Historische Synagogen in Europa

 

ein Gastbeitrag von von Michelle Wolf

 

 

Vom Beginn der Zerstreuung in den ersten Jahrhunderten n. Chr. bis hin zur Aufklärung im 18. Jahrhundert lebte das jüdische Volk in Europa abgeschottet und als Randgruppe in der Gesellschaft. Ihr Schicksal zeichnet sich durch endlose Perioden der Diskriminierung und qualvollen Verfolgung, durchbrochen von kurzen Lichtblicken – Toleranzphasen, in denen die jüdische Wissenschaft und Kunst blühte.

 

Ein Vorzeigebeispiel in der Geschichte ist das ‚goldene Zeitalter’ der Juden in Spanien unter islamischer Regierung, bis durch die Reconquista schliesslich alle Nicht-Christen zwangskonvertiert oder vertrieben wurden. Heute ist nicht mehr viel Authentisches übrig, das uns etwas über die Zeit des jüdischen Mittelalters erzählen könnte. Umso wichtiger ist es, den stummen Zeugen, die noch existieren, eine Bühne zu geben: anhand von zwei ausgewählten religiösen Zentren soll das jüdische Leben vor dem Zeitalter der Vernunft stichprobenartig geschildert werden.

 

 

Legenden um die Altneu-Synagoge in Prag

 

Die älteste erhaltende Synagoge in Europa steht in einer Stadt, die lange Zeit eine der grössten jüdischen Gemeinden beherbergte sowie ein Zentrum der rabbinischen Kultur präsentierte. Persönlichkeiten wie Salomo Juda Rapoport (Mitbegründer der „Wissenschaft des Judentums“) oder Eliezer Aschkenasi (multinationaler Gelehrter) wirkten in der Altneu-Synagoge in Prag. Die Fertigstellung der typisch mittelalterlichen zweischiffen Gebetsstätte wird auf das Jahr 1270 geschätzt. Sie überlebte sämtliche Stadtbrände, Pogrome und Kriege und stellt bis heute das Zentrum des jüdischen Lebens in Prag dar. Alleinstehend inmitten der Josefstadt, dem ehemaligen Judenviertel, überlebte eines der ältesten gotischen Bauten sogar die deutsche Besetzung, da die Nazis das jüdische Ghetto zu einem Museum der ‚ausgelöschten jüdischen Rasse’ umwandeln wollten. Durch diese Schicksalswendung existiert die historisch überaus wertvolle Synagoge noch, und stellt dazu ein kleines Stückchen Paradies dar, wenn man einer Legende glaubt, die besagt, dass der Name ‚Alt-neu’ vom Jiddischen ‚Al tenai’ (unter der Bedingung, dass) abgeleitet wird. Engel sollen beim Bau der ältesten Synagoge Steine aus dem Jerusalemer Tempel mitgebracht haben, ‚unter der Bedingung, dass’ sie bei der Rückkehr des Messias wieder dorthin zurückgebracht werden. Natürlich gibt es auch bodenständigere Erklärungen für die Herkunft des Namens – mutmaßlich soll sie auf den Ruinen einer noch älteren jüdischen Gebetsstätte erbaut sein.

 

Um antisemitischen Hetzen vorzubeugen, wurde der eine oder andere jüdische Gelehrte schon zu Beginn der Neuzeit kreativ – zumindest, wenn man einer weiteren Sage, dem „Golem“, Glauben schenken will. Wie in weiten Teilen Europas wurden die Juden auch in Prag unter der sogenannten Ritualmordlegende beschuldigt, angeblich das Blut von Christenkindern für das Backen der Matzen für ihr Pessachfest zu benutzen. So absurd das heute klingen mag, damals gab die Kirche unter dieser Anklage ihren Segen, Juden massenhaft zu verfolgen und zu ermorden. Jehuda ben Bezal’el Löw, ein im 16. Jahrhundert lebender Rabbiner aus Prag, soll eine Lehmfigur zum Leben erweckt haben, die seine Gemeinde vor diesen Gerüchten beschützte. Nachts soll das Golem durch die Straßen gestreift sein, und wortwörtlich darüber gewacht haben, dass christliche Bürger keine toten Kinder ins Judenviertel warfen, um ihnen anschließend das teuflische Vergehen anzuhängen. 1592 wurde schließlich unter Kaiser Rudolf II. versprochen, Anschuldigungen jener Art zu bestrafen. Das Golem wurde nicht mehr benötigt, und der Legende nach liegen seine Lehmüberreste, in Gebetsmänteln und Schriftrollen eingedeckt, bis heute auf dem Dachboden der Altneu-Synagoge in Prag.

 

 

Das Ghetto in Venedig

 

Im Jahre 1516 wurden 700 in Venedig lebende Juden auf eine Insel in der Cannaregio isoliert. Wo sich davor ein Zentrum für Metallgießereien befand (in venezianischem Dialekt bedeutet Metallguss ‚gheto’), entstand nun das erste geschlossene Ghetto Europas. Die Bewohner mussten unter strengen Regelungen leben, welche den gesamten Alltag bestimmten, und durften im Austausch dafür frei und geschützt ihre Religion praktizieren. Im Zuge weiterer Einwanderungsströme wurde die Siedlung auf zwei angrenzende Wohngebiete ausgedehnt, und Mitte des 17. Jahrhundert erreichte sie eine Bevölkerung von über 5.000 Menschen – auf 9 Quadratmeter pro Person. Immer wieder argumentierte der Stadtrat, dass die ‚Christusmörder’ es nicht verdienen würden, in ihrer Republik eine Heimat zu finden, doch der venezianische Pragmatismus siegte: sie waren in ihrer Funktion als Kreditgeber – einer der wenigen Berufe, die sie ausüben durften – essenziel für das Funktionieren des Staates. 1797 wurde das Judenviertel schließlich unter Napoleon geöffnet.

 

Einige Faktoren führten dazu, dass Juden, selbst nach der Etablierung des Ghettos, vermehrt nach Venedig einwanderten. Neben dem Ritualmord beschuldigte man sie in weiten Teilen Europas auch der Brunnenvergiftung und machte sie für den Ausbruch des „schwarzen Todes“ – der Pest – verantwortlich. So kam es zu Zeiten der Pest zu weiteren Verfolgungen – in Erfurt wurden im Frühjahr 1349 zum Beispiel über 3000 Juden in ihren Häusern verbrannt. Im 14. Jahr-hundert ereignete sich eine Massenflucht, vor allem aus dem Heiligen Römischen Reich. Ein weiterer Strom folgte Ende des 15. Jahrhunderts aus dem spanischen Territorium, welches nach einer von Koexistenz ausgezeichneten islamischen Regierung in die Hände der katholischen Spanier fiel. 1478 genehmigte Papst Sixtus IV. eine Inquisition – Verfolgung der ‚Häresie’. Juden und Muslime wurden fortan gezwungen, das Land zu verlassen, oder zu konvertieren. Einige dieser Flüchtlinge siedelten sich in der venezianischen Republik an – ein vergleichsweise toleranter Ort, denn dort herrschte Glaubensfreiheit. Obwohl sie ins Ghetto eingesperrt wurden, erging es ihnen besser, da sie gleichzeitig den Schutz der Regierung vor zivilen antisemitischen Ausschreitungen genossen. Michaela Zanon, die Leiterin des Jüdischen Museums von Venedig, erzählt: „Hier waren früher richtige Holztore. Sie wurden morgens geöffnet, […] und abends […] nach Sonnenuntergang wieder geschlossen. Es gab christliche Wächter, die kontrollierten, dass [nachts] weder Juden heraus-, noch Christen hineingingen. Es sei denn, es handelte sich um jüdische Ärzte, die nachweisen konnten, dass sie zu einem Kranken gerufen waren.“

 

Die Museumsdirektorin findet außerdem passende Worte, die den Kontrast zwischen dem jüdischen Mittelalter und der Aufklärung in Italien aufzeigen: „Die meisten italienischen Synagogen sind nach der Emanzipation gebaut worden: Sie sind sehr imposant, sehr gross, sehr reich. Aber sie haben nicht denselben historischen Wert wie diese hier, die zeigen, wie die Verhältnisse damals waren – sehr versteckt, sehr verschlossen aber sehr wichtig.“

 

Während des 16. Jahrhunderts wurden in Venedig für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen insgesamt fünf Synagogen gegründet, sogenannte ‚Scuolas‘ (wie das jiddische ‚Schul‘). 1528 entstand die große deutsche Synagoge. Vier Jahre später folgte die Kanton Synagoge, die mutmaßlich nach einer Familie benannt wurde. In den folgenden Jahrzenten wurde außerdem die Levantiner Synagoge, die Italienische Synagoge und die Spanische Synagoge gegründet. Von aussen sind die ‚Scuolas‘ nicht zu erkennen, da sie in normale Wohnhäuser eingebaut wurden, doch von innen bezaubert jede einzelne mit prächtigen Ausstattungen. In der Kanton Schul befinden sich beispielsweise in dieser Form einzigartige Wandtafeln, die bekannte biblische Episoden darstellen; und die spanische Synagoge, die grössten von allen, wurde im typisch barocken Stil eingerichtet.

 

 

Vom Misslingen der Assimilation bis zum Zionismus

 

Im Jahre 1743 machte sich ein mittelloser Talmudschüler aus Dessau auf den Weg in die Hauptstadt des ehemaligen Königreiches Preussen. Mutmaßlich barfuß, marschierte er durch das Rosenthaler Tor, welches als einziges für Vieh und Juden zugelassen war, nach Berlin hinein. Damals durften sich nur wenige reiche Juden dort niederlassen; in seltenen Fällen auch ein Gelehrter. Auf die Frage des Torwärters, womit er handle, soll er einer Überlieferung zufolge geantwortet haben: „Vernunft“. (Aus: Amos Elon – Zu einer anderen Zeit. Portät der jüdisch-deutschen Epoche 1743 – 1933)

 

Zwei Jahrzehnte später war Moses Mendelsohn einer der bedeutendsten Philosophen und Literaturkritiker seiner Zeit, und damit der erste Jude, der in der christlich-geprägten Gesellschaft Preußens Anerkennung fand. Sein Leben lang setzte er sich für die soziale Gleichstellung der Juden ein. Sein Ziel war es, durch Werke wie der Übersetzung der Tora, die jüdischen Gemeinden, die damals abgeschottet und als isolierte Randgruppen lebten -meist nicht einmal die deutsche Sprache beherrschten – der modernen, weltlichen Gesellschaft zu öffnen. Unbeabsichtigt wurde er dadurch der Wegbereiter zur jüdischen Assimilation, in der es zum status-quo wurde, den jüdischen Glauben auf reformierte Weise zu praktizieren oder sogar ganz abzulegen. Mendelssohn selbst hielt sich bis zu seinem letzten Tag streng an die biblischen Gesetze. Für ihn war Vernunft dem religiösen Glauben nicht entgegengesetzt, sondern vielmehr ein Geschenk Gottes.

 

80 Jahre nach seinem Tod, in 1866, wurde die Neue Synagoge als Hauptsynagoge und Symbol der aufstrebenden jüdischen Gemeinde Berlins eingeweiht. Damals lebten 28.000 Juden in Berlin allein, das sind fast so viele, wie heute die drei grössten jüdischen Gemeinden Deutschlands (Berlin, München und Frankfurt a. M.) Mitglieder zählen. Die Bauleitung stand unter den zwei renommierten deutschen Architekten Eduard Knoblauch und Friedrich August Stüler, der ‚Architekt des Königs’. Das Außergewöhnliche war die Ansicht von aussen: die normalen, durchschnittlichen Häuserfassaden um die Synagoge herum wurden überkront von drei maurisch gestalteten, aus goldenen Rippennetzen umzogenen Kuppeln. Inspiriert war die Baute von der Stadtburg Alhambra in Südspanien. Diese Gestaltung, fremd für Preußen, demonstrierte das jüdische Selbstbewusstsein während dieser (vergleichsweise) toleranten Epoche: genauso, wie das Gebetshaus nach vorne auf die Straße glänzte, anstatt, wie von früher gewohnt, versteckt und unauffällig gelegen zu sein, zeigten die Juden sich im Vordergrund der Gesellschaft. Die Synagoge in der Oranienburgerstraße fand in der Öffentlichkeit den ebenbürtigen Eindruck. Die Illustrierte Berliner Morgenzeitung schwärmte: „Es ist ein Gebäude, welches mitten in die moderne prosaische Welt die Wunder des Orients uns vor das Auge zaubert, das Bethaus unserer Berliner Mitbürger mosaischer Religion.“

 

Doch ganz so ein Ammenmärchen war es nicht. Theodor Fontane bezeichnete die Synagoge als prachtvoller denn alle christlichen Gotteshäuser der Stadt. Das war wohl eher spottend als zusprechend gemeint, denn privat bekennte er sich zutiefst antisemitisch, und warf den Juden Schuld und grenzenlosen Übermut vor. Nur 5% aller Einwohner entstammten eines jüdischen Hauses, und doch erwarben sie ein Fünftel aller Hochschulabschlüsse. Begriffe wie ‚Judenparasitenökonomie’ und ‚Judenweltherrschaft’ bürgerten sich ein. Kleriker und Akademiker sprachen sich öffentlich gegen die jüdische Verbreitung auf deutschem Boden aus. Gegen diese modernere Form des Antisemitismus sollte auch die ansteigende Zahl an Konvertiten nicht helfen – es schien, je mehr die Juden versuchten, sich anzupassen, desto mehr wurden sie verachtet. Ein niedergeschlagener Aktivist konkludierte: „vergebens gelebt und gearbeitet!“

 

Schon einige Jahre vor der Entstehung der Neuen Synagoge in Berlin wurde die Idee aufgegriffen, ein jüdisches Gebetshaus orientalisch zu verzieren. Die Grosse Synagoge in Budapest wurde 1854-1859 von einem österreichischen Architekten konstruiert. Mit knapp 3.000 Sitzmöglichkeiten besteht sie als grösstes jüdisches Gebetshaus in Europa und zweitgrößtes der Welt (nach dem Tempel Emanu-El in New York). Ebenfalls durch maurische Architektur inspiriert, mag die Konstruktion an die Interpretation des salomonischen Tempel erinnern. Im Inneren imponiert eine bis ins Detail geschmückte Renovierung; von außen ist die Synagoge in der ‚Dohány utca’ (Tabakgasse) als beige-rötlich gestreiftes Bauwerk mit Zwillingstürmen zu bestaunen, welche die Position der damaligen ungarisch-jüdischen Gesellschaft widerspiegelte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Juden von immer mehr Diskriminierungsgesetzen freigesprochen und fanden auch in Ungarn ihren Weg in die Mitte der Gesellschaft. Sie stellten in Bereichen wie der Medizin, Jura, Journalismus und Wirtschaft die Hälfte aller Beschäftigten.

 

Als Antwort auf die rapide Modernisierung wurden zwei konkurrierende Ströme innerhalb der jüdischen Gemeinde Ungarns populär: das neologe sowie das chassidische Judentum. Ersteres ist eine speziell ungarische Emanzipationsbewegung, die von der Ausrichtung zwischen liberal und orthodox steht. Chassidismus sieht eine streng orthodoxe Ideologie vor, die neben der strikten Einhaltung der Gesetze auf spirituelle, mystische Weise das religiöse Erlebnis in den Mittelpunkt stellt. In Ungarn ließen sich zahlreiche Anhänger finden, und so entstand das wichtigste chassidische Zentrum seiner Zeit in Bratislava (damals Teil des Königreiches). Nach einem allgemeinen jüdischen Kongress – 1868 von der Regierung einberufen – wurde beschlossen, die Gemeinden zu spalten.

 

Ein Jahr nach der Fertigstellung der Dohány Synagoge wurde Theodor Herzl 1860 in eine reformjüdische Familie geboren. Sein Vater, Direktor der Hungariabank, pflegte es, ihn als Kind in ebendieses Gebetshaus mitzunehmen, doch seine Mutter erzog ihn grundsätzlich durch die österreichisch-ungarische Kultur. Nach den antisemitischen Erfahrungen, die er in seinen jungen Jahren in Wien und dem ‚noch so aufgeklärten’ Paris machen musste, widmete er sein Werk und Leben der Judenfrage. Sein wichtigstes Buch „Der Judenstaat“ erklärt den Versuch, sich der christlichen Mehrheitsgesellschaft zu öffnen, für gescheitert und plädiert für eine nationale Heimstätte sowie das Selbstbestimmungsrecht der Juden als einzige Lösung. „Nur die sichtbaren Ghettomauern sind gefallen“, stellt der Begründer des politischen Zionismus fest. „Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat, zu bilden. […]“

 

Die Berliner Synagoge wurde im Zuge der Reichspogromnacht ausgeraubt und 1943 wurden die Kuppeln durch Bomben zerstört. In den 90er Jahren wiedererbaut, dient die historische Stätte heute als Stiftung mit Archiven, Sammlungen und kulturellen Veranstaltungen. Die Synagoge in Budapest überlebte den Holocaust, da sie als Grenze zum jüdischen Ghetto fungierte – der damalige Garten ist heute der Friedhof von 2.600 ermordeten Juden. Neben der Synagoge und Gedenkstätte befindet sich dort ein jüdisches Museum, sowie, in unmittelbarer Nähe, das Elternhaus von Theodor Herzl.

 

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