultraorthodoxe engagieren sich dagegen stark für Israel und üben politischen Einfluss aus.
Chassidismus kommt von dem hebräischen Wort חסידים / Chassidim, „Fromme“ und bezeichnet verschiedene voneinander unabhängige Bewegungen im Judentum.
Gemeinsam ist diesen Bewegungen der hohe Standard religiöser Observanz, der hohe moralische Anspruch sowie eine besondere
Gottesnähe, die häufig mystische Ausprägung gefunden hat.
Insbesondere werden unterschieden:
Chassidim in der Zeit des zweiten Tempels
Da jeder Fromme als Chassid bezeichnet werden kann, ist häufig unklar, ob mit den in den Quellen erwähnten
Chassidim einfach die Gesamtheit der frommen Juden oder eine konkrete, strukturierte Gruppe gemeint ist.
Fassbar als Gruppe werden Chassidim als eine Vereinigung endzeitlich orientierter Gruppen um 300 bis 175 v. Chr., die nach 1. Makkabäer 2, 29-38 auf der Suche nach Recht und Gerechtigkeit ihre Wohnsitze verließen und in die Wüste zogen, um den religionspolitischen Zwangsmaßnahmen der Seleukiden zu entgehen. Widerstandslos ließen sie sich am Sabbat überfallen, nur um das Sabbatgebot nicht zu entweihen. Nach 2. Makkabäer 5, 24-26 eroberte Apollonius unter Ausnutzung dieser Mentalität Jerusalem am Sabbat. Erst Judas Makkabäus beschloss, sich auch am Sabbat zu verteidigen und erreichte die Unterstützung der Chassidim. Es gelang, die Seleukiden unter Antiochos IV. erfolgreich zu bekämpfen und aus dem Land zu vertreiben.
Der deutsche Chassidismus des Mittelalters
Vor dem Hintergrund der für das Judentum bedrohlichen Kreuzzüge entwickelte sich der Chassidismus in Deutschland parallel zur Entstehung der christlichen Mystik von etwa 1150 bis 1250 vor allem im Rheinland und in der Pfalz (Speyer, Worms und Mainz). Prägend waren insbesondere die Angehörigen der aus Italien eingewanderten Familie der Kalonymiden:
Der Chassidismus ist keine philosophische oder theologische Lehre, sondern die religiöse Praxis des Chassid (hebräisch „der Fromme“, abgeleitet vom Begriff „Gnade“, „Güte“), die sich insbesondere im Gebet als spiritueller Übung äußert. Bestimmende Momente sind dabei:
Der ursprünglich osteuropäische Chassidismus
Der Chassidismus im osteuropäischen Judentum hat mit dem deutschen Chassidismus des Mittelalters nur wenig mehr als den Namen
gemeinsam und übertrifft diesen erheblich an Bedeutung. Er entstand als Reaktion auf die Pogrome unter Führung des Kosaken Bogdan Chmelnizki im Jahre 1648, als in Osteuropa über 700 jüdische
Gemeinden vernichtet wurden.
Begründer des osteuropäischen Chassidismus ist Israel ben Elieser (um 1700-1760), genannt Baal Schem Tow („Meister des guten Namens“). Zu seinen wichtigsten Schülern gehören Rabbi Dow Bär, genannt „Maggid von Mesritsch“ bzw. der „Große Maggid“, und Rabbi Jakob Josef von Polonoje. Innerhalb weniger Jahrzehnte verbreitete sich der Chassidismus in jüdischen Gemeinden in der Ukraine, in Polen, Weißrussland, Russland, Österreich und Deutschland.
Der Baal Schem Tow und seine Nachfolger betonten den Wert des traditionellen Studiums der Thora und der mündlichen
Überlieferung, des Talmud und seiner Kommentare. Daneben gewann die mystische Tradition der Kabbala erheblichen Einfluss. Über dieses Studium hinaus steht im Chassidismus das persönliche und
gemeinschaftliche religiöse Erlebnis an vorderster Stelle.
Die Chassidim (Mehrzahl von Chassid) versammeln sich besonders am Sabbat und den jüdischen Festtagen um ihren Rabbi (jiddisch „Rebbe“), um in Gebet, Liedern und Tänzen und auch religiöser Ekstase Gott näher zu kommen. Der chassidische Rabbi, genannt „Zaddik“ („Gerechter, Bewährter“, von hebräisch „zedek“ = „Gerechtigkeit“), ist ein charismatischer Führer und Mittelpunkt der Gemeinde und gibt die chassidischen Lehren – oftmals in Form von Erzählungen und Gleichnissen – an seine Schüler weiter. Berühmtes Beispiel für einen Zaddik ist Rabbi Nachman von Bratslav, Urenkel des Baal Schem Tow und Gründer einer eigenen chassidischen Richtung, des Bratslaver Chassidismus.
Chassidische Gemeinden sind Teil des orthodoxen Judentums.
Zur Zeit seiner Entstehung erwuchs dem Chassidismus innerhalb des Judentums Widerstand aus zwei entgegengesetzten Richtungen: einerseits aus den Reihen der Mitnagdim (wörtlich: „Gegner“). Dies waren talmudisch geschulte Kreise, mit Zentrum in litauischen Jeschiwot. Wichtigster Vertreter der Mitnagdim war der Gaon von Wilna, der 1772 und 1782 den Chassidismus mit einem Bann belegte. Er befürchtete aufgrund der Spontanität und der Lebenslust der Chassidim Nachlässigkeit bei der Erfüllung der Mitzwot („Gebote“); auf Unverständnis stieß auch die Ablehnung von Kasteiung und asketischer Lebensweise seitens der Chassidim und die Forderung, dass selbst ein Zaddik Teschuva (hebr. „Umkehr“, „Rückkehr“) tun muss, um sich spirituell weiterzuentwickeln. Andererseits empfanden die Maskilim, die Aufklärer um Moses Mendelssohn, den Chassidismus der Ostjuden als rückständig. Zwischen säkular geprägter, rationaler Aufklärung und der Mystik des Chassidismus entstand eine schwer überwindbare tiefe Kluft.
Moderne chassidische Persönlichkeiten und Bewegungen
Chassidische Traditionen wurden in Europa mit der Vernichtung der osteuropäischen Juden durch den Nationalsozialismus beinahe
ausgelöscht. In Israel und Amerika, aber auch in Westeuropa (Antwerpen, London, Zürich) konnte sich der Chassidismus erfolgreich reorganisieren und ist heute, auch aufgrund des starken
Bevölkerungswachstums chassidischer Gruppen, wieder in einem starken Aufschwung.
Die bekannteste chassidische Gemeinschaft der Gegenwart ist die Chabad-Bewegung. Daneben gibt es Satmar, Belz, Ger, Wischnitz
und viele weitere kleine Gruppen.
Martin Buber (1878–1965) hat Anfang des 20. Jahrhunderts den Chassidismus über viele Jahre untersucht und mehrere Bücher
darüber geschrieben. Ein zentrales Werk sind seine „Erzählungen der Chassidim“, worin er überlieferte Weisheitsgeschichten sammelte und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich
machte.
Im deutschen Sprachraum hat daneben Friedrich Weinreb (1910–1988) die mystische Tradition des Ostjudentums in seinen Büchern beleuchtet.
Das Konservative Judentum ist eine Strömung innerhalb des Judentums, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstand und sich zwischen der Orthodoxie und den Liberalen ansiedelt. Als sein Gründer gilt Rabbiner Zacharias Frankel (1801–1875), der erste Direktor des 1854 eröffneten Jüdisch-theologischen Rabbinerseminars in Breslau.
Die Richtung des konservativen Judentums wird vor allem mit den Vereinigten Staaten (conservative judaism) in Verbindung
gebracht, während man das, was man in den USA unter conservative verstand und versteht, in Deutschland eher unter Reform- oder liberalem Judentum subsumierte (was aber in
keiner Weise dem conservative judaism entsprach). Allerdings entsteht seit einigen Jahren auch in Deutschland eine (zahlenmäßig noch kleine) sich bewusst konservativ nennende
Denomination des Judentums, die sich von den als zu libertär empfundenen Reformgemeinden, deren jüdisches Erbe zerfließe, bewusst abgrenzen will.
Im heutigen Deutschland ist das konservative Judentum vor allem in Berlin vertreten, aber auch in der jüdischen Gemeinde
Weiden. Der Masorti Verein in Berlin unterhält unter anderem einen jüdischen Kindergarten und kümmert sich um die sprachliche und religiöse Integration von Einwanderern aus den
GUS-Staaten.
Ziel der konservativen Bewegung ist das Bewahren der Tradition, soweit sie mit modernen Erkenntnissen und Lebensumständen
vereinbar ist, also die Annahme einer historisch bedingten Veränderlichkeit des Judentums bei voller Wahrung einer übergeschichtlichen Substanz. Dabei besteht eine feste Bindung an die Halacha,
d. h. das jüdische Religionsgesetz, das als „Grundnorm“ des konservativen Judentums gilt. Es können hierbei aber auch rechtliche Grundlagen gelten, die von der heute praktizierten Halacha
abweichen, wenn sie eine Basis in der jüdischen Rechtsliteratur haben.
Heute gibt es auch im konservativen Judentum verschiedene Ausprägungen, so z. B. das neologe Judentum in Ungarn, das sich
liturgisch an das Altliberale Judentum in Deutschland anlehnt, die Masorti-Bewegung mit dem Hauptsitz in Jerusalem oder das Conservative Movement in den USA.
Mitglieder der konservativen Bewegung werden angehalten, die Speisegebote (Kaschrut) und die Ruhevorschriften für den Schabbat
strikt einzuhalten, wobei einige Regelungen etwas milder als in der Orthodoxie ausgelegt werden. Konservative Gemeinden halten sich außerdem weitgehend an die traditionelle Form der
Liturgie.
Allerdings gibt es Unterschiede zur Orthodoxie im Geschlechterrollenverständnis: Außer den neologen Strömungen setzt sich das
konservative Judentum für eine konsequente Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein, das konservative Rabbinerseminar in New York lässt seit 1984 Frauen zum Rabbinerstudiengang
zu.
Auch wenn bei der Observanz (Einhaltung der religiösen Vorschriften) und der Liturgie eine gewisse Nähe zur Orthodoxie besteht,
werden Entscheidungen konservativer Rabbiner von den Orthodoxen nicht anerkannt. Hingegen sind die Grenzen zwischen dem konservativen und dem liberalen Judentum eher fließend.
Über deutsche Auswanderer kam die konservative Bewegung in die USA, wo sie heute eine der stärksten Strömungen innerhalb der jüdischen Religion ist. Hier wurden auch Gremien geschaffen, die sich mit halachischen – religionsgesetzlichen – Regelungen für Fragen des jüdischen Alltags und des Ritus befassten und allgemeine Richtlinien für die konservative Bewegung schufen. Unter den Vordenkern des Konservativen Judentums in den USA sind vor allem Isaac Leeser (1806–1868) und Sabato Morais (1823–1897) zu nennen. Diese Männer waren Reformen keineswegs abgeneigt; Leeser z. B. war es, der erstmals englischsprachige Elemente in die traditionell hebräische Liturgie des jüdischen Gottesdienstes einführte. Ziel der Konservativen war es vielmehr, Juden eine Anpassung an die amerikanische Kultur zu ermöglichen, ohne dabei ihre religiösen Grundsätze zu beugen. Morais gründete 1885 das „Jewish Theological Seminary“ (in Anlehnung an das Breslauer Jüdisch-theologische Seminar), das zum akademischen und geistigen Zentrum der Bewegung wurde. Als sich nach einer Einwanderungswelle osteuropäischer und russischer Juden (1880–1920) das Problem des massenhaften Glaubensverfalls stellte, versuchte das Seminar unter Cyrus Adler und Solomon Schechter, ein Gegengewicht zu bilden. Eine weitere prominente Institution des konservativen Judentums in den USA war die 1913 gegründete „United Synagogue of America“, in der die Synagogen der konservativen Tradition organisiert waren.
Das liberale Judentum zählt zum Progressiven Judentum und wird in Nordamerika als Reformjudentum bezeichnet. Wie das orthodoxe
Judentum, ist es eine Strömung innerhalb der jüdischen Religionsgemeinschaft. Seine Ursprünge liegen vor allem im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts und gehen auf Ideen von Moses
Mendelssohn, Israel Jacobson, Leopold Zunz, Abraham Geiger und Zacharias Frankel zurück.
Dabei wird die Offenbarung als ein von Gott ausgehender und durch Menschen vermittelter dynamischer und fortschreitender
(„progressiver“) Prozess begriffen, und nicht als ein einmaliger Akt, bei dem Moses durch Gott wörtlich die Thora („schriftliche Lehre“) sowie alle Auslegungen („mündliche Lehre“, später im
Talmud und der Rabbinischen Literatur niedergeschrieben) erhalten hat. Daraus wird die Verpflichtung zur Bewahrung der jüdischen Tradition, aber auch zu ihrer beständigen Erneuerung abgeleitet.
Die Texte der hebräischen Bibel sind einer historisch-kritischen Erforschung nicht entzogen.
Das liberale Judentum bildete in Deutschland bis zur Shoa die Mehrheit innerhalb der „Einheitsgemeinden“. Heute ist das liberale Judentum in den USA (dort Reform Judaism) die Richtung mit den meisten Mitgliedern. Organisiert sind die jüdischen reformorientierten, liberalen und progressiven Gemeinden in der World Union for Progressive Judaism, die 1926 unter maßgeblicher Mitwirkung von Rabbiner Dr. Leo Baeck, einer Führungspersönlichkeit des deutschen Judentums, gegründet wurde. In Deutschland bilden heute rund 20 liberale jüdische Gemeinden die Union progressiver Juden in Deutschland. Deutschsprachige liberale Gemeinden gibt es auch in Österreich (Wien) und in der Schweiz (Zürich).
Der Rekonstruktionismus, begründet und entwickelt in den 1930er Jahren durch den Rabbiner Mordecai Menahem Kaplan, ist die jüngste Strömung des Judentums.
Charakterisierung, historische Herkunft
Der Rekonstruktionismus ist aus dem Konservativen Judentum hervorgegangen und war zunächst eine Strömung innerhalb der
konservativen Bewegung. Ein rekonstruktionistisches Rabbinerkolleg existiert seit 1968. Der Dachverband der rekonstruktionistischen Gemeinden in den USA ist die ‘‘Jewish Reconstructionist
Federation‘‘, gegründet 1955. Sie umfasst etwa 100 Gemeinden und Gruppen
Für den Rekonstruktionismus ist das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, wie auch das Judentum in seiner Gesamtheit, einer Fort- und Weiterentwicklung unterworfen. Wird die Halacha durch das konservative Judentum neu ausgelegt, so kann innerhalb des Rekonstruktionismus dieses Gesetz im Allgemeinen immer wieder neu hinterfragt werden.
In Anlehnung an Mordecai Menahem Kaplan betrachtet die rekonstruktionistische Bewegung das Judentum nicht nur als Religion,
sondern als „sich weiterentwickelnde religiöse Zivilisation“. Das umfasst nicht nur rituelle, sondern alle Lebensbereiche und Aspekte menschlichen Lebens: Geschichte, Literatur, Kunst, Musik,
Land und Sprache.
Das Judentum sei, als Produkt menschlicher Entwicklung, durch verschiedene Phasen gegangen, die jeweils die Bedingungen
spiegelten, unter denen es sich weiterentwickelte. Es wird kein göttliches Eingreifen angenommen und formuliert, dass die Thora nicht durch göttliche Offenbarung zu den Menschen gekommen ist, wie
es etwa das orthodoxe Judentum postuliert. Auch heute gehe diese Entwicklung weiter und muss den sich ändernden Bedingungen Rechnung tragen. Jede Generation habe das Recht und die Verpflichtung,
die Tradition zu studieren und dann neu zu formulieren.
Vielschichtigkeit besteht in der Frage nach Gott. Für einen Teil der Bewegung gibt es keinen persönlichen Gott. In seinen frühen Werken schrieb Kaplan, Gott sei die Summe aller Prozesse der Natur, die es dem Menschen erlaube, sich selbst zu verwirklichen. In späteren Werken spricht Kaplan von Gott als ontologischer Realität. Er existiere auch unabhängig davon, was der Mensch glaube. Innerhalb der rekonstruktionistischen Bewegung begegnet man nicht nur diesen beiden Sichtweisen.
Auch wenn nur 3% aller Jüdinnen und Juden der USA zum „reconstructionist movement" gehören, leistete die Bewegung in einigen
Bereichen Pionierarbeit, z. B. bei der Liturgie. Sie war die erste, die sogenannte „gender inclusive liturgies“ entwarf und Gott nicht ausschließlich mit männlichen Attributen
bezeichnete.
Seit 1986 existiert in Wyncote, Pennsylvania, das Reconstructionist Rabbinical College (RRC), an dem rekonstruktionistische
Rabbiner und Rabbinerinnen ausgebildet werden. Frauen steht dort die Ordinierung zur Rabbinerin seit 1972 offen. Die erste Absolventin, Sandy Eisenberg Sasso, wurde 1974 ordiniert. Derzeit
studieren dort etwa 80 Studenten.
1974 wurde die Rabbiner-Vereinigung Reconstructionist Rabbinical Association gegründet. Sie hat ihren Sitz in
Philadelphia.
Von den 13 Millionen Juden der Erde leben ca. sechs Millionen in den USA. Von diesen bekennen sich 6 % zum orthodoxen Judentum, 35 % zum konservativen Judentum, 38 % zum Reformjudentum; 2 % zählen sich zum rekonstruktionistischen Judentum, der Rest gehört zu keiner dieser Strömungen.
Mit der Gründung einer Gemeinde in New York 1922, der Society for the Advancement of Judaism, begann die Geschichte des
Rekonstruktionismus als jüdische Erneuerungsbewegung. Kaplan, seit 1909 Dekan am renommierten Jewish Theological Seminary (bis 1963), gründete mit Anhängern, Studenten und Rabbinern 1928
eine eigenständige Gruppe innerhalb der konservativen jüdischen Strömung, die ein Reconstructionist Council konstituierte.
Den elaborierten theoretischen Unterbau der sich formierenden, entwickelnden rekonstruktionistischen Strömung lieferte Kaplan
1934 mit seinem Buch Judaism as a Civilization. Er formulierte Reformationen der jüdischen Theologie, der jüdischen Philosophie, der Bräuche und des Gemeindelebens.
Seit 1935 entstanden überall in den USA rekonstruktionistische Clubs, ein Verlag wurde gegründet und im selben Jahr erschien
das Gemeindeblatt The Reconstructionist Magazine zur Kommunikation rekonstruktionistischer Positionen.
1940 gründete Kaplan die Reconstructionist Foundation, deren Mitgliedschaft progressiven Rabbinern offenstand, sowie
allen jüdischen Laien, ohne eine Spaltung vom konservativen Judentum zu beabsichtigen. Die später publizierten Bücher zeichneten weiter wichtige Stationen der Entwicklung des Rekonstruktionismus
als eigenständige Strömung innerhalb des Judentums auf, denn bisher war die rekonstruktionistische Strömung Teil der konservativen.
1941 gab Kaplan, gemeinsam mit seinem Schwiegersohn Ira Eisenstein und Eugene Kohn, eine neue rekonstruktionistische Fassung
für den Pessach Seder, The New Haggadah, heraus.
1945 gaben M. M. Kaplan, I. Eisenstein, E. Kohn und Milton Steinberg eine neue Fassung des Sabbath Prayer Book heraus.
Dies führte zu einigem Aufruhr, u. a. verbrannten einige ultraorthodoxe Rabbiner dieses Gebetbuch und schlossen Kaplan als Häretiker und Apostat aus dem Judentum aus. Ein symbolischer Akt, der
jedoch keinerlei Auswirkungen auf Kaplan hatte, er war kein Mitglied einer ultraorthodoxen Gemeinde.
Erst 1959 folgte mit der Gründung der Fellowship of Reconstructionist Congregations durch Rabbiner Ira Eisenstein die
Abspaltung von der konservativen Strömung. Jüdischen Gemeinden stand daraufhin die Mitgliedschaft offen, und sie konnten sich rekonstruktionistisch deklarieren, ohne der konservativen Bewegung
anzugehören. Heute heißt die rekonstruktionistische Bewegung Jewish Reconstructionist Federation.
2003 wurde eine rekonstruktionistische Jugendbewegung namens No'ar Hadash gegründet. Mit dieser Jugendbewegung wurde zudem ein rekonstruktionistisches Ferienlager organisiert. Seit 2005 hat das Ferienlager einen festen Sitz in den Pocono Bergen (Pennsylvania). Außerhalb des Sommers dient das Grundstück für Konferenzen anderer rekonstruktionistischer Bewegungen und Gemeinden.
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