Shtetel

 

Ein Shtetl (auch schtetl, jiddisch שטעטל, shtetl; Plural שטעטלעך, shtetlech; deutsch „Städtlein“) ist die Bezeichnung für Siedlungen mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil im Siedlungsbereich der Juden in Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg.

 

Charakter

 

Meist handelte es sich um Dörfer oder Kleinstädte, manchmal auch um Stadtteile, in denen etwa zwischen 1.000 und 20.000 Juden lebten. Größere jüdisch geprägte Städte wie Lemberg oder Czernowitz wurden indes als schtot (שטאָט) (vgl. dt. Stadt) bezeichnet. Geographischer Verbreitungsschwerpunkt der Shtetlech waren Ostpolen, vor allem Galizien, aber auch die Ukraine, Weißrussland und Litauen.

 

Anders als in den Großstädten waren die jüdischen Bewohner in den Shtetlech nicht nur geduldet, sondern ungeachtet bisweilen stattfindender Pogrome weitgehend akzeptiert. Sie konnten sich dort „wie in der heiligen Stadt Jerusalem“ fühlen, waren diese Städtchen doch keine Ghettos: „... sondern wesensmäßig ebenso wie definitionsgemäß das Gegenteil. Ein Städtel war nicht das Anhängsel einer christlichen Gemeinde innerhalb der Bannmeile, nicht ein diskriminierter Fremdkörper innerhalb einer höheren Zivilisation, sondern im Gegenteil, eine scharf profilierte in ihren Grundlagen gefestigte autonome Gemeinschaft mit einer eigenartigen Kultur – dies inmitten von Armut und Hässlichkeit, und eingekreist von Feinden des jüdischen Glaubens. Das Städtel war ein Zentrum, von dem aus gesehen die slawischen Dörfer periphere Agglomerationen waren, deren Einwohner, zumeist Analphabeten, zum Geistigen kaum eine Beziehung hatten. In all seiner Misere war das jüdische Städtchen eine kleine Civitas Dei – geistig und geistlich erstaunlich, in mancher Hinsicht um Jahrhunderte zurückgeblieben, nicht selten abstoßend, aber dennoch bewundernswert, ... Die Juden des Ghettos von Venedig, von Rom oder Worms blieben eine in ihrer eigenen Vaterstadt diskriminierte, exilierte Minderheit, während die Einwohner des Städtels majoritär, also bei sich zu Hause waren; ihre nichtjüdischen Nachbarn, etwa die polnischen Adeligen, mochten mächtig und reich sein und auf sie herabsehen: Die Juden waren jedoch von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt. Im Städtel gab es nicht eine Spur eines Minderwertigkeitsgefühls wegen der Zugehörigkeit zum Judentum und daher nicht die geringste Neigung, das eigene Wesen zu verhüllen oder wie die anderen zu werden.“

 

Die aschkenasischen Juden der Shtetlech sprachen im Alltag zumeist Jiddisch. An ihren religiösen Traditionen hielten sie meist in erheblich höherem Maße fest als ihre Glaubensbrüder in Mittel- oder Westeuropa. Werktags lernten die Kinder im Cheder, am Sabbat und den jüdischen Festtagen waren die meisten Bewohner in der Synagoge, auf jiddisch „Schul“ genannt, anzutreffen, und auch für Kleidung und Haartracht bestanden zahlreiche Vorschriften.

 

In ihrer Sozialstruktur waren die Shtetlech meist durch eine breite Unterschicht aus mittellosen Handwerkern, Kleinhändlern und Taglöhnern geprägt. Häufig herrschte in den Shtetlech unvorstellbare Armut; die Errungenschaften der Aufklärung und des Industriezeitalters waren an ihnen weitgehend spurlos vorübergegangen. Oft fehlt es sogar an Heizung, Kanalisation und befestigten Straßen. Nicht zuletzt aufgrund der verbreiteten messianischen Endzeiterwartung trugen viele Shtetlbewohner ihre prekäre materielle Lage mit Gleichmut. Andere freilich wanderten gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus und trugen so zum heute vergleichsweise hohen jüdischen Bevölkerungsanteil etwa in den Vereinigten Staaten bei.

 

Während Teile der neuen jüdischen Intelligenzija und der Maskilim seit dem 18. und vor allem dem 19. Jahrhundert die Kultur und Lebensweise des Shtetl – bisweilen mit gewisser Verachtung – als rückständig und ein zu überwindendes Ergebnis der Diskriminierung und Ghettoisierung der Juden betrachteten und das Jiddische als eine rückständige Jargon-Sprache ansahen, lernten um die vorletzte Jahrhundertwende einige jüdische Intellektuelle und Schriftsteller diese Kultur schätzen und entwickelten schließlich ein positives, oft verklärendes Bild der nun als „authentisch“ wahrgenommenen jüdischen bzw. jiddischen Shtetl-Kultur. Dem Leben in den Shtetlech wurden vielfach literarische Denkmäler gesetzt, in jiddischer Sprache (Scholem Alejchem, Mendele Moicher Sforim, Isaak Leib Perez, Isaak Schtern) ebenso wie in hebräischer (Samuel Agnon) und in deutscher (Joseph Roth, Karl Emil Franzos). Nach der nahezu vollständigen Vernichtung der Shtetlech und ihrer Bewohner wurde nach der Shoah der positive, häufig verklärende, oft nostalgische Blick auf „die“ Shtetl-Kultur populär.

 

Geschichte

 

Die Geschichte der Shtetlech reicht bis in 12. Jahrhundert zurück, als Bolesław III. Schiefmund vor Verfolgung geflohenen Juden aus Mittel- und Westeuropa die Ansiedlung im polnischen Piastenreich gestattete. In der Folgezeit kam es freilich auch in Polen wiederholt zu Pogromen, denen etliche Shtetlech zum Opfer fielen. Nach den polnischen Teilungen von 1773, 1793 und 1795 gehörten die Shtetlech zu Russland, zu Österreich-Ungarn, einige wenige auch zu Preußen. Vor allem im Zarenreich geriet die Shtetl-Kultur zunehmend unter Druck: So verbot Zar Alexander III. in den sog. Maigesetzen den Juden den Aufenthalt in Ortschaften mit weniger als 10.000 Einwohnern. Auch wirkten sich die Aufstände, Revolutionen und Bürgerkriege des frühen 20. Jahrhunderts ebenso aus wie die nunmehr auch in Osteuropa beginnende Industrialisierung. Völlig ausgelöscht wurden die Shtetlech schließlich durch den Holocaust, dem zwischen 1939–1945 der größte Teil der osteuropäischen Juden zum Opfer fiel.

 

Heute noch mit einem Shtetl vergleichbare Viertel sind Teile von Williamsburg in Brooklyn (New York City) sowie Mea Shearim, nahe der Jerusalemer Altstadt. Hier wird Jiddisch allerdings nur noch von einer Minderheit gesprochen, die meisten Einwohner sprechen auch im Alltag Iwrit (hebräisch).

 

Das Leben im Shtetl

 

Die ostjüdischen ,,Shtetl" waren durch unvorstellbare Armut und Enge gekennzeichnet. Die Juden lebten hier von der übrigen Welt völlig abgeschlossen und verharrten in mittelalterlichen Lebensformen. Die Aufklärung und die Emanzipation der Juden in Westeuropa gingen an den Ostjuden spurlos vorüber. Trotzdem blieb das Shtetl stets ein Ort jüdischen Zusammenhalts. Innigste Frömmigkeit gab auch dem ärmsten Juden Würde und machte das Shtetl zu einem ,,in Lumpen gehülltes Königreich des Geistes". Im Shtetl entstand dadurch eine spezifische jüdische Kultur und Religiosität. Dennoch war für viele die Not erdrückend und versuchten ihr Heil in der Auswanderung ( häufig nach Amerika ) zu finden. Die eigentliche Vaterpflicht der religiösen Erziehung wurde im Shtetl von der armen Bevölkerungsmehrheit oft dem Cheder, einer Art Grundschule überlassen. Jeder Cheder wurde von einem Lehrer, dem Melammed, geleitet und privat finanziert. Das karge Einkommen und die Missachtung dieser Kinderlehrer in der Öffentlichkeit entsprach der oft mäßigen Qualität ihres Unterrichts. Bettelarm und ohne jegliche Ausbildung lehrten sie den Jungen im Alter von 3-15 Jahren ziemlich unsystematisch Abschnitte der Tora im Original und in jiddischer Übersetzung sowie leichtere Talmud-Stellen. Der Schultag dauerte oft acht bis zwölf Stunden, denn vielen Eltern ging es vordergründig um die Beaufsichtigung ihrer Kinder, während sie arbeiten gingen, um für das Wohl der Familie zu sorgen. Nur die Knaben besuchten bis zu ihrer Bar Mizwa den Cheder. Für die Mädchen gab es, jeweils den häuslichen Verhältnissen entsprechend, eine recht unterschiedliche Erziehung, deren Ziel es war, später einen rituell korrekten Haushalt führen zu können. Für Mädchen und Frauen gab es besondere Gebetbücher und Erbauungsliteratur, welche zum größten Teil in Jiddisch geschrieben waren. Außerdem hatten die Frauen einen gewissen Freiraum für weltliche Lektüre. So konnte es vorkommen, dass die Frauen über einen weiteren Horizont verfügten als ihre ,,nur" rabbinisch gebildeten Männer, welche sich ausschließlich den heiligen Schriften widmen sollten. Nach dem Abschluss des Cheders musste entschieden werden, ob der Junge das Talent für ein lebenslanges Studium besitzt oder ob er ins Geschäftsleben eintreten muss. Ist der Junge befähigt für das Studium, kam er auf die Jeschiwa, eine Art theologischer Hochschule, und war nun ein Jeschiwe-Bocher ( ,,Jeschiwa-Junge" ). Nur wenig Eltern konnten das Studium finanzieren. Die Lösung dieses Problems beweist, welchen Stellenwert das religiöse Studium im Shtetl hatte, denn die Gemeinde übernahm nicht nur die Unterhaltung der Jeschiwa, sondern auch die der ärmeren Studenten . Die Ausbildung beschränkte sich fast ausschließlich auf die traditionellen Texte des Talmud und die rabbinischen Gesetzessammlungen. Profane Fächer waren verpönt. Durch die Förderung begabter armer Studenten bestand für sie die Chance eines sozialen Aufstiegs, da die Absolventen der Jeschiwot ein hohes Prestige in den Gemeinden besaßen. Reiche Familien waren durchaus bereit, ihre Tochter mit einem armen, aber gelehrten Mann zu verheiraten und diesem ein lebenslanges Studium zu finanzieren. Weil die Bildung im Shtetl einen hohen Stellenwert einnahm, gehörten die Gelehrten zur Oberschicht, den Schejnen Jidn. Ein idealer Schejner war gelehrt und vermögend; er war wohltätig und sein soziales Verhalten entsprach den Normen der ostjüdischen Kultur. In der Unterschicht, der Proste Jidn, zeigten sich die gleichen Abstufungen wie in der Oberschicht. Die Rangfolge reichte vom selbständigen Handwerker, Kleinhändler, Hausierer und Schankwirt bis hin zu den ärmsten, den Wasser- und Lastenträgern, Musikanten, Totengräbern, Bettlern und den häufig beschriebenen ,,Luftmenschen".

 

Als Schtot zu betrachten sind indes etwa Breslau, Brest, Budapest, Chişinău, Czernowitz, Danzig, Daugavpils (Dünaburg), Glogau, Iaşi, Kaunas, Kiew, Klausenburg, Königsberg, Krakau, Lemberg, Minsk, Odessa, Posen, Prag, Riga, Vilnius, Wien, Wizebsk und Warschau.

 

Als Schtot zu betrachten sind indes etwa Breslau, Brest, Budapest, Chişinău, Czernowitz, Danzig, Daugavpils (Dünaburg), Glogau, Iaşi, Kaunas, Kiew, Klausenburg, Königsberg, Krakau, Lemberg, Minsk, Odessa, Posen, Prag, Riga, Vilnius, Wien, Wizebsk und Warschau.

 

 

Bilder zu Shtetel

 

 

zurück zum Inhaltsverzeichnis