Seit geraumer Zeit ist in Israel in orthodoxen Kreisen ein bemerkenswertes Phänomen zu beobachten: Frauen, die sich von Kopf bis Fuß verhüllen und eine Burka tragen. Als Vorbilder berufen sie sich auch auf die jüdischen Matriarchinnen.
Es ist ein Trend, der mit Ausbruch der Zweiten Intifada im Jahr 2000 einsetzte – unter Musliminnen und Jüdinnen gleichermaßen, als selbst erklärter Ausdruck ihrer Sittsam- und Frömmigkeit. Einige sehen darin gar einen verborgenen Dialog zwischen den Frauen
Es wird geschätzt, dass Frauen in 50 bis 80 Jerusalemer Familien diesem Burka-Trend folgen. Erhebungen aus weiteren ultraorthodoxen Gemeinden, wie etwa in Bnei Brak und Bet Schemesch, liegen bislang nicht vor. Bruria Keren ist Mitglied der umstrittenen Gruppe »Sittsame Frauen« in Bet Schemesch.
Ihre Gegner betiteln sie als »Mutter Taliban«, denn große Teile des orthodoxen Establishments lehnen ihre Interpretationen und die daraus resultierenden Kleiderregeln ab, wovon sich manche orthodoxe Frauen nicht abhalten lassen und ihr nacheifern.
Die Öffentlichkeit labelt sie als »Taliban-Frauen«. Dass sie manchmal vollverschleiert sind, sorgt für Irritationen. So liefen auch Feministinnen Sturm.
Erhöhung Sie selbst hingegen betrachten die von ihnen gewählte Verschleierung als sichtbaren Ausdruck weiblicher Eigenermächtigung und sind überzeugt, ihre Definition von weiblicher Sittsamkeit führe sie zu spiritueller Erhöhung und beschleunige ihre Erlösung. Zu ihrem Outfit gehört ein bis zum Boden fallender schwarzer Umhang, ähnlich dem Tschador der Schiitinnen.
Hammurabi Das Tragen des Gesichtsschleiers hat im Mittelmeerraum und in Mesopotamien, dem heutigen Irak, sowie auf der Arabischen Halbinsel eine lange Tradition. Schon Hammurabi, der König von Sumer und Akad, verfügte in seinem berühmten Gesetzeskodex von 1754 v.d.Z., dass eine verheiratete Frau das Haus nur verschleiert zu verlassen habe.
Das assyrische Gesetz (1500–1200 v.d.Z.) zog eine klare soziale Trennlinie: Nur Frauen der Oberschicht waren verpflichtet, in der Öffentlichkeit einen Schleier zu tragen.
Konkubinen waren erst nach der Eheschließung berechtigt, den Schleier anzulegen. Frauen, die sich unberechtigterweise verschleierten, drohte eine drakonische Strafe: die öffentliche Entkleidung sowie das Abschneiden der Ohren.
Die Veröffentlichung der assyrischen Texte im Jahr 1950 entfachte unter Wissenschaftlern Spekulationen über den Ursprung des Frauenschleiers sowie kontroverse Diskussionen, wann er zum ersten Mal die Bühne der Geschichte betreten hat.
In einem entscheidenden Punkt war man sich allerdings einig: Die hebräische Bibel beinhalte kein Gebot, das jüdische Frauen verpflichtet, einen Schleier zu tragen.
Nur an wenigen Stellen findet eine Verschleierung Erwähnung: in der Beschreibung in der Tora, wie sich Riwka selbst verschleiert, als sie Jizchak, ihrem späteren Ehemann, begegnet (1. Buch Mose 24,65), und in der Geschichte von Jehuda und Tamar. Tamar legt den Schleier an, um ihre wahre Identität zu »verschleiern« (38, 5–14).
Ein Schleier wird auch im Buch Jeschajahu erwähnt: Der Prophet wirkte in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v.d.Z. Er kritisierte König Hiskijahu für dessen Bündnispolitik mit den Ägyptern, um die assyrische Oberherrschaft abzuschütteln, und sagte die Zerstörung Jehudas und Jerusalems voraus. Zudem beschreibt Jeschajahu das bittere Schicksal der »Töchter von Zion, die hochmütig sind und mit ausgestrecktem Hals umher stolzieren« (3,16). Sie werden am Tag der Zerstörung ihres Schmuckes beraubt werden, inklusive »der Ohrringe und Armbänder und Schleier« (3,19).
Im Jahr 1954 stellte der britische Wissenschaftler Emile Marmorstein (1909–1983) in seinem Artikel »Veil in Judaism and Islam« die Behauptung auf, der Schleier sei bereits in der vorislamischen Epoche auch unter Jüdinnen weit verbreitet gewesen.
Marmorstein stützte sich bei seiner These auch auf die Dichtkunst und Poesie aus der Zeit der »Dschahaliya« (Arabisch für »Unwissenheit«, »Ignoranz«, bezogen auf die Zeit des altarabischen Heidentums vor dem Islam).
Bei dem Gelehrten lesen wir folgende Schilderungen: »In den Synagogen von Bagdad, vor der Auflösung der historischen Gemeinde, war der Frauenbereich gefüllt mit verschleierten und schwer behangenen Gestalten, die meisten von ihnen in Schwarz, einige der älteren Frauen im ‹Iszar, einem voluminösen, schweren safranfarbenen Gewand, das sie vom Kopf bis zum Fuß bedeckte. Die Augen bedeckt von einem ›hailiyi‹, ›haili‹ gesprochen im jüdischen Dialekt.«
Ferner heißt es bei Marmorstein, Jüdinnen und Christinnen hätten ihre farbigen und verzierten Umhänge abgelegt und stattdessen die schlichte ‹Aba, den schwarzen Umhang ihrer Schwestern des herrschenden islamischen Glaubens, angenommen, als Zeichen der nationalen Einheit, mit Ausnahme der älteren Frauen. Laut seiner Quellenlage weigerten sie sich beharrlich, die ‹Aba der Musliminnen zu tragen.
Marmorstein folgerte, dass der Schleier oder das Tragen eines Umhangs per se nicht als Symbol für gesellschaftliche Assimilation gedeutet werden kann.
Im 12. Jahrhundert schrieb Maimonides, der Rambam, in seinem halachischen Werk Mischne Tora über das Brauchtum sittsamer Frauen: »Wenn eine Frau eine der folgenden Handlungen ausführt, wird es als Verstoß gegen den jüdischen Glauben angesehen: Sie geht auf einen Marktplatz oder in einen Weg mit Öffnungen zu beiden Seiten, ohne ihr Haupt (vollkommen) zu bedecken. Das heißt, ihr Haar ist bedeckt mit einem Kopftuch, aber nicht mit einem Umhang, wie ihn die Nichtjuden tragen.«
Als der Rambam diese Zeilen schrieb, lebte er in Ägypten, also in einem muslimisch dominierten Umfeld. Rabbi Josef Karo (1488–1575) stimmte in seinem halachischen Werk, dem Schulchan Aruch, mit dem Rambam überein.
Auch wenn das Gebot der Vollverschleierung nicht Einzug in die Halacha gefunden hat, akzeptierten Jüdinnen sie vielerorts als soziale Norm ihres Umfelds, als Sitte oder auch Tradition, die bisweilen von Rabbinern propagiert wurde.
Um ihre Position zu untermauern, verteilen in Israel die »Sittsamen Frauen« und ihre Unterstützer Flugblätter und plakatieren ihr Umfeld mit Bildern. Diese Aktionen sollen ihre Auslegung der Schriften untermauern.
Der romantisierende Blick westlicher Besucher des Heiligen Landes zwischen dem 18. und frühen 20. Jahrhundert lehnte sich in Schilderungen und Darstellungen allerdings stark an die Trachten der ortsansässigen Araberinnen, vornehmlich der Beduininnen, an. Unbeirrbar sind die Frauen davon überzeugt, dass die jüdische Nation fortbesteht, weil sie weder ihren Namen noch Sprache oder Kleidung (Hebräisch: Schem, Laschon, Malbusch) ändern. Die Wortanfangsbuchstaben bilden die hebräische Wurzel von »schalem«, das mit »vollständig«, »unversehrt« übersetzt werden kann.
Das Konzept von »schalem« geht auf Akiva Yosef Schlesinger (1838–1922) zurück, einen angesehenen orthodoxen Rabbiner, der in Pressburg lebte, dem heutigen Bratislava.
Schlesinger ist Autor des Buches Lev Ha-Ivri (»Das hebräische Herz«), in dem er den letzten Willen von Rabbi Mosche Schreiber, dem Chatam Sofer, kommentiert. Schlesinger erhöhte das Thema sittsame Kleiderordnung zu einer zentralen Lebensregel, weil sie der Bewahrung der jüdischen Identität und Religion diene.
Die Nachahmung ihrer biblischen Vorbilder betrachten die orthodoxen Jüdinnen nicht als Bruch des halachischen Verbots des Tragens von Kleidern der nichtjüdischen Bevölkerung.
Unterstützung ihrer Position finden sie bei Ovadia Yosef (1920–2013), dem ehemaligen sephardischen Oberrabbiner Israels, und dessen Responsen. Darin ist unter anderem zu lesen: »Die arabischen Frauen haben von unseren Matriarchinnen gelernt.«
Die modern-orthodoxe Jerusalemer Rabbinerin Rahel Berkovits sagt, jüdische Frauen, die eine Burka tragen, spiegelten nicht die normative Halacha wider. »Ein unverschleiertes Frauengesicht wird halachisch nicht als ‹Erva, als ›Nacktheit‹, angesehen.«
Berkovits beruft sich in ihrer Argumentation auch auf den Rambam: »Er sagt, es sei die normative, die übliche Praxis als Ausdruck der ›Bescheidenheit‹ für die ›Töchter Israels‹, mit einem Schleier in die Öffentlichkeit zu gehen«. Dies sei damals, zu seiner Zeit, die gesellschaftliche Regel des muslimischen Landes gewesen, in dem er lebte.
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