Zwei Stunden in Kaufbeuren

 

Da wollten Sie nie hin? Jetzt sind Sie nun mal da. Ich nehme Sie zwei Stunden lang an die Hand. Sie entdecken: Perlen und Brezen.

 

Drehen Sie den Kopf nicht nach links, wenn Sie den Bahnhof verlassen, nicht dorthin, wo einmal ein Kiosk war und jetzt nur noch eine entkernte Ödnis hinter schmutzigem Glas übrig ist, sondern heben Sie den Kopf leicht nach oben, 45 Grad, und spüren Sie Hoffnung in sich aufkeimen, Entdeckergeist, denn auf dem Schild, das da oben angebracht ist, in diesem hässlichsten und schrecklichsten aller hässlichen und schrecklichen Kleinstadtbahnhöfe, ist ein Pfeil, und neben dem Pfeil, der geradeaus zeigt, als würde er sagen: "Keine Angst, da kommt noch was", steht ein Wort: "City".

 

Und da wollen Sie natürlich hin, in die City, da muss was los sein. Wagen Sie es.

 

In Kaufbeuren kann man gut üben, sich nicht abschrecken zu lassen. Da kommt noch was. Man muss nur vorbei, zum Beispiel am verfallenden, graffitibesprühten und jetzt als Zwischenlager für die Feuerwehr dienenden alten Eisstadion. Schütteln Sie den Gedanken ab, Kaufbeuren sei das Detroit des Allgäus. Gehen Sie stattdessen weiter durch den Jordanpark.

 

Danach wenden Sie sich allerdings keinesfalls nach rechts, sonst treffen Sie auf das Forettle, ein sogenanntes Einkaufszentrum, in Wahrheit ein weißer, an Scheußlichkeit kaum zu überbietender Klotz, der bei einigen Stadtbewohnern solche Aggressionen freisetzt, dass er den Spitznamen "Tourettle" bekommen hat. Gehen Sie nach links, in die Altstadt, und lassen Sie sich vom brandneuen Kopfsteinpflaster blenden, von den schön rosa, gelb oder beige angestrichenen Fassaden der Kaiser-Max-Straße, durch die jeden Sommer des Allgäus ältester Kinder-Mittelalterumzug zieht.

 

Wenn Sie nun feststellen, dass hier alles komplett tot ist, fragen Sie sich vermutlich erstens, ob das nicht vielleicht mit dem sogenannten Einkaufszentrum zu tun haben könnte, und zweitens, warum in Gottes Namen ich Sie hierhergeschickt habe. Aber wie gesagt, nicht abschrecken lassen, Motto "Da kommt noch was", und tatsächlich kommt da – das Kunsthaus. Wagemutig reckt es sich wie eine gläserne Rakete in den Himmel. In dem modernen Bau können Sie nicht nur Kunst bewundern (im Moment Zeichnungen von Otto Dix und George Grosz), sondern auch in der dazugehörigen Kaffeebar Kirschkern die Bohemiens der Stadt. Stören Sie sich nicht daran, dass der Gründungsdirektor, nachdem er gegangen war, ein Buch mit dem Titel Perlen vor die Säue veröffentlichte, was hier einfach mal so stehen bleiben soll.

 

Eine weitere Perle finden Sie, wenn Sie im nahen Stadtmuseum den Raum betreten, der sich "berühmten Söhnen und Töchtern der Stadt" widmet. Da gibt es tatsächlich einige, allein schon bei den Schriftstellern. Nutzen Sie doch die Gelegenheit, Hans Magnus Enzensberger dort zu lesen, wo er sprechen lernte. Auch Ludwig Ganghofer und Sophie von La Roche stehen im Regal, aus dem Sie ein Buch ziehen können, um es sich damit bequem zu machen.

 

Nach so viel Kultur brauchen Sie vielleicht Erholung in der Natur. Verlassen Sie also das Museum, und gehen Sie durch das Klostergässchen bis zum Garten des Crescentiaklosters. Das Gatter auf, die Stufen hoch, den verschlungenen Weg bis ganz nach oben. Dort setzen Sie sich auf eine Bank und genießen den Blick auf die City in ihrer ganzen Allgäuerigkeit, mit Kirchtürmen und roten Schindeldächern und grünen Hügeln.

 

Haben Sie vorhin Enzensberger gelesen? Dann fällt Ihnen vielleicht hier oben ein, was er mal über Kaufbeurens Lage sagte: "Im Voralpenland, im bayerischen Allgäu. In einer Moränenlandschaft, an der Wertach." Voralpenland und Moränenlandschaft, okay, aber wo ist die Wertach? Leider scheint die Stadt Angst vor dem eigenen Fluss zu haben, er wird nicht in Szene gesetzt, sondern geradezu versteckt. Machen Sie sich gar nicht erst auf die Suche, den findet man nicht in zwei Stunden.

 

Falls Sie auf dem Rückweg Hunger bekommen, holen Sie sich eine Breze bei der Bäckerei Dolp. Die lässt Sie alles vergessen, was Sie je über Wesen und Konsistenz einer Breze zu wissen meinten. Zurück im Jordanpark, schauen Sie diesmal nach links und entdecken noch ein Eisstadion – jetzt ist es das neu gebaute, die "Erdgas Schwaben Arena". Aufbruch, Erneuerung!

 

 

 

Neugablonz

 

Der Stadtteil wurde in den 50er-Jahren von Aussiedlern gegründet und sieht fast noch so aus wie damals. Was auch praktische Vorteile hat: Hier findet man Kurzwarenläden und gute Metzger, wie sie in der City selten geworden sind.

 

 

Kulturwerkstatt

 

Kein Kino im alten Theater, sondern umgekehrt. Die Stücke sind für Kinder gedacht, aber so liebevoll inszeniert, dass auch Erwachsene sie anschauen können https://kulturwerkstatt.kaufbeuren.de/

 

Gehen Sie mit diesem Hochgefühl zum Bahnhof, steigen Sie in den Zug nach München, nach Füssen, nach Kempten oder von mir aus sogar nach Buchloe. Sie haben sich nicht unterkriegen lassen und wissen nun: Da kam noch was.

 

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