Die Angst vor dem "polnischen Virus"

 

 

Die Angst vor dem „polnischen Virus“

 

 

 

Von Michael Kubina, 13., 14., 15. und 16. Dezember 2021

 

Auf den Tag genau vor 40 Jahren verhängte der polnische General und Chef der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) Wojciech Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht. Panzer fuhren auf gegen Arbeiter, Intellektuelle und Priester, gegen das ganze Volk. Das Symbol der Bewegung, die Gewerkschaft Solidarność, wurde verboten und tausende von Aktivisten inhaftiert und in Lager gesteckt. Die mehr als einjährige faktische Doppelherrschaft von Solidarność und kommunistischer Partei war beendet. Jeder dritte erwachsene Pole war damals Mitglied der nun verbotenen Solidarność. Vorausgegangen waren der Ausrufung des Kriegsrechts 15 Monate permanenten Druckaufbaus gegenüber der kommunistischen Führung in Polen durch Moskau und die anderen Ostblockstaaten, vor allem aber durch die SED. Ost-Berlin richtete nicht nur, wie die Führung in Moskau, an die polnischen Kommunisten den dringenden Appell „hart und kompromisslos durchgreifen“, sondern drängte auch Moskau selbst zum militärischen Eingreifen – unter Beteiligung der ostdeutschen Armee.

 

Im August 1980 hatten die streikenden Arbeiter auf der Danziger Leninwerft  Partei und Staat an den Verhandlungstisch gezwungen. Mit einem riesigen Kugelschreiber mit dem Foto des polnischen Papstes Johannes Paul II. unterschrieb der Elektriker Lech Wałęsa das Abkommen zwischen den streikenden Arbeitern und der Regierung. Diese verpflichtete sich, eine von Partei und Staat „unabhängige, sich selbst verwaltende Gewerkschaft“ zuzulassen. Das Bild mit dem Kugelschreiber wurde zu einer Ikone des 20. Jahrhunderts und des Kampfes um nationale Selbstbestimmung der Völker Ost- und Mitteleuropas. Heute stockt man fast beim Schreiben des Begriffspaares „nationale Selbstbestimmung“. Damals war es ein grundlegender und formal unstrittiger Bestandteil des Völkerrechts. Auf ihn beriefen sich nicht nur die oppositionellen Gruppen im Ostblock, sondern auch die antikolonialen Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“.

 

Die Friedhofsruhe des polnischen Kriegsrechts hielt nicht lang. Keine acht Jahre später brach das sowjetische Imperium zusammen. Polen bekam eine Regierung unter Beteiligung der wieder zugelassenen Solidarność. Wenig später fiel die Mauer in Berlin. Die Wiedervereinigung Deutschlands schon ein Jahr später ist ohne Polen und Solidarność schwer erklärbar. Der Solidarność-Führer Lech Wałęsa wurde in freien Wahlen zum Präsidenten eines neuen und unabhängigen Polen gewählt.

 

„Mehr Härte wagen“

 

Nicht ganz 41 Jahre nach dem Danziger Abkommen verhängte der Europäische Gerichtshof auf Antrag der EU-Kommission ein Zwangsgeld von 1 Million Euro pro Tag gegen Polen, weil und solange Polen die umstrittenen Teile seiner Justizreform nicht zurücknimmt. Kurz zuvor hatte das polnische Verfassungsgericht entschieden, dass Teile des EU-Rechts gegen die Verfassung Polens verstoßen und dass EU-Recht nur da Vorrang vor polnischem Recht habe, wo Polen die entsprechenden Kompetenzen in Verträgen und Abkommen explizit der EU zugestanden habe.

 

Gabor Steingart traf mit seinem Morgenkommentar den Ton, den viele deutsche Medien und auch etliche Leserkommentare anschlugen: „Polen: Mehr Härte wagen“. Er spielte auf die geostrategische schwierige Lage und die wirtschaftliche Abhängigkeit Polens von der EU und Deutschland an, benannte in fünf Punkten, warum die „neue Bundesregierung nahezu risikofrei eine entschlossenere Haltung gegenüber Polen einnehmen kann“. Polen, so sein Fazit, solle „nicht unterdrückt, nur demokratisch erzogen werden.“ US-Pädagogen rieten, so Steingart weiter in väterlichem Ton, „im Umgang mit Problemkindern übrigens nicht zur Moderation, sondern zur Strenge.“

 

Geschichtsvergessenheit wäre wohl eine zu harmlose Erklärung für einen solchen Blick auf Deutschlands östlichen Nachbar, geht doch Steingart in seinem Kommentar gerade auf Spezifika der deutsch-polnischen Geschichte ein. Mit seiner „Empfehlung“ an die neue Bundesregierung spielt er zudem auf das Symbol der neuen deutschen Ostpolitik vor 50 Jahren an. Willy Brandt hatte damals die Wahlen mit dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“ und der Forderung nach einer „neuen Ostpolitik“ gewonnen. Grundlage der Ostverträge vom Anfang der siebziger Jahre war die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik und die Strategie des „Wandels durch Annäherung“. Die „Ostgebiete“ waren jetzt auch formal „abgeschrieben“. Neuer deutscher Größenwahn und Zynismus beschreiben wohl besser, was jetzt fast ein halbes Jahrhundert später die Feder Steingarts führte und ihm diesen Ton und die Anspielung auf die Ostpolitik Brandts geraten erscheinen ließen.

 

„Mehr Härte wagen“ forderte 1980 auch die SED von Moskau und Polens Führung. Wir dürfen Steingart wohl zubilligen, dass ihm das nicht präsent war. Es gibt möglicherweise einfach eine gewisse geistige Nähe, die eben zu ähnlichen Formulierungen und Ratschlägen führt. Steingart verweist auf die tiefe Verwurzelung von „Nationalstolz und Katholizismus“ bei den Polen. Jedes Volk hat seine Wurzeln.

 

„Angst, dass es in der DDR auch zu Schwierigkeiten kommt“

 

Ironie der Geschichte, war es auch damals ein polnisches Gerichtsurteil, das für Honecker & Co. das Fass zum Überlaufen brachte und ihn, wie Steingart heute, „mehr Härte“ gegenüber Polen fordern ließ.

 

Nicht einmal einen Monat nach der Unterzeichnung des Danziger Abkommens  legte die ZK-Abteilung Internationale Verbindungen bereits eine umfangreiche Analyse der Lage in Polen vor, die unter anderem auch eine „Vergleichende Einschätzung der Programme und Forderungsdokumente der antisozialistischen Kräfte in der VR Polen und in der ČSSR 1968“ enthielt. Für Honecker und das Politbüro war klar, dass die PVAP vor der Konterrevolution kapituliert hatte und eine militärische Intervention nach dem Muster von Prag 1968 in den Blick genommen werden musste. Er war fassungslos über die Entwicklung in Polen und irritiert von der Zurückhaltung Moskaus. Als am 11. November 1980 Polens Oberstes Gericht die Gewerkschaft „Solidarność“ zuließ, ohne dass die „führende Rolle der PVAP“ von der Gewerkschaft anerkannt werden musste, war für ihn jenes Maß an „Kapitulantentum“ in der PVAP erreicht, das ein Eingreifen von außen unabdingbar erscheinen ließ. Zwei Tage später meinte Staatssicherheitschef Erich Mielke in einem vertraulichen Gespräch mit dem Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph, Honecker seien “die Ereignisse in Polen in die Knochen gefahren. Er hat Angst, dass es in der DDR auch zu Schwierigkeiten kommt“, habe Honecker doch „fest damit gerechnet […], dass die Sowjetunion in Polen einmarschiert.“

 

Am 26. November wandte sich Honecker schließlich mit einem Brandbrief, zu dem er sich schon Ende September vom Politbüro die Vollmacht hatte geben lassen, an Moskau. Er appellierte an Breschnew, „dass wir uns für einen Tag in Moskau treffen gleich nach der Tagung des ZK der PVAP, deren Beschlüsse, nach unserer Vorstellung, die Entwicklung der Ereignisse in Polen nicht mehr gründlich werden ändern können.“ Auf dem Treffen sollten „kollektive Hilfemaßnahmen für die polnischen Freunde bei der Überwindung der Krise“ ausgearbeitet werden. „Kollektive Hilfemaßnahmen“ stand seit Prag 1968 für die militärische Intervention. „Gestern“, so Honecker in dem Brief, „wären unsere gemeinsamen Maßnahmen vielleicht vorzeitig gewesen, heute sind sie notwendig, aber morgen können sie schon verspätet sein.“ Breschnew stimmte zu. Für den 5. Dezember wurde eiligst ein geheimes Treffen der führenden Vertreter der Warschauer Vertragsstaaten einberufen, zwei Tage zuvor trafen sich bereits die Verteidigungsminister.

 

„Einsatz innerhalb von 48 Stunden“

 

In der Nacht vom 27. zum 28. November um 1.00 Uhr meldete der Militärattaché bei der DDR-Botschaft in Warschau, das PVAP-Politbüro habe beschlossen, „bei Verschlechterung der Lage den Ausnahmezustand zu verkünden“. Noch am selben Tag könne damit gerechnet werden. Generaloberst Fritz Streletz, Stellvertreter des DDR-Verteidigungsministers und Chef des Hauptstabes der NVA, reichte die Meldung umgehend an Verteidigungsminister Heinz Hoffmann weiter mit dem Vorschlag „im Interesse einer schnellen Reaktion auf die mögliche Verkündung des Ausnahmezustandes“ sofort zu einer verschärften Grenzsicherung überzugehen und „die stabsmäßige Formierung der zum Einsatz vorgesehenen 3 Bataillonsstäbe und 9 Grenzkompanien vorzubereiten mit dem Ziel, dass ihr Einsatz […] innerhalb von 36–48 Stunden“ nach Erteilung des Befehls durch Hoffmann erfolgen könne. Am Morgen trat das Politbüro zu einer Sondersitzung zusammen –  zum ersten und letzten Mal in seiner Geschichte im Sitz des DDR-Verteidigungsministeriums in Strausberg. Einziger Tagesordnungspunkt war die Lage in Polen. Das Politbüro bevollmächtigte Honecker, „in Abstimmung mit dem ZK der KPdSU notwendige Maßnahmen zu treffen.“

 

Hoffmann meldete am 30. November, wieder unter Berufung auf den DDR-Militärattaché, „dass führende Genossen der PVAP die Meinung vertreten, dass eine Konfrontation mit der Konterrevolution immer unvermeidbarer werde und sie dabei Hilfe von außen erwarten“. Honecker konnte sich bestätigt sehen. Der Gegenschlag schien unmittelbar bevorzustehen. Am 1. Dezember traf Generaloberst Stechbarth in Begleitung weiterer NVA-Offiziere mit einer Sondermaschine in Moskau ein. Noch am selben Tag wurden die Vertreter der NVA, der tschechoslowakischen und der polnischen Armee in die „gemeinsame Ausbildungsmaßnahme […] auf dem Territorium der VR Polen“ eingewiesen. Die nationalen Kommandos hatten „die Bereitschaft bis 08.12.1980, 00.00 Uhr, zur Teilnahme an der Übung herzustellen, die Übungsunterlagen vorzubereiten und auf Signal mit den Handlungen zu beginnen.“ Zur Vorbereitung auf die Übung war unter anderem die „verstärkte politische Arbeit unter den Armeeangehörigen“  sowie die „Mobilmachung bzw. Einberufung von Politstellvertretern für die Panzerkompanien, medizinischem Personal, Kräften für die Feldbäckereikompanie und andere Sicherstellungseinheiten, juristischem Personal für die Militärstaatsanwaltschaft und das Militärgericht“ vorgesehen. Zudem sollten die SED-Chefs der Grenzbezirke, der Innenminister und der Chef der Volkspolizei in die Maßnahme eingewiesen werden. Am 2. Dezember ließ sich Honecker vom Politbüro bevollmächtigen, „die sich aus der Situation ergebenden erforderlichen Maßnahmen zu treffen“.

 

„nach Erhalt des Signals ‚WINTERMARSCH‘“

 

Doch in Moskau hatte es, von Honecker anscheinend zunächst unbemerkt, einen Meinungswechsel gegeben. Die Entscheidung gegen einen militärischen Einmarsch zu diesem Zeitpunkt war bereits am Vorabend gefallen. Über die ausschlaggebenden Gründe für diesen abrupten Meinungswechsel in der sowjetischen Führung gibt es bis heute keine eindeutigen Informationen. Neben der Bereitschaft des polnischen Parteichefs Stanislaw Kania, das Kriegsrecht im Lande zu verhängen, dürfte es die Einschätzung der internationalen Lage durch Moskau gewesen sein.

 

Zum Entsetzen Honeckers sollte es noch ein Jahr dauern, bis Jaruzelski schließlich das Kriegsrecht verhängte. In den kommenden Monaten drängte Honecker Moskau immer wieder zu einem härteren Vorgehen gegenüber Polen und darauf, dass „Marxisten-Leninisten“ die Führung der PVAP übernehmen. Er setzte insgeheim weiter auf Intervention, deren mögliche weltpolitische Folgen für ihn anscheinend von sekundärer Bedeutung waren. Polen „werde auf keinen Fall preisgegeben“, versicherte er im September bei einem Kurzbesuch in Kuba gegenüber Fidel Castro. Als dieser die Möglichkeit einer Blockade Kubas durch die USA im Falle einer Intervention in Polen ins Spiel brachte, tönte Honecker: „Dann werden wir die Blockade durchbrechen.“

 

Ein gewisser Größenwahn scheint ein partei- und systemübergreifendes Symptom deutscher Politik zu sein. Auch Honecker war damals fest davon überzeugt, dass wenn schon nicht die Welt, so doch Polen und das östliche Bündnis am deutschen Wesen genesen könnte. Bei einem Treffen mit Kania am 17. Februar 1981 bot er für nahezu alle Probleme in Polen Lösungen entsprechend dem DDR-Vorbild an: Die Arbeiter werden durch die Übergabe von „Interhotels“ an die Gewerkschaften befriedet, die Versorgungsprobleme  in der Landwirtschaft durch eine Kombination kollektivierter, großflächiger Landwirtschaft und blühendem Schrebergartenwesen gelöst etc. etc. Selbst aus den Gesprächsvermerken der SED gewinnt man den Eindruck, dass Honecker von Kania und anderen Ostblockführern nicht ganz ernst genommen wurde. Unter Bezug auf seine Erfahrungen mit dem 17. Juni 1953 und offensichtlich ebenfalls als Empfehlung an Kania gemeint sagte er: „Man habe eine Reihe von ihnen standrechtlich erschossen. Dies habe viele Menschen zum Nachdenken veranlasst.“

 

„Eine sozialistische Zukunft oder gar keine“

 

Moskau verschärfte zwar in den kommenden Monaten den Druck auf Polen, zog aber ein militärisches Eingreifen von außen kaum noch in Betracht. Es bot wirtschaftliche Unterstützung an und verwies gleichzeitig für den Fall, dass Polen das sozialistische Lager verlasse, auf die hohen und fälligen Schulden Polens bei der Sowjetunion. Nach dem, was wir heute wissen, spricht vieles dafür, dass Moskau eine militärische Intervention um fast jeden Preis vermeiden wollte und ein Einmarsch in Polen selbst bei einer Machtübernahme durch Solidarność nicht zwangsläufig gewesen wäre. Honecker polterte dagegen gegenüber dem Chef der KP der USA, Gus Hall: „Polen hat entweder eine sozialistische Zukunft oder gar keine.“ Honecker hatte dabei aber durchaus im Blick, dass dies noch mehr als für Polen für die DDR galt. Die wirtschaftliche Unterstützung Moskaus für Polen ging durchaus und massiv auch zu Lasten der DDR. Er sah die Existenz seines „sozialistischen Deutschland“ offenbar akut gefährdet und schlug Moskau, so könnte man sagen, eine „ever closer Union“ vor: „Wenn es notwendig ist, bilden wir doch eine Weltunion der sozialistischen Länder. Die DDR würde sich daran beteiligen.“ Mit anderen Worten: Honecker bot an, aus der DDR eine reguläre Sowjetrepublik zu machen.

 

Außerhalb der obersten politischen und militärischen Führungen der Staaten des Warschauer Paktes wusste jedoch damals niemand etwas von der Entscheidung Moskaus vom Anfang Dezember 1980, vorerst nicht einzumarschieren, und schon gar nicht, dass in der Moskauer Führung in den kommenden Monaten grundsätzlich die Überzeugung wuchs, dass das Problem Polen mit einer militärischen Intervention nicht zu lösen war. Die militärische Drohkulisse blieb trotzdem erhalten. Der Spiegel titelte damals gar „Aufmarsch gegen Polen“. Unter Berufung auf „amerikanische Militärkreise“ meldete die US-Fernsehgesellschaft ABC, 60 Generäle und 200 Offiziere der polnischen Armee hätten in einem Schreiben an das ZK der PVAP mit Widerstand gedroht, falls NVA-Truppen in Polen einmarschieren würden. In und um Polen wurde ein Militärmanöver nach dem anderen durchgeführt, und der Befehl 118/80 des DDR-Verteidigungsministers für die als „gemeinsame Ausbildungsmaßnahme“ getarnte Intervention wurde nicht aufgehoben. Im Gegenteil, nach seiner Rückkehr aus Moskau erließ Honecker am 10. Dezember 1980 in seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates mit „sofortiger Wirkung“ und „bis auf Widerruf“ Befehl Nr. 15/80, mit dem er die Einmarschvorbereitungen durch die Militärs absegnete und sich selbst den Einsatzbefehl vorbehielt. Alles war vorbereitet, um „nach Erhalt des Signals ‚WINTERMARSCH‘“ innerhalb von drei Stunden in Polen einmarschieren zu können. In einem umfangreichen Dossier im Militärarchiv finden sich die entsprechend vorbereiteten Befehle. Nur Datum, Uhrzeit und Unterschrift fehlen noch. Erst im April 1982 kam aus Moskau die Weisung, „alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Lageentwicklung in der VR Polen in den Vereinten Streitkräften vorbereitet und durchgeführt wurden, aufzuheben“. Erst jetzt wurde auch der Befehl 118/80 über die „gemeinsame Ausbildungsmaßnahme“ für die NVA außer Kraft gesetzt, mehr als drei Monate nach Ausrufung des Kriegsrechts durch Jaruzelski.

 

„Die Polen müssen mal merken, was Ordnung ist“

 

In der für den Einmarsch vorgesehenen 9. Panzerdivision war das Selbstverständnis ganz im Sinne der SED- und NVA-Führung. Man sah sich als Eliteeinheit, die von der Führung die Aufgabe übertragen bekommen hatte, im Ernstfall „in Polen den Sozialismus zu retten“.

 

Überlegenheitsgefühle gab es nicht nur gegenüber anderen NVA-Truppenteilen und -Einheiten, sondern auch gegenüber „den Polen“. Hans-Joachim Jentzsch, damals junger NVA-Offizier, inzwischen Offizier der Bundeswehr, erinnert sich an ein Gespräch mit einem Soldaten, der meinte: „Jetzt reicht’s, jetzt gehen wir da rein. Die Polen müssen mal merken, was Ordnung ist.“ Das sei in seinen Augen schon „heftig hart“ gewesen. Aber auch er sah sich als Elitesoldat, war bis 1989 überzeugt vom Sozialismus und seiner Aufgabe als Soldat. Zwar erinnert er sich an ein „mulmiges Gefühl“ angesichts der Gefahr eines Partisanenkriegs. In Polen gäbe es ja noch Leute, die wüssten wie das gehe. Ethische oder moralische Bedenken, etwa in Anbetracht der Tatsache, dass deutsche Truppen 1939 schon einmal unter einem Vorwand in Polen einmarschiert waren, plagten ihn aber kaum. Belastender waren da schon die andauernden Ausgangsbeschränkungen. Jentzsch sorgte sich um seine hochschwangere Frau, für die er nicht da sein konnte, aber nicht um Polen und dessen Freiheit. Auch Thomas Meier, Hubschrauberpilot, verspürte damals angesichts der Ungewissheit ein „gewisses Gefühl von Angst“, hatte er doch für seine Aufklärungsflüge seinen Kampfsatz an Munition ausgehändigt bekommen. Doch als junger Mensch habe er „cool“ bleiben wollen und sich gesagt, „das kriegen wir doch in den Griff hier“. Die Anspannung blieb erhalten, da die Befehle nicht aufgehoben wurden: „Wir konnten ja jederzeit losfahren Richtung Osten“. Jentzsch spricht noch drei Jahrzehnte später flapsig von „losfahren“, nicht etwa davon, dass ein Angriffskrieg begonnen worden wäre. Soldatensprache als Verdrängungshilfe – „Mehr Härte wagen“.

 

Trotz intensiver politisch-ideologischer Arbeit in der Armee und besonders im „Einsatzverband“ war die „Einsatzbereitschaft“ aber wohl nicht durchgehend vorhanden. Generaloberst Heinz Kessler, damals stellvertretender Verteidigungsminister und Chef der Politischen Hauptverwaltung, musste im November 1981 vor NVA-Führungskräften einräumen: „Bei einem geringen Teil unserer Soldaten und Unteroffiziere gibt es hinsichtlich der Bereitschaft, ein Bruderland gegen Konterrevolution militärisch zu unterstützen, noch Vorbehalte. Sie sehen in solchen Handlungen eine Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder, die einen neuen Weltkrieg auslösen können. Deshalb, so meinen sie, solle die DDR nur mit friedlichen Mitteln Solidarität üben. Solche Auffassungen verdeutlichen, dass wir in der internationalistischen Erziehung die militärischen Konsequenzen des proletarischen Internationalismus noch wirksamer propagieren müssen.“ Ausgehend von einer „soziologischen Untersuchung“ unter Jagdfliegern wird geschätzt, dass es unter Offizieren bei etwa einem Viertel solche Vorbehalte gegeben hat, unter Unteroffizieren und Soldaten bei etwa einem Drittel. Expliziter Widerspruch gegen eine mögliche Intervention war allerdings die absolute Ausnahme, zumindest unter den Offizieren. Es sind ganze vier Fälle bekannt, in denen Offiziere sich gegen die SED-Politik gegenüber Polen und vor allem die Interventionsplanungen aussprachen. Ein Offizier des Aufklärungsbataillons der 9. Panzerdivision erklärte sogar, Befehle zur Erfüllung von Gefechtsaufgaben an der Grenze zu Polen zu verweigern. Alle vier wurden zum Soldaten degradiert und, sofern sie auch SED-Mitglied waren, aus der Partei ausgeschlossen.

 

Exemplarisch ist der Fall von Oberstleutnant Klaus Wiegand. Er war 1956 Soldat geworden und in die SED eingetreten. In der NVA machte Wiegand eine Bilderbuchkarriere. Zuletzt lehrte der Diplom-Historiker an der Militärpolitischen Hochschule in Grünau. Er schildert sich selbst als einen damals „der Sache des Sozialismus treu ergebene[n] Offizier“. Im Frühjahr 1981 erkannte er im Rahmen der Übung „Sojuz-81“, dass offenkundig Vorbereitungen für eine militärische Lösung der Krise in Polen getroffen wurden. Er war entsetzt, hätte eine Intervention aus seiner Sicht doch einen Dritten Weltkrieg auslösen können. Hinzu kam, dass er in der Solidarność-Bewegung nicht in erster Linie die Konterrevolution erblickte, sondern sie als legitime Demokratiebewegung verstand. Wiegand wollte an der Hochschule über seine Besorgnis reden, setzte, wie er sagt, „auf das kritische Denken anderer Offiziere, wollte ihnen vor Augen führen, wohin diese Eskalation steuern würde.“ Dass er sich dabei auf die „Klassiker des Marxismus/Leninismus“ berief, machte die Sache offenbar noch schlimmer. Ein Offizier rief „Verrat“, und kurz darauf wurde er aufgefordert, seine Waffe abzugeben und wurde vom Dienst suspendiert. Offiziere, mit denen er jahrelang freundschaftlich verkehrt hatte, grüßten ihn nicht mehr. Jene Offiziere, die seine Lehrveranstaltungen besucht hatten, wurden einer Überprüfung durch die Staatssicherheit unterzogen. Es folgten demütigende Prozeduren, sein Parteiausschluss und am 10. Juli 1981 die Degradierung zum Soldaten wegen „kapitulantenhafter Einstellung“ gegenüber der Entwicklung in Polen. Er verlor seine Lehrberechtigung und wurde aus der NVA ausgeschlossen. Erst nach mehrmonatiger Arbeitssuche fand er eine Anstellung im Zivilbereich, als Lagerarbeiter im VEB Getränkekombinat in Berlin-Weißensee. Wiegand blieb unter MfS-Beobachtung. 1990 wurde er rehabilitiert, gebracht hat es ihm nicht mehr viel. Dafür wurde er durch einen Staatsekretär aus dem Rainer Eppelmann unterstehenden Ministerium für Abrüstung und Verteidigung, da er sein Verhalten dem seiner Offizierskameraden gegenübergestellt hatte, am 6. Juni 1990 folgendermaßen belehrt: „Eine pauschale Verurteilung derer, die sich und ihre Dienstpflichten in einem insgesamt untauglichen Gesellschaftssystem verwirklicht haben, muss ich […] zurückweisen.“ Pensionsansprüche, so teilte ihm später das Bundesverteidigungsministerium mit, habe er nur für die tatsächlich geleisteten NVA-Dienstjahre. Wäre er der SED treu geblieben bis zum Schluss, wie fast alle NVA-Offiziere, hätte er vielleicht wie Hans-Joachim Jentzsch seine Karriere noch in der Bundeswehr fortsetzen können und bezöge jetzt eine auskömmliche Pension.

 

Dass die SED-Führung die Entwicklung in ihrem östlichen Nachbar- und Bruderland nicht gerade mit Wohlwollen begleitete, dürfte kaum überraschen. Aber auch in der Bundesrepublik herrschte damals wenig Begeisterung darüber, dass in einem ost-mitteleuropäischen kommunistischen Staat die Machthaber von einem Bündnis von Arbeitern, Intellektuellen und katholischer Kirche massiv herausgefordert wurden. Die weltpolitische Lage war ohnehin schon auf das äußerste gespannt.

 

1975 erreichte der Entspannungsprozess mit der Schlussakte von Helsinki ihren Höhepunkt. Wie jedoch fast jeder historische Prozess, war auch dieser der Dialektik der Geschichte unterworfen. Die Wirkung der Schlussakte war durchaus zwiespältig. Einerseits zementierte die Schlussakte scheinbar den Status quo in Europa. Andererseits bot Helsinki mit dem sogenannten Korb III wichtige Bezugspunkte für die sich entwickelnde Menschen- und Bürgerrechtsbewegung im sowjetischen Machtbereich.

 

Auch die deutsch-deutschen Beziehungen machten in diesem Rahmen kleine Fortschritte. Die der SED-Führung abgerungenen „menschlichen Erleichterungen“ zeigten aber politische Wirkungen, die zumindest seitens der SED nicht gewollt waren.  Hier nur einige Stichworte für Entwicklungen, die nicht nur auf Helsinki zurückzuführen waren, aber doch in einem Zusammenhang mit dem Entspannungsprozess in Europa und auf deutsch-deutscher Ebene standen und für die sich verstärkenden gesellschaftlichen Widersprüche in der DDR stehen mögen: die Biermann-Ausbürgerung mitsamt ihren Folgen, die Selbstverbrennung von Pastor Brüsewitz aus Protest gegen die SED-Kirchenpolitik und die Haltung der eigenen Kirchenleitung, der sich formierende Widerstand gegen die Einführung des Wehrkundeunterrichts an den Schulen der DDR etc.

 

Solche und ähnliche Nebenwirkungen von Helsinki waren aber auch von der sozialliberalen Bundesregierung nicht angestrebt worden. Jedenfalls wurde nicht versucht, solche Entwicklungen zu forcieren. Die kommunistischen Diktatoren sollten zwar zur Gewährung „menschlicher Erleichterungen“ ermuntert werden. Wir, der Westen, sind an Destabilisierung bei Euch aber überhaupt nicht interessiert, wurde dem Osten immer wieder signalisiert.  Anfangs geschah dies sicherlich, um die unsicheren Ostblockführer zur Gewährung von mehr Freiheiten zu „ermutigen“. Mit der Zeit mutierte aber das Mittel, nämlich die westliche Zusicherung von Sicherheit, um im Innern mehr Freiheiten zu ermöglichen, zum Ziel: Stabilität, um den Entspannungsprozess - was immer er auch bedeutete - auf keinen Fall ins Stocken kommen zu lassen. Jedenfalls war im Konzept der Ostpolitik nicht vorgesehen, dass die kommunistischen Diktaturen durch die ihre Unmündigkeit ablegende Bürger zu Zugeständnissen genötigt werden.

 

„Verhängnisvolle Fehleinschätzung“

 

 1978, ein gutes Jahr nach der Biermann-Ausbürgerung, als sich in Zusammenhang mit der Einführung des Wehrkundeunterrichtes an allgemeinbildenden Schulen der DDR neues Unruhepotential bildete und eine unabhängige Friedensbewegung und Strukturen einer politischen Opposition sich zu entwickeln begannen, warnte Bundeskanzler Helmut Schmidt offen vor den Folgen einer solchen Entwicklung.

 

Man muss bei den im folgenden zitierten Ausführungen des Bundeskanzlers vor dem Bundestag sicherlich berücksichtigen, dass die Erinnerung an die sowjetische Intervention in der Tschechoslowakei 1968, die gewaltsame Niederschlagung des „Prager Frühlings“, noch frisch war. Andererseits war der Entspannungsprozess zu dem Zeitpunkt weder von Afghanistan noch von Polen belastet. Schmidt führte damals aus, dass „eine schwere innere Krise in der DDR, auf die offenbar manche gerne spekulieren möchten, besonders in der Opposition [der Bundesrepublik, M.K.], [uns] der staatlichen Einheit unseres Volkes keinen Zentimeter näherbringt[ ...] Erwartungen einer krisenhaften inneren Entwicklung in der DDR, etwa mit der Folge eines politischen Umschwungs, entspringen einer verhängnisvollen Fehleinschätzung der dort bestehenden tatsächlichen Gegebenheiten und Machtverhältnisse. Niemand sollte die Opfer an Menschenleben vergessen, die eine derartige Fehleinschätzung schon gekostet hat.“ Gemeint waren ja von Schmidt wohl Prag 1968, Ungarn 1956 und der 17. Juni 1953 in der DDR. Wenn wir der Jahrestage dieser Aufstände gedenken, gedenken wir dann einer „Fehleinschätzung“ oder des Mutes von Menschen, die für ihre Freiheit kämpften, auch unter Inkaufnahme von erheblichen Risiken für sie persönlich?

 

Schmidts Äußerungen lassen auch eine Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Entspannungspolitik deutlich werden, die sich in den 80er Jahren noch verstärkte: Der Freiheitswert drohte immer mehr vom Sicherheitswert erdrückt zu werden, der damals als Friedenswert daher kam, wie er heute als Klimarettung oder Schutz vor „Corona“ daher kommt.

 

Das Zitat verweist auch auf ein allgemein menschliches Handycap, das allerdings bei Politikern zuweilen besonders folgenschwer sein kann: Der eigene, meist stark generationsspezifische, manchmal traumatisch wirkende Erfahrungshorizont wird nicht als subjektiver Faktor im historischen Prozess begriffen, sondern mutiert in der eigenen Vorstellung zum objektiv Gegebenen, wird Maßstab für das, was unter „Realismus“ zu verstehen ist. Dieser vermeintliche Realismus führte in den achtziger Jahren dazu, dass von der bundesdeutschen Elite, vor allem der politischen und der intellektuellen und vor allem auch (aber nicht nur) der linken und sozialdemokratischen, die sich wandelnden Realitäten im kommunistischen Machtbereich kaum oder nicht richtig wahrgenommen werden konnten.

 

Verkennung der Realitäten im Ostblock

 

 Imponderabilien der Geschichte haben es an sich, dass man sie schwer ins Kalkül mit einbeziehen kann. Aber mit etwas mehr historischem Bewusstsein über die eigenen Generationserfahrungen hinaus und etwas mehr politischer Fantasie hätten allzu große Fehleinschätzungen wohl doch vermieden werden können. Hilfreich wäre sicherlich auch das Gespräch mit Oppositionellen im kommunistischen Machtbereich gewesen. Bundeskanzler Schmidt sagte in den neunziger Jahren vor der Enquete-Kommission des Bundestages, sein oppositioneller Gesprächspartner sei die evangelische Kirche gewesen. Die evangelische Kirche in der DDR kann sich viel zugute halten, zur Opposition in der DDR gehörte sie aber sicherlich nicht.

 

Bei den kommunistischen Führungen im Osten waren es der historische Determinismus des Marxismus-Leninismus und dessen unilineares Geschichtsbild, die die kommunistischen Machthaber daran hinderten, neue Subjekte im historischen Prozess zu erkennen. Im Westen war es der Jalta- bzw. Stabilitätsfetechismus,  um es zugespitzt zu formulieren, der die Entwicklung von Neuem für undenkbar hielt bzw. als störend und „unrealistisch“ begriff. Ein weiteres Moment war, dass bei vielen im linken Spektrum im Westen durchaus ein mehr oder weniger geschichtsphilosophisch überhöhtes Bild akzeptiert wurde, in dem die kommunistischen Staaten im Osten irgendwie eine höhere Stufe im Prozess des historischen Fortschritts darstellten. Die dortigen Regime wurden nur noch von wenigen als das gesehen, was sie waren: politische Diktaturen auf Zeit, Statthalter einer imperialistischen Großmacht.

 

Dass sich die Welt veränderte, die Verhältnisse im sowjetischen Imperium und in dessen Kern sich veränderten (ideologisch, ökonomisch), generationsspezifische historische Erfahrungen ihre prägende Kraft verloren und durch neue ersetzt wurden, dass eine junge Generation im Osten sich nicht mit dem Status als historische Objekte auf Lebenszeit abfinden wollte, dass sie immer mehr bereit sein würde, für die eigene Freiheit einen Preis zu zahlen, da ihnen die Kosten der Unfreiheit immer unerträglicher wurden und die (vermeintliche) Gegenleistung, die Sicherheit an Bedeutung verlor bzw. als selbstverständlich erfahren wurde, all dies war offenbar außerhalb des Vorstellungsvermögens eines Großteils der politischen und intellektuellen Elite in Deutschland. Um es kurz zu machen: Die Konflikte zwischen (Partei-)Staat und Gesellschaft im kommunistischen Machtbereich wurden nicht ernst genommen.

 

Geschichte wiederholt sich nicht, aber es gibt doch wiederkehrende Muster. Die Basis für eine solche immer eklatanter werdende Verkennung der Realitäten im Ostblock und in der DDR seit den 60er Jahren wurde nicht zuletzt durch Wissenschaftler und Journalisten gelegt. Am Anfang waren es durchaus genuin wissenschaftliche Impulse, die einen Paradigmenwechsel in der DDR-Forschung notwendig erscheinen ließen - vom Totalitarismus-Konzept zur sogenannten systemimmanenten DDR-Forschung, die die DDR aus sich selbst heraus verstehen und an eigenen Maßstäben messen zu müssen glaubte. Der Mauerbau stand scheinbar für das endgültige Scheitern einer Politik der Stärke. Mit der sozialliberalen Ostpolitik kamen in den 70er Jahren starke Impulse aus der Politik hinzu, etwa für die richtige Richtung reichlich fließende  Fördermittel aus dem innerdeutschen Ministerium oder eine stärkere Verflechtung von Politik und Medien. Exemplarisch sei hier Günter Gaus erwähnt, der vom Spiegel-Chefredakteur direkt ins Bundeskanzleramt wechselte und kurz darauf erster Leiter der Ständigen Vertretung Bonns in der DDR wurde.

 

Allerdings gab es stets auch andere Stimmen, nur wurde auf sie im Laufe der 70er und vor allem 80er Jahre immer weniger gehört. Für Schmidt war Honecker jemand, der sich ein „Gefühl für die Nöte der Menschen bewahrt hatte“, der im Rahmen seiner Möglichkeiten zu einer vernünftigen Politik bereit war. Der neue katholische Bischof von Berlin, Joachim Meissner, hatte da mit seinen, wie es schien vorurteilshaften bzw.  antiquierten Vorstellungen keine Chance. Er stufte Honecker im Juni 1981 in einem Gespräch mit Schmidt „vor allem als einen Erfüllungsgehilfen des sowjetischen Imperialismus“ ein. Der Bundeskanzler hielt dem Bischof aus dem Osten im Gespräch entgegen, dass nach seiner Einschätzung Honecker „auf dem Fundament seiner Ideologie und im Rahmen seiner Abhängigkeit von Moskau um eine ‚gute Regierung‘ bemüht sei.“Als von Honecker so gut regierter Bürger hatte Meissner in Schmidts Augen wahrscheinlich inzwischen die richtigen Maßstäbe verloren und neigte daher zu solchen, wie Schmidt meinte, „Fehleinschätzungen“.

 

Deutsch-deutsche Absagen

 

In beiden deutschen Staaten war man, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, in dieser Zeit bemüht, die innerdeutschen Beziehungen aus den wachsenden internationalen Spannungen möglichst herauszuhalten. Honecker hatte dabei ganz handfeste Interessen. Er brauchte eine deutsch-deutsche „Sonderentspannung“, um seine Volkswirtschaft am Leben zu halten. Sein angeblich zu den zehn stärksten Industriestaaten zählendes Land war wirtschaftlich kurz vor dem Kollaps. Um die Wirtschaft seiner „Schutzmacht“ Sowjetunion stand es noch schlechter.

 

Ein für Februar/März 1980 von Honecker einen Tag nach dem NATO-Doppelbeschluss angekündigtes Treffen mit Schmidt in der DDR musste wegen des Vetos aus Moskau von Honecker bald wieder abgesagt werden. Ein Treffen Honecker-Schmidt könne als Versuch der Isolierung der Sowjetunion missverstanden werden, hieß es aus Moskau. Im Sommer 1980 besuchten Bundeskanzler Schmidt und Außenminister Genscher Breschnew. Zwar blieb der Besuch relativ folgenlos,  er machte jedoch den Weg frei für einen Besuch Schmidts in der DDR. Das Treffen sollte noch im selben Jahr am 28. und 29. August stattfinden, und zwar in einem ostdeutschen Ostseebad. Bereits bis ins Detail vorbereitet, kam nun aber die Entwicklung in Polen Honecker und Schmidt in die Quere.

 

Das „West-Fernsehen“ schickte Abend für Abend die Bilder von den bestreikten Werften an der polnischen Ostseeküste in die DDR-Wohnstuben. Honecker befürchtete jetzt offenbar ein Übergreifen der Streikwelle auf die ostdeutschen Ostseestädte, möglicherweise noch forciert durch innerdeutsche Hoffnungen, ausgelöst durch einen Besuch des westdeutschen Kanzlers in der DDR. Er wollte jetzt das Treffen nicht mehr, wie verabredet, in einem Ostseebad stattfinden lassen, sondern abgeschirmt im märkischen Wald, am Werbellinsee.

 

Schmidt wollte sich dem nicht beugen. Vor allem wurde aber auch ihm die Sache jetzt zu heiß. Im Oktober stand die Wahl eines neuen Bundestages an und der Westen sah immer deutlicher die Gefahr einer sowjetischen Intervention in Polen aufkommen. Ein großangelegtes Manöver des Warschauer Paktes in der DDR und an der Ostseeküste war zwar lange vorher geplant, wurde jetzt aber als Drohung gegen Polen inszeniert. Es bestand die reale Gefahr, dass, während Schmidt als Gast Honeckers in der DDR war, die Truppen des Warschauer Paktes in Polen einmarschieren würden, auch von deutschem Boden aus und auch mit deutschen Soldaten. Der in einem solchen Fall unumgängliche Abbruch des Besuchs durch Schmidt hätte die deutsch-deutschen Beziehungen wahrscheinlich um Jahre zurückgeworfen, ganz zu schweigen von den Folgen einer solchen Intervention für die weltpolitische Lage. Am 22. August, also knapp eine Woche vor dem geplanten Treffen, rief Schmidt Honecker an und sagte den Besuch ab.

 

Abgrenzung nach West und Ost

  

Die sozialliberale Koalition konnte am 5. Oktober ihre Mehrheit in den Bundestagswahlen ausbauen. Noch am Wahlabend verfasste Schmidt eine Botschaft an Honecker. Bonns Ständiger Vertreter in Ost-Berlin, Günter Gaus, überbrachte sie am nächsten Tag: Auch die neue Bundesregierung werde die „Bemühungen um den Ausbau bilateraler Beziehungen aktiv fortsetzen und weiterhin Vereinbarungen anstreben, die für die Menschen in beiden deutschen Staaten nützlich sind.“ Ein Treffen könne kurzfristig vorbereitet werden.

 

Doch in Ost-Berlin waren nun in enger Abstimmung mit Moskau schon Wochen zuvor die Weichen in Richtung einer verschärften „Abgrenzungspolitik“ gefallen. Nur die Bundestagswahlen sollten noch abgewartet und der sozialdemokratische Wahlsieg nicht gefährdet werden. Vier Tage nach der Wahl erhöhte Ostberlin den Zwangsumtausch für Besucher aus dem Westen drastisch. Wenige Tage darauf forderte Honecker in einer Grundsatzrede in Gera faktisch die Revision des Grundlagenvertrages als Voraussetzung für Fortschritte in den deutsch-deutschen Beziehungen. Die Problemfelder waren nicht neu. Neu war aber, dass ihre Lösung zur conditio sine qua non erhoben wurde. Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten der Berichterstattung westlicher Journalisten aus der DDR stark eingeschränkt. Hiermit waren, soweit es in den Händen der SED-Führung lag, die Rahmenbedingungen für die deutsch-deutschen Beziehungen für die nächsten Monate gesetzt.

 

Doch Honecker betrieb „Abgrenzung“ nicht nur gen Westen. Gegen den Einspruch des polnischen Nachbarn wurde der pass- und visafreie Reiseverkehr mit Polen abgeschafft. Die Reiseerleichterungen hatte Honecker neun Jahre zuvor mit dem polnischen Parteichef Edward Gierek vereinbart. Sie sollten damals ein Zeichen für die neue Qualität der Beziehungen zwischen beiden Ländern setzen. Das, wie es jetzt euphemistisch hieß, „zeitweilige Aussetzen“ der Reisefreiheit setzte aber faktisch den Schlusspunkt unter die Bemühungen, zwischen Polen und der DDR eine ähnliche, auch von der Bevölkerung getragene Aussöhnung wie etwa zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, herbeizuführen. Die Reisebeschränkungen wurden bis zum Ende der SED-Herrschaft nicht mehr aufgehoben. Ein noch im Frühjahr des Jahres mit Polen unterzeichneter „Vertrag über die kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit“ kam in der Praxis nicht mehr zum Tragen.

 

 „Die Meinung, man müsse ‚polnisch lernen‘, bestehe nicht.“

 

Als flankierende Maßnahme zur inneren Sicherheit galt es aus Sicht der SED-Führung, die Loyalität der Kirche in der DDR sicherzustellen. Die Führung des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK), insbesondere der leitende Bischof Schönherr und der Sekretär des BEK, Manfred Stolpe, kamen der entsprechenden Aufforderung der SED sofort nach. Schon Mitte September 1980 konnte das MfS unter Berufung auf den IMB „Sekretär“ melden, alle leitenden Personen in der evangelischen Kirche in der DDR seien übereinstimmend der Meinung, dass „man sich diese polnische Jacke nicht anziehen wird“. Stolpe habe die Bischöfe in „individuellen Gesprächen vor Leuten aus dem kirchlichen Raum [gewarnt], die als ständige Nörgler bekannt sind und keine Gelegenheit auslassen, ihre Antihaltung zu politischen und gesellschaftlichen Fragen zu artikulieren“. Die Kirche wolle sich „den derzeitigen Stand der Beziehungen zwischen Staat und Kirche [...] nicht kaputt machen lassen“. Ähnlich äußerte sich Bischof Schönherr im Oktober gegenüber dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi. Am 15. Dezember 1980 schließlich versicherte Stolpe dem Leiter der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK, Rudi Bellmann, nochmals ausdrücklich, die „evangelische Kirche werde sich durch niemanden in die Rolle einer politischen Opposition drängen lassen“. Mitverantwortung könne von der Kirche „nur im Interesse der inneren Stabilisierung der DDR verstanden und praktiziert werden“. Zu Polen hätten sich die Bischöfe eine klare Position erarbeitet. Das wichtigste, was Stolpe in diesem Zusammenhang nach der Information von Bellmann zu melden wusste, war die Position der Bischöfe zur Frage kirchlicher Reaktionen auf eine eventuelle militärische Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in Polen: „Probleme in der Kirche wären unvermeidbar, wenn die NVA militärisch eingreifen müsse. Es sei ein Unterschied, wenn so etwas von Seiten der Sowjetunion geschehe oder von der DDR.“ Wir erinnern uns, Bundeskanzler Schmidt sah in der evangelischen Kirche seine „oppositionellen Gesprächspartner“.

 

Im Dezember 1981 kam das zweimal verschobene Treffen zwischen Helmut Schmidt und Erich Honecker dann doch noch zustande und zwar dort, wo Honecker es schon im Sommer 1980 haben wollte: nicht an der Ostsee, sondern am Werbellinsee.

 

Am 12. Dezember waren die offiziellen Gespräche abgeschlossen. Am nächsten Tag sollte auf Wunsch Schmidts nur noch ein Besuchsprogramm in Güstrow stattfinden. Der Besuch des Kanzlers in Güstrow wurde zu einem makabren Schauspiel mit dem Bundeskanzler in der Hauptrolle und hunderten von Polizisten und MfS-Mitarbeitern als Statisten. Die Stadt, in der Schmidt den Dom besuchen und von dort einen Abstecher zum Weihnachtsmarkt machen wollte, war vollkommen abgeriegelt. Unter der „normalen“ Bevölkerung auf den Straßen fanden sich eigenartigerweise kaum Frauen oder Kinder – die richtigen Bewohner waren faktisch unter Hausarrest gestellt. Beim anschließenden Abschied auf dem Bahnhof bekam Schmidt ein Bonbon von Honecker zugesteckt. Wahrscheinlich sollte er auf der Rückfahrt den bitteren Beigeschmack des letzten Besuchstages verdrängen helfen.

 

Letztlich passte das Güstrower Schauspiel allerdings zu der Nachricht, die in der Nacht zuvor über die Nachrichtenticker gekommen war: Kriegszustand in Polen verhängt. Die Bilder aus Güstrow ähnelten in fataler Weise denen, die wenig später aus Polen zu sehen waren: Belagerungszustand, Friedhofsruhe. Sie waren sicherlich auch als deutliches Signal an die DDR-Bevölkerung gedacht: Untertanen seht, selbst der Bundeskanzler der imperialistischen BRD muss sich das von mir gefallen lassen.

 

„Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich“

 

Am Morgen des 13. Dezember fand die Abschlusspressekonferenz statt. Es blieb nur wenig Zeit, um Schmidt zu informieren und eine Sprachregelung zu finden. Ein Abbruch der Reise wurde nicht in Erwägung gezogen. Honecker gab dann während des gemeinsamen Frühstücks mit Schmidt eine erste Kostprobe davon, zu welch schauspielerischen Leistungen die DDR-Seite an diesem Tage noch auflaufen würde: Er gab sich „bestürzt“. Die deutsch-deutsche Betroffenheit der Weltöffentlichkeit mitzuteilen, überließ er seinem Gast.

 

Schmidt gab auf der Pressekonferenz die Ergebnisse des Gesprächs beim gemeinsamen Frühstück folgendermaßen wieder: „Wir [Schmidt und Honecker, M.K.] haben heute Morgen gemeinsam die Nachrichten aus Polen studiert. Das ist nur ein weiteres Mosaiksteinchen in dem gestern von Ihnen [Honecker, M.K.] und auch von mir gezeichneten Bild der schwierigen politischen Lage, in der sich Europa befindet. Wir haben beide unsere Hoffnungen ausgedrückt über die Art und Weise, wie das in Polen hoffentlich zu einem guten Ende geführt werden kann. Aber es gibt mehrere Gefahren gleichzeitig. Es gibt nicht nur die Gefahr, dass sich aus Polen Entwicklungen ergeben, die uns beide stören und in Mitleidenschaft ziehen könnten. Umso wichtiger – so denke ich – ist für Europa, für unsere beiden Staaten und für unsere Bürger die Tatsache, dass sich die obersten politischen Repräsentanten der beiden deutschen Staaten hier in einer solchen Atmosphäre getroffen haben.“

 

Schmidt ging noch weiter. Von Friedrich Novotny auf der Pressekonferenz danach gefragt, welche Auswirkungen die Ereignisse in Polen auf den Besuch haben würden, sagte Schmidt: „Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich, dass dies nun notwendig war. Ich hoffe sehr, dass es der polnischen Nation gelingt, ihre Probleme zu lösen ... die wirtschaftlichen und finanziellen Hilfsmöglichkeiten anderer Staaten zugunsten Polens sind ja gewiss nicht unbegrenzt.“

 

Die Lenker der beiden deutschen Staaten erkannten also die Verhängung des Kriegszustandes, die Niederschlagung der von Arbeitern, Intellektuellen und katholischer Kirche getragenen  polnischen Demokratiebewegung durch das kommunistische Militär für „notwendig“. Der kommunistische Diktator war „genauso bestürzt“ wie der Bundeskanzler des demokratischen und freien Deutschland. Im Kabinett sagte Schmidt später: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Honecker schon am Freitag etwas gewusst hat.“ Eine solche Naivität mag man dem ehemaligen Bundeskanzler Schmidt kaum zutrauen. Doch was sollte er in dieser Lage sagen?

 

„Zeitgewinn für den Militärrat Volkspolens“

 

Der Bundesnachrichtendienst (BND) stellte am 15. Dezember in einem Bericht die Behauptung auf, Honecker habe von der Ausrufung des Kriegszustandes durch Jaruzelski in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember 1981 gewusst. Schmidt sei von Honecker bewusst in eine Falle gelockt worden. Dies durfte anscheinend nicht wahr sein. Schmidt ließ den BND durch seinen Geheimdienstkoordinator zurechtweisen.

 

Fraglich ist vor diesem Hintergrund, ob Schmidt eine Warnung des BND im Voraus ernst genommen hätte. Später beklagte Klaus Bölling, der Nachfolger von Gaus als Ständiger Vertreter und enge Vertraute Schmidts, der BND habe damals versagt. Vorgewarnt, hätte Schmidt den Besuch noch einmal verlegen können. Noch in seinen 1987 erschienenen Erinnerungen zeigt Schmidt sich aber überzeugt, die Sache 1981 richtig eingeschätzt zu haben: „Honecker und ich sprachen beim Frühstück darüber, ehe ich zur Pressekonferenz mit westdeutschen Journalisten fuhr [...]. Honecker war offensichtlich betroffen über die Nachricht, die zu diesem Zeitpunkt noch kurz und unvollständig war. Wahrscheinlich war er jedoch auch erleichtert, dass von einem Eingreifen sowjetischer Truppen keine Rede war. [...] Im Falle einer sowjetischen Intervention wäre Honecker zumindest gezwungen gewesen, diese öffentlich zu begrüßen – wenn nicht mehr.“

 

Wie realistisch war aber das Honecker-Bild der damals in Bonn Verantwortlichen? Schmidt gab den Polen betreffenden Teil der Gespräche mit Honecker korrekt wieder. Die Krise in Polen und die Haltung von Bundesregierung und SED-Führung dazu standen nicht auf der Agenda dieses deutsch-deutschen Gipfeltreffens. Polen war hier nur ein „Mosaiksteinchen", ein Störfaktor der deutsch-deutschen Sonderentspannung wie auch der Entspannungspolitik insgesamt. Über dem Treffen am Werbellinsee, lag, wie es der Schmidt-Vertraute Klaus Bölling so schön formulierte, „so etwas wie eine sehr deutsche Grundstimmung, die nichts mit dem Radeberger Pils und dem Nordhäuser Doppelkorn zu tun hatte“. Der „Spiegel“ berichtet damals, am Ende des Treffens sei „sogar etwas Herzlichkeit“ aufgekommen, „gefördert auch durch grenzüberschreitende Trinkgewohnheiten.“ Bonns innerdeutscher Minister habe beim Anblick von Sekt und Wein bekannt, er möge keinen Sekt, hätte lieber ein Bier. Honecker habe darauf geantwortet, er ziehe mit. „Zum Raderberger Pils gab’s Nordhäuser Doppelkorn.“ Angetan von der guten Atmosphäre habe Schmidt dann Honecker sogar als „verehrten Freund“ angeredet.

 

Aber auch Honecker war sehr angetan von dem Treffen. In einer Einschätzung der SED wird die Bedeutung des Treffens für die Entwicklung in Polen hervorgehoben: „Das Treffen hat sich unmittelbar als direkte Hilfe für die VR Polen erwiesen. Die Tatsache, dass Substanz und Atmosphäre der Verhandlungen mit Genossen E. Honecker es Kanzler Schmidt nicht ratsam erscheinen ließen, den Besuch abzubrechen, hat für andere kapitalistische Mächte am entscheidenden 13. Dezember wie eine politische Initialzündung gewirkt. Diese Haltung von Schmidt hat dazu beigetragen, dass vorläufig keine einheitliche Front der USA, Westeuropas und Japans gegen die VR Polen, die UdSSR und die sozialistische Gemeinschaft zustande gekommen ist. [...] Das Treffen hat dem Militärrat Volkspolens einen nicht zu unterschätzenden Zeitgewinn ermöglicht.“

 

„Höchste Zeit, in Polen Ordnung zu machen“

 

In seinem Bericht an das Politbüro über das Treffen mit Bundeskanzler Schmidt stellte Honecker am 15. Dezember 1981 zufrieden fest: „Die jüngste Entwicklung in der VR Polen wurde von Schmidt im Grunde gelassen aufgenommen. Er erläuterte dazu, es müsse einmal Ordnung geschaffen werden; das sollten die Polen allein tun. Er hoffe auf eine friedliche Regelung.“ Honecker ließ es sich auch nicht nehmen, umgehend Jaruzelski telefonisch zu informieren: Schmidt habe beim Treffen gesagt, „es wird höchste Zeit, dass man begonnen hat, in Polen Ordnung zu machen.“ Diese Mitteilung sei natürlich vertraulich, da Schmidt sich so in der Öffentlichkeit nicht äußern wolle.

 

Ex-Bundeskanzler Schmidt bestritt in den 90er Jahren vehement, sich in dieser Weise gegenüber Honecker geäußert zu haben und erklärte die ihm in den Mund gelegten Worte für „frei erfunden“. In seinen Erinnerungen sei nachzulesen, wie seine Haltung damals war (Honecker genauso bestürzt, finanzielle Hilfsmöglichkeiten anderer Staaten zugunsten Polens nicht unbegrenzt, s.o.). Schmidt beklagt in seinen Erinnerungen, dass das von ihm verwendete Wort „notwendig“ in Bezug auf die Verhängung des Kriegszustandes durch Jaruzelski damals zu einigen Angriffen der CDU/CSU-Opposition auf ihn geführt habe. Allerdings gesteht er eine „nicht ganz glückliche Wortwahl“ seinerseits zu.

 

Gern wurde und wird in diesem Zusammenhang auf Max Webers Differenzierung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik verwiesen. Dem ist neben vielen damals schon Alfred Grosser entgegengetreten: „Es geht nicht um die übliche webersche Spannung zwischen Gesinnung und Verantwortung. Es geht darum, dass die Verantwortlichen der Bundesrepublik seit deren Geburt ständig nach außen und nach innen auf die Notwendigkeit und den Wert der Gesinnung hingewiesen haben. Von Polen nur ‚realpolitisch‘ zu sprechen ziemt sich nirgends den Intellektuellen, wenn sie nicht überhaupt das Recht zum moralischen Protest verwirken wollen. In der Bundesrepublik ziemt es sich auch nicht den Verantwortungsbeladenen. Helmut Schmidt selbst spielt ja ständig auf die Vergangenheit an. Manchmal in einer etwas merkwürdigen Form. So z.B. wenn er von der Opposition in seiner Bundestagsrede [am 18.12.1981, M.K.] über die Begegnung mit Honecker durch den Zuruf ‚Polen‘ unterbrochen wird und antwortet: ‚Eine vorwegnehmende Dramatisierung der Ereignisse in Polen ausgerechnet durch uns Deutsche hätte tatsächlich weder den Polen noch den Deutschen genützt. Deutsche dürfen sich noch immer nicht zum Richter über Polen aufwerfen, noch immer nicht.'" Grosser führte fort, dass es wohl kaum darum gegangen sei, sich zum Richter aufzuwerfen, sondern darum, angesichts der Geschichte der deutsch-polnisch-russischen Beziehungen den unterdrückten Polen diesmal allen möglichen Beistand zu leisten, angefangen mit einer deutlichen Verurteilung der Unterdrückung der polnischen Freiheitsbestrebungen.

 

Welches Wort am Werbellinsee tatsächlich zur Beschreibung dessen, was in Polen „notwendig“ sei, gefallen ist, wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen. Es war jedenfalls eines, das Honecker dazu veranlasste, auch noch einen Monat nach seinem entsprechenden Bericht vor dem Politbüro gegenüber Schmidt persönlich am Telefon von „Ordnung schaffen“ als dem gemeinsam für notwendig Erachteten zu sprechen. Schmidt sah offenbar erst jetzt die Notwendigkeit, Honecker über möglicherweise unterschiedliche Ordnungsvorstellungen aufzuklären: „Was das Ordnungschaffen in Polen angeht, wie Sie es genannt haben, Ordnung muss man schaffen, indem man normale Verhältnisse herstellt und den Kriegszustand beendet. Und diese vielen tausend Gefangenen freilässt.“

 

Honeckers Missverständnis Schmidtscher Ordnungsvorstellungen in Bezug auf das polnische Nachbarland war aber nicht ganz unbegründet. Im Rahmen der Aktion „Reaktion“ plante das MfS 1981 mittels etlicher „Inoffizieller Mitarbeiter“, Informationen über mögliche Reaktionen in kirchlichen Kreisen und der Bundesregierung auf den Parteitag der polnischen Kommunisten (PVAP) zu beschaffen. Dem Parteitag wurde damals von der SED entscheidende Bedeutung für die weitere Entwicklung in Polen beigemessen.

 

Deutsch-deutsche Beziehungen heraushalten

 

Der MfS-Auftrag für den IM „Sekretär“, unter diesem Namen führte das MfS bekanntlich Manfred Stolpe, lautete: „Im Rahmen einer kirchlichen Dienstreise begibt sich der IM ‚Sekretär‘ am 16.7.1981 nach Bonn. Er trifft mit dem Beauftragten der ‚Evangelischen Kirche Deutschlands‘ bei der Bundesregierung, Prälat Binder, zusammen. Es wurde bekannt, dass von Seiten des Bundeskanzleramtes (Schmidt, Genscher) Interesse besteht, mit dem IM zu Gesprächen zusammenzutreffen. Der IM wird besonders Informationen zu Reaktionen auf den Parteitag der PVAP erarbeiten. Eine Auswertung der Reise des IM erfolgt am 17.7.1981.“

 

Bereits am 18. Juli 1981 konnte das MfS dann eine als „streng geheim“ deklarierte Information über die Gespräche von Schönherr und Stolpe mit Schmidt und Genscher vorlegen. Das Gespräch mit Schmidt soll im Wesentlichen ein Monolog Schmidts gewesen sein. Schmidt sprach auch über die möglichen Auswirkungen der Entwicklung in Polen auf die deutsch-deutschen Beziehungen. Sinn des Gespräches war es, über den kirchlichen Kanal der SED-Führung die Entschlossenheit der Bundesregierung zu signalisieren, die deutsch-deutschen Beziehungen soweit als möglich aus einer eventuellen Verschärfung der politischen Lage herauszuhalten. Schmidt sagte laut MfS-Information, er sei in Sorge darüber, was passiert, wenn in Polen „Ruhe und Ordnung doch nicht eingehalten werden können und ‚marschiert werden muß'". Wenn „alle Töpfe aus dem Schrank fallen“, müsse die Frage der Vertragspolitik gestellt werden. Er, Schmidt, könne verstehen, „wenn sich die Sowjetunion engagiert, denn sie muß als Führungsmacht ihren Laden reinhalten. Aber wenn sich die DDR einmischt, wenn sich ‚Deutsche‘ einmischen, dann gebe es absolutes Unverständnis“. Dasselbe Bild benutzte Schmidt 22 Jahre später vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages: Er habe damals Honecker „gesagt, wenn die Sowjetunion zu dem Ergebnis kommt, sie müsse in ihrem Laden sich durchsetzen, da können Sie, Honecker nicht viel machen. Aber um Gottes Willen, beteiligen Sie nicht die Truppen der NVA an diesem Eingriff.“

 

Man kann diese als Warnung an die SED verstehen, von einer NVA-Beteiligung an einer Intervention abzusehen – und so war es sicherlich gemeint, aber auch als Freibrief für Moskau.

 

Die divergierenden Ordnungsvorstellungen waren aber nicht das einzige Missverständnis. War es wirklich so, wie Klaus Bölling in seinen Erinnerungen schreibt, dass der „Saarländer“ (Honecker) „die Gefahren eines radikalen Vorgehens gegen die Polen erkannte und deshalb die Heißsporne im eigenen Lager beschwichtigen half“?

 

Genau das Gegenteil war richtig, und nach allem, was wir heute  wissen, lag der BND damals mit seiner Einschätzung richtig, Schmidt sei Honecker in eine Falle getappt. Honecker ließ Schmidt in dem Glauben, er würde ihn nicht in die DDR kommen lassen, wenn in Polen Dramatisches zu erwarten wäre. Im September 1981 ließ Honecker über Bahr Schmidt wissen, Schmidt hätte im August 1980 ohne Sorge in die DDR kommen können. „Er [Honecker, M.K.] hätte Helmut Schmidt nicht kommen lassen, wenn er nicht gewußt hätte, dass mit Polen nichts passiert.“ Als Schmidt die Reise antrat, ging er davon aus, dass in Polen „erst ab 17.12. mit ernsthaften Dingen“ zu rechnen sei. So jedenfalls äußerte sich Bundeskanzler Schmidt am 9. Dezember gegenüber Honeckers Unterhändler Rechtsanwalt Wolfgang Vogel.

 

Maßnahmen, „wenn die Polen beten“

 

Honecker wusste aber bereits seit einigen Tagen, im Detail seit spätestens dem 10. Dezember, also noch bevor Schmidt in die DDR aufgebrochen war, dass in den nächsten Tagen in Polen der Kriegszustand ausgerufen werden würde. Sein Verteidigungsminister Hoffmann hatte ihn am 10. Dezember informiert, dass bis 15. Dezember mit einem Zuschlagen Jaruzelskis zu rechnen sei. Bereits im April hatte Sowjetmarschall Kulikow lakonisch befunden: „Da die Polen als fromme Katholiken am Sonnabend und Sonntag alle beten, würden sich die Wochenenden anbieten, um zu wirksamen Maßnahmen zu schreiten.“ Der 13. Dezember war ein Sonntag.

 

Noch in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember 1981 wurden die Streitkräfte und die Grenztruppen der DDR in erhöhte Führungsbereitschaft versetzt. Honecker wandte sich um vier Uhr morgens mit einem Telegramm an die Bezirkschefs der SED: „Wir bitten, Maßnahmen vorzubereiten, um entsprechend der sich entwickelnden Situation zu handeln. In jedem Fall ist bis auf Widerruf alles notwendige zu gewährleisten, um aufgrund der vorgesehenen Maßnahmen in Polen reagieren zu können. Nähere Mitteilungen werdet Ihr erhalten. In wieweit die Ereignisse in der Volksrepublik Polen auf den gegenwärtigen Besuch einwirken, wird Euch umgehend mitgeteilt. Bis jetzt gelten die bisherigen Festlegungen dazu.“

 

Anschließend ging  Honecker zum Frühstück mit seinem Gast Bundeskanzler Schmidt und zeigte sich „bestürzt“. Eine im Militärarchiv gefundene Karte über „Truppenbewegungen am 13. und 14. Dezember 1981“ enthält einen dicken Stoßkeil über die Oder-Neiße-Grenze auf polnisches Gebiet. Der „Ablauf der Handlungen nach Eintreffen des Signals“ sah laut dieser Karte unter anderem die „Verlegung des Führungsorgans der Stäbe und Truppen auf das Territorium der VRP“ und den Vorstoß der 9. Panzerdivision der NVA vor. Diesen Operationsplänen lag immer noch der Ministerbefehl 118/80 vom 6. Dezember 1980 für die sogenannte „gemeinsame Ausbildungsmaßnahme“ zugrunde. Unter diesem Codewort liefen immer noch die Vorbereitungen für eine Intervention sowjetischer, tschechoslowakischer und ostdeutscher Truppen zur „Unterstützung“ der polnischen Armee.

 

Ohne dies hier näher ausführen zu können: Eine militärische Intervention nach dem Muster von Prag 1968 war 1981 (anders als im Dezember 1980), nach allem was wir heute dazu wissen, sehr unwahrscheinlich – auch wenn Jaruzelski das Kriegsrecht nicht verhängt hätte. Dies lag aber an der Lage- und Kräfteeinschätzung in der Moskauer Führung, nicht an Honecker. Honecker war vielmehr nachweislich im Ostblock derjenige, der am wenigsten vor den Folgen einer militärischen Intervention zurückschreckte. Er hielt sie im Prinzip für unausweichlich, weil er den polnischen Genossen nicht mehr traute. Davon, dass er, wie Bölling und die Bundesregierung glaubten, die „Heißsporne im eigenen Lager beschwichtigen half“, konnte überhaupt keine Rede sein.

 

Wie passte das zusammen? Auf der einen Seite ein Erich Honecker, der gegenüber dem Westen auf Fortsetzung der Entspannungspolitik drängte und sich als Taube im sozialistischen Lager inszenierte. Auf der anderen Seite riskierte er im Warschauer Pakt mit seiner kompromisslosen Haltung gegenüber Polen ein Ende der Entspannungspolitik.

 

Wirtschaftlich war Honecker sowohl von Moskau als auch von der Bundesrepublik abhängig. Die Entwicklung in Polen verschärfte seine wirtschaftlichen Probleme noch erheblich. Ideologisch sah er sich jetzt von zwei Seiten Aufweichungstendenzen ausgesetzt. Auf der einen Seite waren es die als Kompensation für die wirtschaftliche Hilfe Bonns gezwungenermaßen zu gewährenden „menschlichen Erleichterungen“. Auch ließ sich das Feindbild Bundesrepublik bei zunehmender wirtschaftlicher Kooperation schwerer aufrechterhalten. Auf der anderen Seite sah die DDR sich einem rapiden Zerfall von Polens kommunistischer Partei PVAP gegenüber. Die Abrechnung mit den Fehlern des früheren Parteichefs Gierek in Polen ließe sich unschwer auf Honecker übertragen.

 

So gefährlich insgesamt die Entwicklung in Polen für Honecker auch war,  so ermöglichte die Krise in Polen es ihm dennoch, von den hausgemachten Problemen in der DDR abzulenken. Honeckers Westpolitik, vor allem die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit, trug ihm die Kritik Moskaus ein. Gegenüber dem Westen konnte sich Honecker dadurch als jemand präsentieren, der in der Krisensituation zwar Bündnistreue gegenüber Moskau demonstrieren musste, aber im Grunde seines Herzens ein glühender Verfechter weiterer Entspannung in Europa sei. Moskaus Kritik verschonte ihn so vor zu weitgehenden Forderungen seitens der Bundesregierung. Moskaus nachlassende Fähigkeit, die wirtschaftliche Existenz der DDR abzusichern, eröffnete ihm zugleich den Weg zum Ausbau der wirtschaftlichen Kooperation mit Bonn. Moskau konnte und wollte nicht mehr zahlen.

 

Die Erhöhung des Zwangsumtauschs und die „Geraer Forderungen“ einerseits sowie Honeckers Drängen auf eine militärische Intervention in Polen durch die Sowjetunion standen zu dieser Strategie nur scheinbar im Widerspruch. Eine militärische Intervention in Polen hätte der Entspannungspolitik in Europa zwar einen empfindlichen Schlag versetzt. Trotzdem konnte sich Honecker ziemlich sicher sein, dass Bonn nahezu um jeden Preis zur Zusammenarbeit mit Honecker bereit war, wenn dadurch nur der Zusammenhalt der Nation befördert werden konnte. Entsprechende Signale hatte er ja von Bundeskanzler Helmut Schmidt vor und während der Krise in Polen mehrmals bekommen. Gleichzeitig hätte eine militärische Intervention Moskaus Kräfte (militärisch, politisch, wirtschaftlich) gebunden und Honeckers Bedeutung als Moskaus Statthalter an der Westgrenze des Imperiums noch erhöht.

 

Die sich ausweitende Krise in Polen und die Unentschlossenheit Moskaus gegenüber Polen bot ihm sogar die Möglichkeit, die Kritik wegen mangelnder ideologischer Standfestigkeit und Bündnistreue geschickt an Moskau zurückzugeben. Gegenüber Moskau konnte Honecker so als der Verfechter ideologischer Reinheit und Garant politischer Stabilität auftreten, gegenüber Bonn als verantwortungsvoller deutscher Entspannungspolitiker, der wegen Moskaus Druck nicht so könne wie er eigentlich wolle. Gegenüber dem eigenen Politbüro konnte er angesichts der krisenhaften Lage auf Geschlossenheit pochen und bei der Bevölkerung würde die militärische Niederschlagung der Solidarność in Polen jeden Willen zur Opposition im Keim ersticken.

 

Verfahren wie die Lage nun einmal war, hätte ein sowjetischer Einmarsch in Polen mittelfristig Honeckers Position gegenüber Bonn, Moskau und in der DDR sogar stärken können. Die DDR hätte sich als ideologisch und politisch fester Teil des Warschauer Paktes präsentieren können, der ökonomisch erfolgreich mit dem Westen kooperiere. Polen wäre als Störfaktor ausgeschaltet gewesen.

 

Illusionär oder realistisch?

  

Als 1992 Bundespräsident Richard von Weizsäcker den Präsidenten der Republik Polen, Lech Wałęsa, in Deutschland empfing, lobte er mit dem ihm eigenen Pathos dessen Verdienste: Er habe als Gewerkschaftsführer in Polen maßgeblich zur „europäischen Freiheitsrevolution beigetragen“ und schon zu einer Zeit, als ihm niemand glauben wollte, den Fall der Berliner Mauer noch zu unseren Lebzeiten vorausgesagt. Wenn es auch übertrieben ist, dass Wałęsa „niemand glauben wollte“, die Bundesregierung gehörte damals zu jenen, die Wałęsa nicht glauben wollten. Bundeskanzler Schmidt konnte sich dafür damals, als der spätere Staatspräsident und Tausende Solidarność-Mitglieder interniert waren,  „durchaus einfühlen in die verzweifelte Lage der Führung in Warschau“. So schreibt er in seinen bereits mehrfach zitierten Erinnerungen. Gleichzeitig habe er zwar „große Sympathie für die polnische Opposition“ empfunden. Nur „begriff“  die polnische Opposition „nicht, dass eine Beseitigung dieser Führung bei illusionären eigenen Zielen das Eingreifen der Sowjetunion auslösen würde“ und es den Polen dann doch wesentlich schlechter gegangen wäre als unter Gierek oder Jaruzelski.

 

Doch der Opposition und den Bürgerrechtlern in Osteuropa, vor allem in Polen und der Tschechoslowakei, ging es um die Wiederherstellung der Zivilgesellschaft, um die Selbstorganisation von Interessen, die Schaffung einer Gegengesellschaft gegen den totalitären Staat, nicht um die „Beseitigung dieser [oder irgendeiner anderen, M.K.] Führung“.

 

In Schmidts Welt lenkten Staatsmänner die Geschicke ihrer Länder: Gierek, Kania bzw. Jaruzelski das ihre, er die größere Hälfte des seinen und Honecker eben die DDR. Letztlich betrieb Schmidt eine vormundschaftliche Politik gegenüber den Menschen im Osten, in Polen wie auch in der DDR. Die Ursprünge eines solchen Politikkonzeptes sind durchaus nachvollziehbar. Die Menschen im Osten waren entmündigt. Die Ostpolitik der Bundesregierung wollte sich ihrer annehmen, wollte ihre Interessen wahrnehmen, ihnen eine Stimme geben.

 

„Wir haben Solidarność nicht ernst genug genommen.“

 

Dass sich die Interessen, Maßstäbe und Sehnsüchte der in vorsorgliche Obhut genommenen vor dem Hintergrund sich ändernder Erfahrungshorizonte wandeln könnten, war im Konzept nicht vorgesehen. Tatsächlich hatte sich aber sowohl im Osten wie auch im Westen ein Wertewandel vollzogen. In der Wohlstandsgesellschaft Westdeutschlands wurde Freiheit inzwischen als Selbstverständlichkeit genommen und die Wahrung des status quo, d.h. ja auch des Lebens im Wohlstand und Sicherheit, hatte Priorität. Das Wort, das für dieses status-quo-Denken herhalten musste, war „Frieden“. Heute scheinen selbst Wohlstand und Sicherheit für eine neue Generation Deutscher zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein. Das setzt Kräfte frei für die Rettung der Welt. Es bestätigt sich die alte Erkenntnis: Was nichts kostet ist nichts wert.

 

Auch im Osten gab es damals  einen relativen Wohlstand, wenn auch Defizite in der Planwirtschaft zum Alltag gehörten. Ein Defizit spielte in den Köpfen der Menschen bzw. einer neuen intellektuellen Elite jedoch eine zunehmende Rolle: die fehlende Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben. „Menschliche Erleichterungen“, wie z.B. erweiterte Reisemöglichkeiten, konnten dafür kein Ersatz sein, ja sie verstärkten wahrscheinlich noch eher die Bereitschaft der Menschen, für die Freiheit, wie man sie im Westen verwirklicht sah, die Stabilität des Status quo zu riskieren. Solidarność drohte der stabilitäts- und staatsfixierten Ostpolitik den Boden unter den Füßen wegzuziehen. In Osteuropa gab es plötzlich einen neuen Faktor, der im Ostpolitikkonzept keine Rolle spielte, einfach nicht vorgesehen war: die sich selbst organisierende Gesellschaft. 

 

Das Aufkommen der Solidarność hätte eigentlich allen Politikern im Westen die riesige Kluft zwischen Partei/Staat und der Gesellschaft wieder stärker ins Bewusstsein rücken müssen. Stattdessen wurde die sich wandelnde Realität im Osten mit dem Etikett „unrealistisch“ bedacht. Die große Verunsicherung, die die Entwicklung in Polen in Hinblick auf eine Bewertung der Entspannungspolitik der sozial-liberalen Bundesregierung auslöste, hat Freimut Duve damals in der ZEIT mit folgenden Worten auszudrücken versucht: „Dass ausgerechnet die Polen sich wieder einmal dem Zwang der Großordnung fügen sollen und dass ausgerechnet wir Deutschen mit bitterem Mitleid dem Wałęsa die Grenzen der Freiheit im Nuklearzeitalter beibringen, das ist ein sehr unziemlicher Zynismus, den sich das historische Gespenst, dass wir immer gerne Weltgeist genannt haben, mit beiden erlaubt.“

 

Egon Bahr räumte vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages im November 1993 die damalige Fehleinschätzung in Bezug auf die Solidarność  in bemerkenswerter Weise ein: „Als ich hörte, Solidarność ruft zum Generalstreik auf gegen die Erhöhung der Schnaps- und Tabakpreise, habe ich gedacht: Die sind verrückt und überspannen die Belastungsfähigkeit. Sie riskieren die Wiederholung von 1968, und in der Tat war der Westen über die Nachrichten von Alarmbereitschaft und Truppenbewegungen der Sowjetunion besorgt. Der Westen würde wieder nicht helfen. Ich habe mich geirrt. Wir haben Solidarność nicht ernst genug genommen.“

 

Die Motive von Bundeskanzler Schmidt in der polnischen Krise verdienen Respekt. Er wollte eine weitere Eskalation in der neuen Runde des Wettrüstens vermeiden und als Angehöriger der Kriegsgeneration verhindern, dass erneut deutsche Soldaten in Polen einmarschierten. Die DDR-Dokumente belegen jedoch, dass alle Mahnungen von Schmidt an die SED-Führung, die NVA aus eventuellen militärischen Maßnahmen gegen Polen herauszuhalten, von Honecker ignoriert wurden. Schmidt verstand sich als Realpolitiker. Legt man diesen Maßstab an und lässt die Hypothek der deutschen Geschichte außer Acht, bleibt trotzdem die Frage: Auf welchen Informationen beruhte die Annahme der Bundesregierung, die SED-Führung wäre wirklich willens und in der Lage, eine deutsch-deutsche Verantwortungsgemeinschaft für den europäischen Frieden mitzutragen, und zwar eine solche, die auch die Souveränität Polens eingeschlossen hätte?

 

Nichts bleibt, wie es ist, ohne sein Gegenteil

 

 Mit Gorbatschows Machtantritt in der Sowjetunion verlor die Entwicklung in Polen für den Reformprozess im sowjetischen Machtbereich an Bedeutung. Auch für die SED-Führung ergab sich so ein völlig neues Bedrohungsszenario. Die hauptsächliche Gefahr drohte nicht mehr von der „Konterrevolution“ in Polen und einer ideologisch aufgeweichten PVAP, sondern aus dem Zentrum des Imperiums, aus Moskau selbst. Die SED trat Ende der 80er Jahre in Gesprächen mit Funktionären aus Polen nicht mehr so arrogant und schulmeisterlich auf, wie am Anfang des Jahrzehnts. Wenn auch langsam, schien sich die Erkenntnis Bahn zu brechen, dass die Erfahrungen der polnischen Genossen beim Versuch der Integration neuer politischer Kräfte ins kommunistische Herrschaftssystem vielleicht irgendwie von Nutzen sein könnten. Aber es half nichts mehr - weder in Polen noch in der DDR.

 

Bundeskanzler Schmidts - um es mal vorsichtig auszudrücken - „Ungeschicklichkeit“ während der Systemkrise in Polen am Anfang der 80er Jahre hatte glücklicherweise keine nennenswerten Auswirkungen mehr auf die deutsch-polnischen Beziehungen. Die polnische Opposition stand der sozialliberalen Ostpolitik ohnehin sehr kritisch gegenüber. Auch in den letzten Monaten seiner Regierung gingen von Schmidt kaum Signale aus, die die polnische Opposition hätte eines Besseren oder Anderen belehren können. Die Bundesregierung verhielt sich gegenüber den Kriegsrechtsherren in Polen und gegenüber Moskau deutlich zurückhaltender als andere westliche Regierungen, was zu ernsthaften Auseinandersetzungen im Bündnis führte. So empfing die Bundesregierung beispielsweise nur 10 Tage nach Ausrufung des Kriegszustandes den stellvertretenden Ministerpräsidenten Mieczesław Rakowski in Bonn, der hier um Verständnis für die Politik Jaruzelskis warb  - und insbesondere bei der Sozialdemokratie wohl auch auf Verständnis stieß. Der erste prominente Politiker des Westens, der nach Verhängung des Kriegsrechts Polen besuchte (vom 19. bis 22. Februar 1982), war ein deutscher Sozialdemokrat - Herbert Wehner. Die Bilder von diesem Besuch dürften vielen Polen noch lange in unangenehmer Erinnerung geblieben sein. Auf den DGB wurde seitens der Bundesregierung unverhohlen Druck ausgeübt, die Kontakte zu Solidarność--Vertretern auf kleinster Flamme zu halten.

 

In der Opposition setzte die SPD in den 80er Jahren, ähnlich wie im Verhältnis zur DDR auf offizielle Parteibeziehungen. Von der neuen Regierung Kohl/Genscher wurde ab 1982 im Grunde die sozialliberale Ostpolitik fortgeführt. Kontinuität war schon allein dadurch gesichert, dass Hans-Dietrich Genscher Außenminister blieb. Allerdings wurden deutsche Rechtspositionen im Verhältnis zu Polen wieder deutlicher benannt und die deutsche Frage wieder stärker als Frage der Einheit Deutschlands betrachtet und nicht nur als die eines geregelten Nebeneinanders. Auch pflegte die CDU/CSU bzw. die Bundesregierung seit ca. 1983 zunehmend engere Kontakte zur polnischen Opposition und deren außenpolitischen Fachleuten, Kontakte, die 1989/90 entscheidend zur rasanten Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen beitrugen. In der polnischen Opposition herrschte seit langem weitgehende Einigkeit darüber, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für Deutschland gelten müsse, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands Voraussetzung für ein erweitertes Europa sei, in dem Polen seinen Platz finden wollte.

 

Das, wovon die polnische Opposition 1980 nach Schmidts Überzeugung angeblich so illusionär träumte und wofür sie kämpfte, ist erreicht. Doch nichts bleibt so, wie es ist, ohne sein Gegenteil. Das gilt für Westeuropa ohne Ostblock wie für die Träume der Polen ohne sowjetische Besatzung und kommunistische Diktatur.

 

Literatur:

Michael Kubina ; Manfred Wilke: „Hart und kompromisslos durchgreifen“. Die SED contra Polen 1980/81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung, Berlin 1995.

 

Wilke, Manfred ; Gutsche, Reinhardt ; Kubina, Michael:  Die SED-Führung und die Unterdrückung der polnischen Oppositionsbewegung 1980/81 (Berichte des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien; 1994, 36)

 

Im wesentlichen darauf aufbauend:

 

Filip Gańczak: „Polen geben wir nicht preis“. Der Kampf der DDR-Führung gegen die Solidarność 1980/81, Paderborn 2020.

 

 

Dr. Michael Kubina, Jahrgang 1958, Studium der Theologie in Ost-Berlin sowie der Ost- und Südosteuropäischen Geschichte, Politikwissenschaft und Slawistik an der Freien Universität in West-Berlin.

 

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